Der neue Topf
Hinterlassene Aufzeichnungen des Pudels Jaromir
Ihr, meine lieben Freunde, die ihr dies Hundeleben noch nicht bis zur Neige geleert habt, ihr kennt nicht die Fülle von Schlaflosigkeit, die einem ein nach Speise verlangender Magen bereiten kann. Nicht unbegründet ist daher mein Haß gegen die Kätzin Deuteröna, die mit blinzelnden Augen Tag für Tag in der Sonne saß und sich den Freuden der Verdauung hingab. Ihr alle wißt, welche blinden Zufälle das Leben eines Hundes zu verändern pflegen, so daß er von den Zinnen der Nacht in die Schluchten der Not fallen kann wie ein Apfel vom Baum fällt: aber mein Leben war nichts als ein einziger Hungertag. Ich weiß wohl, deshalb waren meine Tage nicht verdienstlos: ich habe euch eine neue Philosophie gegeben, ich war euch ein Lehrer, ein Prophet, ein Freund, aber ihr habt nichts gethan, einen tiefsinnigen Forscher vor Mangel und Verbitterung zu bewahren. Ich habe euch die Menschen verachten gelehrt, diese seltsamen Geschöpfe, die sich Häuser bauen, die sich bei Nacht in Tücher einhüllen, um schlafen zu können, die sich einander betrügen und belügen, die je glücklicher sind, je mehr sie von gewissen glänzenden Metallstücken besitzen und die, wenn ein Männchen ein Weibchen haben möchte, mit merkwürdigen Satzgebilden und schönrednerischen Phrasen die gute Natürlichkeit dieser Thatsache zu verblümen suchen. Ich kenne dieses Geschlecht genau: nicht umsonst habe ich zwei Jahre lang in dem Mauerloch am Hallerthor gewohnt, wo ich das Treiben von fünf oder sechs Familien zu gleicher Zeit studieren konnte: nicht umsonst bin ich, der seit meinem zweiten Lebensjahr herrenlos war und nur der Wissenschaft gelebt habe, durch die endlosen Gassen der Stadt gewandert und habe unermüdlich gegraben, um die Wurzel aller Dinge aufzudecken. Und besonders dies eine gab mir stets auf neue zu denken: wie die Wesen der Schöpfung in erbarmungslosem Kampf sich mühen und mühen um ein Fleck Erde, um ein bißchen Glück und Wohlbehagen und die Natur siehet zu, still und unbekümmert, läßt ihre Produkte toben und streiten, und die Sonne sieht gleichgültig herab und verfinstert sich nicht, wenn der Krieg Felder und Wälder mit Blut düngt. Ein Haus an der Mauer bildete vorzugsweise den Ggenstand meines Interesses und meines Nachdenkens. Es war ein einstöckiges Gebäude, eine Idylle für sich beinahe. Schneeweiße Vorhänge schmückten die Fenster und zwei zierlich verschnörkelte Erkerchen mahnten an die alten Zeiten und grüßten hinaus über die Mauer, wo zarte Bäume den Graben einfaßten und sich hinunterneigten, um wiederum den Blumen und Gräsern in der Tiefe zuzunicken. Ja, meine Freunde, es war ein gar anmutiges Flecklein Erde, und wer da sorgenlos hätte leben können, hätte auch die Philosophie seiner Schmerzen Andern überlassen. Die Herrscherin dieses Hauses war eine dicke, vornehme Frau, die stets dreinsah, als sei sie Königin über das ganze Land. Und wenn sich die blendenden Gardinen einmal lüfteten, so gewahrte ich lachende Mädchengesichter, gewahrte ich rote Mieder oder gelbe Mieder, die mit Spitzen besetzt, waren und seine schmale Hände, an denen die feurigen Brillanten erstrahlten. Aber erst am Abend schien dies geheimnisvolle Gebäude aufzuwachen: da schallten lustige Stimmen und Gläserklang und Lachen und neckische Zurufe und Gesang und Musik; da sah ich junge Herren und alte Herren hineingehen und sie blieben manchmal länger darin, als es mir nötig schien, um ein Glas Wein zu trinken. Und dann fiel mir auf, daß sie beim Verlassen des Hauses so scheu um sich blickten, als hätten sie eine große Sünde verübt und dürften sich nun vor Menschen nicht mehr sehen lassen. Besonders die älteren Männer gebärdeten sich wie Leute, die sich vor Gespenstern fürchten, und einmal sah ich einen, der sich wie ein Wahnsinniger an den Kopf griff und dann zu weinen anfing, daß sich das Herz in meinem Leibe umdrehte. Das Morgenrot strahlte schon um den großen runden Turm am Thor und bald vergoldeten die Sonnenstrahlen die schwarzen Lettern über der Thüre des seltsamen Häuschens: »Zur süßen Zuflucht“.
