Frau Ansorge
Erstes Kapitel
Zwischen Podolin und Lomnitz, wo sich die Ebene
aus einer flachen Mulde zu einem unscheinbaren
Hügelchen erhebt, lag der Ansorge-Hof. Das Wohngebäude
lehnte mit der Rückseite gegen die wilden
Hecken, die den weitläufigen parkartigen Garten begrenzten.
Das Haus, mit den weißgekalkten Mauern
tief in die Erde gebohrt, erschien durch eine zum Tor
führende Steintreppe und durch die zopfigen Verzierungen
um die Fenstervierecke als ein Mittelding
zwischen Bauern- und Herrenhaus. Das überhängende
Ziegeldach leuchtete wie eine mächtige
Kapuze brennend rot über die Landschaft. Vom
Dorf war nur der Kirchturm zu sehen, denn unvermutet,
durch eine Laune der Natur, erhebt sich bei
Podolin ein schroffer Erdhügel, der den träg einherziehenden
Fluß zwingt, ihm in weitem Knie auszuweichen.
Podolin selbst liegt auf der sanfter abfallenden
Seite des Hügels, ist aber gegen Süden
bis hart an den Fluß herangebaut, so daß die Hauptstraße
des Dorfs nahezu die Gestalt eines S hat.
Ringsumher dehnt sich wellig-ebenes Land, das nicht
allzu reichlich mit Baum und Busch bedeckt erscheint.
Zwischen dem Dorf und dem Ansorge-Hof breitete
sich ein häuserloser, öder Erdstrich. Nur ein großer
Zimmerplatz lag am Flußufer und von ihm strömte
Sommer und Winter der Geruch frisch behauener
Baumstämme aus.
Die meisten Leute in der Gegend erinnerten sich
genau des Tages, an welchem Frau Ansorge in einer
altertümlichen vierschrötigen Kutsche von der Ostrauer
Straße her ins Dorf eingefahren war, begleitet von
ihrer Dienerin Ursula, die den fünfjährigen Arnold
auf den Knien hielt. Der damalige Bürgermeister
hatte die Frau hinüber geführt auf den Hof, der seit
mehr als hundert Jahren einem ehemals reichen und
nun zu grunde gegangenen Bauerngeschlecht gehört
hatte. Bald begann eine ruhige, doch unablässige
Geschäftigkeit das Aussehen des verwahrlosten Gutes
zu verändern. Stall und Scheune wurden in Stand
gesetzt, Zäune aufgerichtet, der versandete Brunnen
wurde tiefer gegraben, der Viehstand verbessert, neue
Möbel, neue Pflüge, neues Gesinde beschafft und
das Wohnhaus erhielt ein neues Dach.
Drei Monate früher hatten Frau Ansorges Wünsche
noch andern Lebenszielen gegolten, als in der mährischen
Einsamkeit Ruhe vor der Welt zu suchen. Sie
hatte die Vergnügungen der Geselligkeit und alle jene
Freuden geliebt, welche ihr der Reichtum ihres Mannes
verschaffen konnte. Alfred Ansorge war einer der
großen Kohlenwerksbesitzer des Ostrauer Reviers gewesen.
Allerdings hatten ihn seine Geschäfte gezwungen,
einen großen Teil des Jahres in der traurigen,
rußigen Stadt zuzubringen, aber desto schöner
war dann der Gegensatz zu der in Wien, im Gebirge
oder auf Reisen verbrachten Zeit. Von einer solchen
Reise kehrte die Familie, Mann, Frau und Kind,
anfangs Dezember nach Ostrau zurück. Die Winternacht,
der sie entgegenfuhren, besiegelte das Schicksal
der drei Menschen. Eine Viertelstunde vor dem Ziel
lief der Eisenbahnzug auf ein falsches Geleise und
prallte in vollem Rasen gegen einen aus Schlesien
kommenden Personenzug. Dieselben zusammenprasselnden
Wagenteile, die dem entsetzt auffahrenden
Mann den Kopf zermalmten, waren der Frau
zum Schutz geworden und hatten sie und den Knaben
umgeben wie die Bretter eines Sarges. Als man
sie befreien konnte, lag das Kind unversehrt zwischen
ihren zu einem Bett erweiterten Schenkeln. Nur
ihre Augen zeigten, was in ihr vorgegangen war,
als sie in dem Verließ gelegen, das Brausen des
Windes im Ohr, der Rettung ungewiß, ungewiß auch
was mit dem Knaben sei. Vierzehn Tage lang vermochte
sie nicht zu gehen, zu reden und zu hören.
