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Zerplatzende Welten

Justiz und Literaturwissenschaft - Zu Jakob Wassermanns "Fall Maurizius"

von Thomas Neumann


 

1928. Der Sohn des Oberstaatsanwalts Wolf Freiherr von Andergast, Etzel, deckt, begründeten Zweifeln folgend, ein 19 Jahre zurückliegendes Fehlurteil seines Vaters auf. Nach Aktenstudium auf den eigentlichen Verbrecher gestoßen, reist er nach Berlin, überführt den unter anderem Namen lebenden Täter und kehrt zu seinem Vater zurück, Gerechtigkeit für die Opfer einfordernd. Für diesen gerät eine Welt ins Schwanken, als er, verstärkt durch den psychologischen Druck seiner angespannten Beziehung zu seinem Sohn, mit seiner Frau konfrontiert wird, von der er sich nach einem "Fehltritt" getrennt hatte - zwar formaljuristisch im Recht, aber die Beziehung mit eben der Emotionslosigkeit handhabend, wie sie auch in seiner Tätigkeit als Staatanwalt zu Tage getreten ist, macht ihn zum moralischen Verlierer. Der endgültige Zusammenbruch seiner Existenz ist das Bekenntnis seines Sohnes zu seiner ehemaligen Frau - eine in ihren eigenen Regeln erstarrte Welt bricht aufgrund immanenter Unwahrheiten in sich zusammen. Wassermann zeichnet ein Porträt einer Republik im Spannungsfeld alltäglicher Unwägbarkeiten.

Dies ist die Kurzbeschreibung des Inhalts des Romans "Der Fall Maurizius" von Jakob Wassermann (1873-1934), 1928 erschienen. Kann er uns heute noch etwas sagen? Berühren die psychologischen Konstellationen den heutigen Leser? Nun, ob man Wassermann als Literaten schätzt oder ihm kolportageartige Erzählstrukturen seiner Bücher vorwirft, sein "Fall Maurizius" gehört sicherlich zu den interessantesten psychologischen Geflechten in Romanform, die "ihren" Teil zur Gesellschaftsanalyse der Weimarer Republik liefern. Im Spannungsfeld zwischen Kriminalgeschichte und psychologischem Entwicklungsroman wird eine in Schuld verstrickte Figurenkonstellation mit ihren eigenen und den gesellschaftlichen Problemen konfrontiert und ist damit zugleich atmosphärischer Spiegel der gar nicht mehr so neuen Republik.

In der vorliegenden Neuausgabe wird ein zusätzlicher Aspekt der Literaturbetrachtung hervorgehoben. Die juristische Sicht auf die in Literatur kondensierte Wirklichkeit, die vermeintlich das Handlungsgerüst trägt und die die Figuren in einem engen Rahmen von gesellschaftlich-juristischen Konformitäten beobachtet, steht im Zentrum des Romans. Dieser Blick wird in zwei längeren Beiträgen im Anhang des Bandes vorgetragen. Thomas Vormbaum behandelt in dem Aufsatz "Der schwarze Stern der Gerechtigkeit. 'Der Fall Maurizius' aus juristischer Sicht" den rechtsgeschichtlichen Aspekt der wassermannschen Geschichte, Regina Schäfer beschreibt in "'Das Gesicht der Welt […] in seiner knöchernen Wahrheit'. 'Der Fall Maurizius' aus literaturwissenschaftlicher Sicht" die literaturwissenschaftlichen Aspekte in Ergänzung zu den juristischen Gesichtspunkten des Buches. Beide Aufsätze bieten die eine oder andere interessante neue Perspektive auf Wassermanns Roman, die dem Leser nicht ohne weiteres so einleuchten würde.

Die Vorlage für den Text der Edition bot die Ausgabe des "Fall Maurizius" im Verlag Albert Langen und Georg Müller (2002). Die Ausstattung ist ordentlich, vielleicht wurde für eine Leseausgabe ein etwas unhandliches Format gewählt, aber eine solche lag wohl auch nicht in der Intention der Herausgeber, die den Band in die Reihe "Juristische Zeitgeschichte" herausgegeben haben.

In beiden Essays am Ende der Edition hätte man sich weitergehende Andeutungen auf die Arbeiten von Dirk Rodewald gewünscht, der als ausgewiesener Kenner Wassermanns Ende der Neunzigerjahre in einer detaillierten Darstellung, unter Rückgriff auf einschlägige Akten, ein wenig "aufklärerisches" Licht in das Verhältnis von Literaturgeschichte und Kriminalfall Hau, der in Teilen mit dem Inhalt des wassermannschen Romans korrespondiert, gebracht hat.

Aber was es vor allem auf sich hat mit dem Band: Er verleitet zu erneuter Lektüre des bekanntesten Romans von Jakob Wassermann, führt den Leser in die Untiefen der Weimarer Republik, in die menschlichen und in die gesellschaftlichen, und gibt damit Einblicke in eine Gesellschaft frei, die mit ihren psychologischen Problemen nicht weit von den Problemen des 21. Jahrhunderts entfernt ist - und im vorliegenden Fall aus einem für den Literaturwissenschaftler ungewöhnlichen Blickwinkel.

Bemerkungen:

Die hier wieder gegebene Rezension erschien in dem Rezensionsforum literaturkritik.de im Juni 2004 in der Ausgabe Nr. 6 Deutschsprachige Literatur

© Thomas Neumann