Ich fand bald, daß fast alle Männer der kleinen Stadt zur süßen Zuflucht gingen. Was suchten sie dort? Suchten sie Heilung von den Schmerzen, die ihnen der Tag gebracht? Gab es dort ein Mittel, jünger zu werden oder besser zu werden? Erhielt man dort Einsicht in geheime Wissenschaften und Kenntnis von überirdischen Kräften? Ach, meine Freunde, ich habe niemals Klarheit über diesen Punkt erlangt. Nur eine Gewißheit ist es, die ich meiner Beharrlichkeit und meiner Umsicht zu verdanken habe, nämlich die, daß jene dicke und so vornehm aussehende Dame einen überaus häßlichen Charakter besaß. Ihre Gesinnung war so niedrig und verwerflich, daß ein Hund sich kaum Vorstellung davon machen könnte.
Eines Abends, so machte ich diese trübe Entdeckung, saß ich, heiteren Betrachtungen hingegeben, vor meiner Wohnung und blinzelte lächelnd vor innerem Behagen in die Glut der untergehenden Sonne. Ich hatte mich seit langer Zeit wieder einmal ordentlich satt gegessen, denn es war mir gelungen, einem Fleischerknaben zwei Würste zu entwenden, die sowohl saftig als auch dick und nahrhaft waren. Mir war an jenem Abend so innig wohl zu Mut, daß ich sogar das Treiben der Menschen mit freundlichen Blicken zu prüfen begann. Damals war es, wo die letzte teilnehmende Empfindung für dieses mißratene Geschlecht in meiner Seele aufflackerte. Die Bäume ringsumher schienen eine rosige Glut auszuatmen, die Zinnen der Mauer waren wie vergoldet und auf den Gesichtern der spielenden Kinder lag eine fremde Freude, ein Frohsinn, der gleichsam Erlösung suchte in wildem Geschrei und Gebalge. Dann kam die Nacht. Es war eine dumpfe und schwere Nacht, wie ich noch selten eine erlebt habe. Gegen elf Uhr öffnete sich die Thür der süßen Zuflucht und ein junges Mädchen trat heraus, Schon vorher hatte sie einem jungen Mann, der außen auf sie wartete, etwas zugerufen, aber ich hatte dem keine Beachtung geschenkt, denn mein Sinn war weit weg von irdischen Dingen. Bald aber fiel mir das verstörte Aussehen des Mädchens auf. Als sie in den schwachen Mondenschein heraustrat, sah ich, daß sie noch halb ein Kind war. Und nun warf sie sich dem jungen Menschen an den Hals und begann zu weinen, daß mir die Nacht noch einmal so still erschien. Der junge Mann führte die Trostlose auf den Rasen an der Mauer und dort ließen sich beide nieder. Und nun fing das Mädchen an zu erzählen und wohlgeborgen, wie ich war, hörte ich mit gespitzten Ohren zu. Ich habe nie ähnliches gehört. Ich habe niemals geglaubt, daß sich eine solche Summe von Qualen auf einen einzigen Menschen häufen könnte. Ist es möglich, daß in einem dieser Geschöpfe, die die Erde bevölkern, solch eine Fülle von Niedrigkeit wohnen kann, wie in jener Beherrscherin der süßen Zuflucht? Denn auch von Menschen könnte man ja schließlich erwarten, daß sie gut gegen einander seien und ein wenig barmherzig.