Ihre Seele schien erfroren, schien nichts mehr aufzubewahren
als die furchtbaren Laute dieser Stunde,
die am Rande des Lebens und am Anfang des Todes
lag. Doch wie das Wasser unter der Eisdecke des
Stromes fließt, trieb ihr dunkler Wille einer neuen
Form des Lebens zu.
Der Anwalt Borromeo aus Wien, ein Bruder
Frau Ansorges, ordnete die Hinterlassenschaft des
Mannes, wohnte dem Begräbnis bei und nahm den
Knaben in seine Obhut. Bald wurde Frau Ansorge
innerlich und äußerlich ruhig; sie vermochte sich mit
den laufenden Geschäften zu befassen und bekundete
sogar eine eindringlichere Teilnahme als der geschäftsgewohnte
Bruder. Sie sorgte für die beste Verzinsung
des Kapitals, nachdem alle liegenden Gründe
veräußert waren, und kaufte, ohne ihren Vorteil zu
übersehen, das Gut bei Podolin, dessen Weltentlegenheit
ihre Wahl sehr beeinflußt hatte.
Ihr Fuß wurde vorsichtig im Schreiten wie der
eines Blinden. Sie tat keinen unnotwendigen Schritt
und vermied jede überflüssige Bewegung. Sie haßte
alles Fahrige, Eilige, alles Springen, Laufen und
Tänzeln. Was auf Rädern lief und nur entfernt
einer Maschine ähnlich sah, erregte ihren Abscheu. Im
Hause durften keine Wanduhren ticken, vor den Fenstern
mußten Büsche gepflanzt werden, denn sonderbarerweise
konnte sie weder den Anblick der Horizontlinie,
noch den der langhinlaufenden Straße ertragen.
Spiegel und Bilder liebte sie nicht; nichts was an
der Wand oder an der Decke hing. Ihr Bett lag flach
und knapp über den Dielen.
In solchem Kreis des Ruhens wuchs Arnold empor.
Auf dem Grunde eines schwarzen Unheils malte
sich wie etwas Rosiges sein junges Leben. Die beharrende
Furcht der Mutter war eine Schranke um
ihn, aber eine unsichtbare. Nicht etwas Nennbares
und Wechselndes, sondern ehern und unablässig als
Naturkraft wirkend, bildete sie die Quelle seiner Gewohnheiten;
sein Herz blieb rein von Unfrieden, auch
hatte er nichts von der Zuchtlosigkeit, die durch regellose
und eifersüchtige Geselligkeit entsteht.
Er zeigte als Kind oft ein verstocktes, ja grämliches
und mürrisches Wesen. Mit zusammengezogenen
Brauen und seltsam gespreizten Schrittchen stapfte
er herum wie ein kleiner Bär. Dies reizte natürlich
die Leute auf dem Hof zum Lachen; besonders Ursula
äffte Arnolds Gebaren nicht ohne Bosheit nach. Das
empörte den Knaben zu unbändigem Zorn; denn
für die Neckereien der Erwachsenen besaß er damals
und auch später nicht das geringste Verständnis; sie
erschienen ihm als ein durchaus unrechtmäßiger Eingriff
in seine persönliche Freiheit. Mit schiefem Blick
und zwischen die Schultern eingezogenem Kopf stand
er bei solchen Gelegenheiten da, und wenn der feindliche
Spott kein Ende nehmen wollte, zog er die
Lippen auseinander, jappte jähzornig, machte zwei
Fäuste, die er gleich Puffern links und rechts an der
Brust hielt, sprang auf den Plagegeist los und biß
und schlug. Doch solche Zornwütigkeit zeigte sich mit
den Jahren immer seltener, und statt ihrer stellte sich
eine verächtliche Blick- und Wortsparsamkeit ein, die
dem Bewußtsein der Körperkraft entsprang und gar
possierlich wirkte.
Die Verlorenheit des Aufenthaltes entzog Arnold
jedem Bildungszwang. Durch die weitgehenden Verbindungen
Friedrich Borromeos bildete die Militärpflicht
Jahre voraus keine Sorge mehr für Frau Ansorge.
Sie selbst lehrte ihn lesen und schreiben. Um
ihn auch weiterhin unterrichten zu können, studierte
sie Tag und Nacht mit wahrer Wut und so wurde
sie seine Lehrerin in Sprachen, Geschichte, Geographie
und den niederen Fächern der Mathematik. Ihn im
Dunkel der Unwissenheit zu lassen, darin sah sie keine
Sicherheit. In seinem fünfzehnten Jahr besaß er die
Durchschnittsbildung der jungen Leute seines Alters.
Er hatte keinen Ehrgeiz in geistigen Dingen und fand
Vergnügen an körperlicher Arbeit. Die Mutter
wünschte ihn mittelmäßig und so am meisten geschützt
gegen die Stürme des Schicksals. Der Anschein befriedigte
sie.
In der drängendsten Zeit der aufwachenden Mannbarkeit
verriet sich an ihm eine unruhige Überschwänglichkeit
und Phantasterei, die seiner Natur im Innersten
fremd war. Da kam es vor, daß er während einer
ganzen Sommernacht sich in den Wäldern herumtrieb,
nach den Sternen starrte, in die Erde hinein
horchte und mit eigentümlicher Angst den Aufgang
der Sonne erwartete. Ein andermal entfernte er sich
in der Früh und kam erst am zweiten Tag zurück.
Vierzehn Stunden war er gegangen, um zu erfahren,
was hinter dem Wald, hinter den Hügeln der Ferne
lag, und traurig hatte er den Heimweg angetreten,
als immer wieder dieselben Äcker und Wiesen, dieselben
unansehnlichen Häuschen an derselben Straße
erschienen waren.
Bald verging das aufgeregte Wesen wieder und
kehrte sich fast in sein Gegenteil, so daß Arnold den
Eindruck eines mürrischen und phlegmatischen Burschen
machte. Ohne sichtbare Freude der Wahrnehmung,
ja sogar ohne Frohsinn, ließ er Sommer
und Winter und wieder Sommer und Winter
vorbeiziehen, denn dieser Wechsel und nicht die Ereignisse
der Welt war für ihn das bedeutendste Schauspiel
auf dem Zifferblatt der Zeit, das er mit trockener
Selbstgenügsamkeit verfolgte. Er war träg und
schwieg gern aus Trägheit, auch gegen die Mutter.
Es bestand zwischen ihnen kein gefühlvolles Streben
nach Annäherung, auch keine geheimnisvolle Abgeschlossenheit.
Jeder schien in einem eigenen Land,
nach eigenen Gesetzen zu leben. Die Einfachheit der
Tage und der Beschäftigungen bestimmte den Charakter
ihres Verhältnisses. Arnold war nie trotzig
oder aufgeblasen gegen die Mutter, aber sie war für
ihn mehr eine ältere Genossin als eine Achtungsperson.
Später zeigte er in den kurzen Gesprächen mit ihr
gern eine spöttische Aufmerksamkeit, die ihm nicht
übel zu Gesichte stand und die Frau Ansorge vielleicht
nur darum ein wenig ängstigte, weil sie etwas
an sich hatte, was wie ein Zeichen geistiger Überlegenheit
aussah. Aber die Sache war einfach die,
daß Arnold nicht mehr ausschließlich die Mutter, sondern
auch die Frau in ihr erblickte, die er, in komischem
Männlichkeitswahn, sich untergeordnet glaubte.
Die Beziehung zwischen den Geschlechtern war nie
ein schwüles Mysterium für ihn gewesen. Seine früh
erwachte Sinnlichkeit, abgelenkt durch körperliche
Arbeit, hatte keinen Anlaß zu dunklen Träumereien
gefunden. Als er mit sieben Jahren zum erstenmal
das Belegen einer Stute mit ansah, da begriff er
das gewaltige Weben, welches scheinbar aus dem
Nichts eine neue Kreatur erschafft. Obwohl sich sein
Blick langsam für dergleichen Schauspiele abstumpfte,
so vergaß er doch niemals den herrlichen Anblick des
sich bäumenden Hengstes, sein schaumtriefendes Maul,
die geblähten Nüstern, die feurig lohenden Augen,
die schweißbedeckte dampfende Haut.