Der junge Mann, offenbar ein Handwerker und ein ganz armer Mann, ballte die Faust und stieß schreckliche Verwünschungen gegen die süße Zuflucht aus. Er zitterte am ganzen Körper und suchte dann die Arme an seiner Seite zu trösten. Niemand kam während dieser ganzen Zeit vorbei und das Licht des Mondes wurde immer reiner und die Schatten auf allen Seiten und an allen Ecken wurden klarer und schärfer. Flüchtig schwammen die Wolken hin am hohen Himmel und einsame Schatten von ganz rätselhafter Herkunft lagen schwer auf den Dächern.
Immer noch weinte das junge Mädchen. Und dann entfernte sie sich mit ihrem Gefährten, den sie erst seit kurzem zu kennen und der sie nun aus jenem Hause befreit zu haben schien. Was mich betrifft, so fühlte ich den unwiderstehlichen Drang in mir, ihnen zu folgen, denn meine Sympathie wie mein Wissenseifer waren gleicherweise für sie erwacht. Ich bellte freudig und war sehr treuherzig, und sie sahen mich und streichelten mich freundlich.
Viele Tage vergingen, und ich blieb bei dem jungen Mädchen. Wir schlossen Freundschaft miteinander und so ärmlich es auch herging, bisweilen sprang doch ein fetter Bissen für mich ab. Anna Dorn, so hieß meine Herrin, wußte meine Klugheit wohl zu schätzen: und in allen wichtigen Schritten fragte sie mich um meinen Rat. Sie beschränkte mich nicht in meiner Freiheit, und so konnte ich meine Kenntnis von dem Leben der Menschen aufs förderlichste vermehren. In allen Gassen habe ich geschaut, in alle Seelen habe ich einen tiefen Blick gethan. Ich habe die Überzeugung gewonnen, daß Heuchelei und Habgier die Elemente sind, von denen die Städte und die Staaten aufgebaut und erhalten werden. Sie sind ein elendes, ein schwächliches Geschlecht, diese Zweifüßler. Hunger und Krankheit und, wie sie es nennen, die Liebe richten sie zu Grund, und nichts ist ihnen herrlicher, als im Spiel um goldene Plättchen und papierene Fetzen ihr Leben zu vertändeln, sei es um den Preis der Selbstverachtung.
Einst irrte ich ziellos auf den Gassen umher, als es heftig zu regnen begann. Es war gerade die Zeit der Messe und viele Leute waren unterwegs. Ich mochte eine sehr traurige Rolle spielen, wie ich so mit triefendem Fell einherkam; ein alter Herr erbarmte sich meiner und hatte nichts dagegen, daß ich hinter ihm den Omnibus bestieg und mich dankbar knurrend und bescheiden zu seinen Füßen niederkauerte. Schwarze Regenwolken hatten sich eilig dem Zenith genähert und verfinsterten die Erde. Es war ein warmer Maitag und Menschen und Dinge schienen in einen dicken Nebel von Verstimmung gehüllt.
Folgende Personen saßen im Innern des Wagens: ein junger Offizier mit überaus blödem Gesichtsausdruck; eine Schwester von den englischen Fräulein mit blauem Nonnenhabit und blendend weißem Kopftuch unter der Kapuze; neben sich hatte sie zwei Mädchen von fünfzehn und siebzehn Jahren, die ihre Zöglinge sein mußten, denn sie blickten die Schwester furchtsam und förmlich erwartungsvoll an, die mit entsagenden Mienen in den schwülen Frühlingstag hinaussah. Dann kam eine alte Dame, die sich beständig schnäuzen mußte und die ein Gesicht machte, als sei sie im Begriff, den Umsitzenden fromme Ermahnungen zu geben. Neben ihr in der Ecke saß mein glatzköpfiger alter Herr, den Hut auf den Knieen; er bewegte die Lippen in unaufhörlichem Gemurmel und war vielleicht Kirchenrat oder ein Beamter im Schuldienst.