Nun war er zwanzig; es ging auf den Sommer
zu und ein wunderliches Drängen und Wühlen
meldete sich bisweilen in seinem Innern. Oft war
es, als ob das Herz aufgeschwellt wäre durch einen
schrecklichen Überschwang zielloser Kräfte, die des
Nachts, in einem Traum etwa, den eigenen Körper,
in dem sie wohnten, zu erschüttern und zu verwunden
trachteten.
Da heiratete die Kleinmagd auf einen fremden
Bauernhof fort, und die neuankommende war in
ihrer Art eine Schönheit, braun wie eine Kastanie,
frisch und voll Rasse. Sie war aus dem Polnischen
und hieß Salscha. Als Arnold sie gewahrte – sie
stand am Brunnentrog und wusch, ihre Bewegungen
hatten etwas Rauhes und Herausforderndes – da
besann er sich lange, schaute gegen das sonnebeschienene
Gelände und blinzelte mit den Augen. Aber
er konnte nicht helfen, es zog ihn hin. Er machte
nicht viel Umstände; als er vor Salscha stand, fragte
er einfach, ob sie ihn haben wolle, und zwar hatte
er dabei einen strengen Ton und sah finster aus,
als fordere er etwas, das ihm seit langem gehörte
und unrechtmäßig vorenthalten war. Die Magd
lachte und ließ ihn stehen. Aber zwölf Stunden
darauf war sie die seine. Ohne zu schleichen, ohne
Belauern und Überlisten, das war seine Sache nicht,
nahm sie Arnold und war bei ihr nachts in der Kammer
oder mittags im Heu, wenn alles auf dem Hof
unter der senkrechten Sonne schlief. Kurze Zeit
glaubte Salscha guter Hoffnung zu sein, doch damit
war es nichts. Und als die Glut des Sommers abnahm,
verschwand plötzlich Arnolds hastiges Liebesfeuer
und Salscha war ihm nichts mehr denn ein
leeres Gefäß, dessen Inhalt er hatte trinken müssen,
um den eigenen Körper vor Verderben zu bewahren.
Sein Herz wurde wieder ruhig.
Zweites Kapitel
Das Laub zeigte schon alle herbstlichen Farben.
Gelb, violett, purpurn und zinnoberrot wogte
es in der abendlichen Luft. Ferne Waldstände
glichen einem Girlandenbehang in der tiefen Sonne,
der Arnold langsam entgegenging. Aus der Ebene
ertönte bäuerlicher Gesang, vom leise sausenden
Oktoberwind bald verweht, bald überdeutlich gemacht.
An einem Tümpel in den Wiesen stand
Maxim Specht, der Podoliner Lehrer, und plätscherte
mit einem Baumzweig im Wasser. Bisweilen blickte
er gegen den Ansorge-Hof, als ob er von dort jemand
erwarte. Er war erst seit zwei Monaten in Podolin;
Arnold hatte noch nicht mit ihm gesprochen.
An der Zauntüre des Hofes angelangt, lehnte sich
Arnold lässig an den Pfosten und betrachtete die ruhig
vorbeitrippelnden Hühner, die sich langsam nach ihrer
Schlafstätte in der Scheune aufmachten und bisweilen
leise gackerten, als ob sie einander gute Nacht
wünschten. Draußen schob sich Maxim Spechts Gestalt
schwarz und scharf zwischen die Ebene und den
flammenden Himmel.
Kleiderrauschen veranlaßte Arnold, sich umzudrehen.
Zu seinem Erstaunen bemerkte er zwei Frauen, die
aus dem Tor tretend, an ihm vorübergingen. Die
eine der beiden, ein junges Mädchen, lächelte verlegen
und verschmitzt mit halbabgewandtem Gesicht.
Während er ihnen nachschaute, kam der Lehrer voll
Eile den beiden Frauen entgegen und schlug mit ihnen
die Richtung nach dem Dorf ein.
Als Arnold in die Stube trat, fragte er, wer dagewesen
sei. Frau Ansorge wandte ihm langsam
das Gesicht zu, das so viele Falten zeigte wie ein
Baumblatt Adern. »Sie machen Besuche,« erwiderte
sie vorsichtig, »Nachbarsvisite; sie glauben, das muß
so sein. Sie haben das Haus des verstorbenen Michael
Becker geerbt und sind nach Podolin übersiedelt. Hanka
heißen sie.«
Ursula brachte das Abendessen, und Arnold setzte
sich hungrig zu Tisch. Seine Wißbegierde war befriedigt.
Er bemerkte nicht, daß die Mutter durch
die neuen Ansiedler nachdenklich geworden war, denn
ein neuer Mensch war ihr eine neue Gefahr. Der
Pfarrer, der Doktor, die Post- und Gerichtsbeamten
waren außer den Bauern die einzigen, die man hier
zu Gesicht bekam.
Kaum war die Lampe angezündet, als es an die
Tür klopfte und Maxim Specht eintrat. »Ich bitte
vielmals um Entschuldigung,« sagte er gewandt und
liebenswürdig, »das Fräulein hat einen Schal hier
vergessen.« Er lächelte, wobei das Liebenswürdige,
Gesellschaftliche noch stärker hervortrat und daneben
etwas Überlegenes wie bei jemand, der zu beobachten
fähig ist und sich dessen freut.
Das Tuch hing über einem Stuhl, und Arnold gab
es dem Lehrer. »Es ist sehr gelb, das Ding,« meinte
er lachend. Er schnupperte und steckte die Nase in
den gestrickten Stoff. »Pfui!« rief er.
»Es ist parfümiert,« sagte Specht verwundert.
»Finden Sie das schlecht?« Er sah Arnold an wie
einen jungen Bären, dessen Kraft und Dressur zu
allerlei geschäftlichen Unternehmungen locken. Er
hatte in Podolin viel reden hören von dem Leben
auf dem Ansorge-Hof. Arnold seinerseits betrachtete
das Gesicht des Lehrers, das im vollen Lampenlicht
ihm zugewandt war, mit spöttischer Aufmerksamkeit.
Er empfand Mißtrauen und zugleich eine unklare
Regung der Kameradschaft.
Dem Lehrer, der den abweisenden Blick Frau Ansorges
auf sich ruhen fühlte, geboten Takt und Bescheidenheit,
sich zu entfernen. Mit einer leichten
Bewegung warf er das gelbe Tuch über die Schulter,
verbeugte sich galant und wünschte gute Nacht.
Drittes Kapitel
Vor Aufgang der Sonne erwachte Arnold. Als
er gewaschen und angekleidet war und in den
Stall hinüberging, leuchtete schon der frühe Tag. Er
liebte diese Stunde, besonders jetzt, in der Oktoberklarheit
und -frische. Die Waldränder am Horizont
waren rosig bemalt. Die Rinder wurden zur Tränke
geführt, und sie blökten freundlich.
Ehe Arnold nach Podolin ging, wo er mit dem
Fleischer Uravar wegen einer Kuh unterhandeln
sollte, kehrte er ins Haus zurück, um zu frühstücken.
Er fand Elasser, einen Hausierer aus dem Dorf, bei
Frau Ansorge. Der Jude kam jeden Monat zwei-
bis dreimal, um Stoffe und Wolle, auch sonstige
Gegenstände für den Haushalt zu verkaufen.
Elasser begrüßte Arnold knixend, während er Stirn
und Glatze, die trotz des kühlen Morgens schon schweißbedeckt
waren, mit einem blauen Tuch trocknete. Sein
langhängender brauner Bart verhüllte fast den Ausdruck
eines ziemlich gutmütigen Gesichts. Er steckte
das Geld, das er empfing, mit liebevoller Sorgfalt
in einen schmutzigen alten Lederbeutel, huckte seinen
ansehnlichen Pack auf den Rücken, grüßte ehrerbietig
und ging.