Auf der gegenüberliegenden Bank befanden sich nur fünf Passagiere: eine junge sehr schöne und sehr elegante Dame, ein Gymnasiast, der seine schwarze Ledermappe so krampfhaft unter dem Arm festhielt, als fürchtete er, sie könne ihm entrissen werden; er schielte fortwährend zu seiner schönen Nachbarin hinüber, hielt die Nase in die Luft und atmete den Duft ihrer Nähe mit der schülerhaften Begehrlichkeit seines Alters ein. Neben ihm lehnte mit müden Blicken ein sehr vornehm gekleideter Herr in mittleren Jahren; er starrte gelangweilt und mit gezierter Lässigkeit auf den Plafond des Wagens, wo er seine Augen von Plakat zu Plakat gleiten ließ. Zu seiner Rechten befand sich ein pfiffig aussehender Junge und als letzter ein Arbeiter in Leinenbluse, der zu schlafen schien.
All diese Leute sahen aus, als kümmerten sie sich nicht umeinander, während doch die meisten mit innigem Interesse die Reisegefährten studierten, mit denen sie vielleicht nie im Leben wieder in Berührung kamen und die nun für die Dauer einer halben Stunde vor ihnen saßen, gleichwie verschlossene Bücher, voll von Geheimnissen, erfüllt von den Widerwärtigkeiten ihres Lebens, erfüllt von den Hoffnungen des Lebens, gequält von Angst oder von Not oder von Langeweile, fanatisch einem Irrglauben anhängend oder vertrauenslos ein blindes Schicksal fürchtend. So waren sie, die ein cynischer Zufall so blind zusammengewürfelt hatte, heuchelten Interessen, die sie nicht besaßen, spielten die Komödie ihres Daseins auch im Omnibus weiter, und die einen sahen golden und rosig die Zukunft heraufblühen, während die anderen schwermütig und verbittert einer süßen Vergangenheit ihre Erinnerung weihten.
Da hielt der Wagen und zu meiner Überraschung betrat Anna Dorn, meine junge Herrin, den Raum. Der Schaffner wies ihr den letzten freien Platz an und sie setzte sich zwischen den müden Mann und den Gymnasiasten. Ich versteckte mich vor ihr, ich weiß nicht weshalb. Doch ich will offen sein: ich schämte mich ein wenig ihrer ärmlichen Erscheinung, ihrer schlechten und geflickten Kleider.
Kaum jedoch hatte sie Platz genommen, als eine seltsame Bewegung durch den Raum ging. Alle sahen auf einen einzigen Punkt: auf einen Gegenstand, den Anna Dorn in ihrer Rechten gehalten hatte und den sie nun auf ihren Schoß niederstellte, da kein Platz war, um ihn neben sich verbergen zu können. Meine Freunde, wüßtet ihr, was es für ein Gegenstand war, ihr würdet vielleicht die Existenz eines solchen Dinges für höchst merkwürdig halten und darüber die Köpfe schütteln, sofern ihr nicht etwa Schoßhunde seid, die bei Nacht auf der Herrin Bett schlafen; aber man muß gestehen, wenn ein solcher Gegenstand einmal vorhanden ist, so ist er da und man nimmt es hin, es ist eben eine tote Sache, philosophisch genommen: ein Objekt zur Befriedigung des Luxusbedürfnisses. Offenbar hatte Anna Dorn das Geschirr (denn ein Geschirr war es) eben erst auf dem Jahrmarkt

gekauft: es befand sich noch zum größten Teil in seiner Strohverpackung. Meine Herrin schien nicht zu ahnen, welch eine außerordentliche Wirkung ihr Erscheinen hervorbrachte. Sie sah nicht die Blicke, die auf das unschuldige Gefäß gerichtet und die von Verlegenheit, Angst, Empörung und Scham erfüllt waren. Der Lieutenant in der Ecke lächelte etwas unsicher und sah auf die Spitzen seiner Stiefel herab, als ob dort eine auffallende und höchst wissenswerte Veränderung vor sich ginge. Die englische Schwester zog die Brauen zusammen und eine tiefe Falte zeigte sich über ihrer Nase. Ihre beiden Zöglinge wurden rot wie Kirschen und rückten näher aneinander heran; es sah aus, als ob sie sich zu verstecken wünschten. Die alte Dame richtete sich straff empor, blickte erstaunt auf das anstößige Gefäß und sie öffnete den Mund zu einem Schrei, den ihre Kehle ihr versagte. Mein Kirchenrat hörte plötzlich auf zu murmeln: er zog die Mundwinkel so nahe zusammen, daß sein Mund nur ein winziges Löchlein bildete, und schüttelte sehr langsam und gestrenge den Kopf. Der Arbeiter, der bis jetzt geschlummert hatte, grinste breit und wohlgefällig und vermehrte dadurch jedenfalls den Zorn der alten Dame und die Unzufriedenheit meines Protektors, der etwas von verrotteten Zuständen brummte. Das freche Bürschlein daneben ließ sich in seiner unparteiischen Prüfung der Dinge nicht hindern; es steckte mit Kennermiene seine Nase in das Innere des neuen Geschirrs, beklopfte es sogar mit dem Knöchel des Zeigefingers von außen und machte Anna Dorn auf einen Sprung im Porzellan aufmerksam. Der elegante, müde Herr legte ostentativ die Beine übereinander, und kniff verächtlich die Lippen zusammen, als wolle er sagen: mit diesen niederen Klassen ist es eben unverbesserlich, man kann ihnen nicht die einfachsten Prinzipien der Bildung begreiflich machen. Der Gymnasiast blickte von einem zum anderen, räusperte sich beständig, scharrte mit den Füßen, knipste mit den Fingern, strich sich durch den Haarwald, machte ein nachdenkliches, ja sogar ein tiefsinniges Gesicht und schien endlich dadurch mit sich ins reine zu kommen, daß er die Augen schloß und den Kopf träumerisch an die Glasscheibe legte. Was endlich die junge Dame anbetrifft, so errötete auch sie; doch war es nur der Zorn, der ihr das Blut in die Wangen trieb. Sie fand es niedrig und gemein, daß man über ein solch unbedeutendes Ereignis den Mund verzog oder die Nase rümpfte oder schamhaft dreinsah. All das war ihr sicherlich in hohem Grade peinlich, aber sie vermochte nicht, darüber hinwegzusehen und das Benehmen der anderen schüchterte sie ein, machte sie gleichsam verzagt und nahm ihr all ihre Unbefangenheit. Dies alles hätte zweifellos erregungslos und in Frieden geendet, wenn nicht ein Ereignis eingetreten wäre, das die Situation peinlicher, ja unerträglich gemacht hätte und den meisten der Anwesenden wie eine Katastrophe erschien. Der Wagen hielt und eine sehr dicke, vornehm gekleidete Dame stieg keuchend ein: es war die Oberin der süßen Zuflucht. Der Ausdruck von Verworfenheit und Niedrigkeit, den ich sonst stets auf ihrem Gesicht bemerkt hatte, schien durch eine dicke Schicht von Schminke verhüllt, vertüncht. Ich empfand einen solchen Haß in meiner Seele gegen sie, daß ich unwillkürlich knurren mußte. Sie machte ein zorniges Gesicht, weil man ihr nicht sogleich Platz anbot, und als sie endlich saß, fächelte sie sich mit dem Taschentuch Luft zu. Kaum hatte sie der Lieutenant gesehen, als er leichenblaß wurde. Der müde Herr versteckte sein Kinn rasch in dem Ausschnitt seines Rockes. Die süße Zuflucht sah sich gebieterisch um, zog finster die Brauen zusammen und gewahrte plötzlich durch eine Biegung des Kopfes Anna Dorn, die an allen Gliedern zitternd und mit zusammengepreßten Lippen dasaß. Auf ihren Knieen zitterte das neue Geschirr. Die süße Zuflucht zuckte zusammen, als fühle sie einen körperlichen Schmerz. Ihr Gesicht, das alle Spuren menschlicher Grausamkeiten und Ausschweifungen trug, verzerrte sich plötzlich in Abscheu und Zorn. Sie stieß einen unterdrückten Ruf des Erstaunens aus und wandte sich dann mit dem ganzen Körper dem Mädchen zu, wobei sie den Gymnasiasten, der in Schweiß gebadet und mit niedergeschlagenen Augen neben ihr saß, heftig in die Seite stieß. Sie nahm ihre Lorgnette, fixierte den Topf, und ihre Wangen wurden braunrot. Ist es möglich, daß so etwas in einem civilisierten Staat sich ereignet? Rief sie aus und nahm eine stolze, ja eine fast verzückte Haltung an. Sie sonnte sich offenbar in dem Gefühl des Ekels vor solch einer unerhörten Thatsache, d. h. Sie schien glücklich zu sein, daß sie öffentlich gegen eine derartige Verletzung des Anstandsgefühls zu protestieren Gelegenheit habe. Der Kirchenrat ließ ein befriedigtes Grunzen hören, der Lieutenant war nahe daran, seinen Schnurrbart zu zerbeißen, der Knirps jedoch schien von unsäglicher Neugierde erfüllt, was kommen würde. Nein, dies ist unerhört, fuhr die süße Zuflucht fort. Fürchtet man denn nicht, diese zarten jungen Mädchen, sie deutete auf die zwei niedlichen Mädchen, die ihr gegenüber saßen, mit solcher Fäulnis zu vergiften? Ist denn unter diesen Proletariern jedes Keuschheitsgefühl erstickt? Hat man denn hier vergessen, was man der Ehre seiner Mitbürger schuldig ist? Was fällt der Dirne eigentlich ein? Ein allgemeines Kopfnicken entstand und, jedenfalls ermutigt durch diese Zeichen des Beifalls und der Zustimmung, packte die süße Zuflucht das arme junge Mädchen so heftig am Handgelenk, daß es laut aufschrie vor Schmerz und den neuen Topf zur Erde fallen ließ, wo er in viele Scherben zersprang. Der müde Herr stieß die Stücke finster mit der Spitze seines Stiefels zur Seite, als seien sie etwas, das zu schmutzig war, um es ansehen zu können und wie um zu beweisen, daß er mit der empörten Dame in seinem Herzen völlig einverstanden sei. Ich aber konnte mich nicht länger halten. Ich sprang hervor aus meinem Versteck, stürzte auf die süße Zuflucht los und fing an zu bellen, - ach meine lieben Freunde, so habe ich noch nie gebellt in meinem Leben. Das verletzte Gerechtigkeitsgefühl der ganzen Hundewelt lag in meiner Stimme, und auch aus eurem Herzen, aus dem Herzen der Nachwelt, habe ich gesprochen. Aber man hat mich mit den Füßen gestoßen und ich zog mir an diesem bittern Tage eine schmerzliche Wunde an meinem linken Vorderfuße zu. O meine Freunde, warum ist es das Schicksal der Gerechtigkeit auf dieser Erde, daß sie sich mit Fußtritten traktieren lassen muß? Ich weiß nicht mehr, wie ich auf die Straße gekommen bin. An der Kirche am Markt hörte ich die Stimme der dicken Dame hinter mir; sie ging einen Augenblick an der Seite des müden, eleganten Herren und ich hörte sie mit affektiert schmeichlerischer Stimme fragen: Nun Sie eitler Prinz, Sie kommen doch heute Abend ein wenig zu uns? Ach meine lieben Freunde, wie weh war mir's ums Herz. Ich fühlte den Riß, der durch das ganze Universum geht und auch durch meine Seele. Und dazu blutete meine Pfote und färbte das verregnete Pflaster rot.
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Die angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe vom 15.8.1896, Simplicissimus, 1. Jahrgang Heft Nr. 20, Seite 2-3
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