Arnold trank seinen Topf Milch und sagte: »Ich
geh’ jetzt ins Dorf.«
Der Weg wurde leicht in der windstillen und würzigen
Luft. Die Welt atmete Frieden. Indem
Arnold rege vorwärts schritt, fühlte er sich gelaunt,
tagelang zu wandern. Er hob einen dicken Ast auf,
der am Wege lag, brach ihn entzwei wie ein Rohr
und warf die Stücke in den Fluß, dessen mühselig
hinfließendes Wasser nichts von der Reinheit des
Himmels wiedergab.
Podolin streckte sich lang hin. Die Häuser, arm
und schmutzig, entfernten sich nur an einer Stelle
von der Straße und bildeten, den Hügelrücken hinan,
einen weiten Platz, an welchem die Kirche, das Pfarrhaus,
die Schule, die Post und das Gerichtsgebäude
standen. Uravar wohnte am Eck hoch oben. Als
Arnold in den Laden trat, erblickte er den jüdischen
Hausierer, hektisch rot im Gesicht, mit leidenschaftlichen
Geberden auf den Metzger einsprechend. Uravar
hockte nachlässig, die Hände in den Taschen, auf der
Kante des langen Tisches, der mit Blut und Fleisch
bedeckt war, knirschte mit den Zähnen und lachte.
Sein bartloses Gesicht war rot und glänzend wie
das rohe Fleisch; am Kinn hatte er eine Warze mit
fünf langen Haaren, welche aussah, als ob beständig
eine Kreuzspinne auf seine Lippen zukröche.
»Wenn Sie mir nicht geben wollen mein Geld,«
sagte der Hausierer, »werd’ ich Ihnen verklagen bei
Gericht.«
Uravar schlug sich auf die Schenkel und zeigte die
blendend weißen Zähne. »Judd, geh furt, sonst holl
ich Hund,« sagte er und warf einen beifallhaschenden
Blick auf Arnold, der still auf der Schwelle
stand.
Elasser wurde erregt. »Ich fürcht’ mich nicht vor
Ihrem Hund,« antwortete er. »Ich fürcht’ mich nicht
einmal vor Ihnen, wie soll ich mich vor Ihrem Hund
fürchten. Geben Sie mir mein Geld und die Sach’
hat sich gehoben.« Sein Gesicht sah fahl aus, und
die Augen fielen kummervoll und ermüdet in ihre
Höhlen. Rettungsuchend blickte er an Arnold vorbei
auf den öden Platz, als Uravar sich von seinem Sitz
herabschnellte und mit ausholenden Schritten auf ihn
zuging. Er packte Elasser mit beiden Armen um den
Leib, hob ihn empor und schleppte ihn gegen die Türe.
Aber zwei Hände klammerten sich mit solcher Kraft
um seine dicken Schultern, daß die Schlüsselbeinknochen
krachten und zurückgedreht wurden. Mit
einem Wutgebrumm ließ Uravar den Juden zur Erde
gleiten, drehte sich schwerfällig um, den Kopf geduckt
und blickte Arnold, der ihn nun losgelassen hatte,
tückisch an. Arnold erwiderte den Blick mit solcher
Ruhe, daß der brutale Mensch fast demütig den Kopf
duckte und das Kinn herabzog, wodurch die Kreuzspinne
mutlos zusammenschrumpfte.
Elasser huckte keuchend seinen Pack auf. »Der
Herr wird dafür zu büßen haben,« sagte er, auf
Uravar deutend. »Einem Besoffenen und einem
Heuwagen muß man ausweichen, heißt es. Aber
gegen Gewalttätigkeiten sind da die Gerichte.« Er
nickte Arnold zu und verließ den Laden.
Angewidert und nicht imstande mit dem Fleischer
zu reden, trat Arnold auf den Platz hinaus und sah
gedankenvoll hinunter, die Augen gegen die blendende
Sonne mit der Hand beschirmend. Trotzdem kam
es ihm vor, als sei der Sonnenschein trüber geworden.
Hinter den Kindern, die jetzt dem gegenüberliegenden
Schulhaus entströmten, wurde Maxim Specht
sichtbar. Er schritt ohne weiters auf Arnold zu und
sagte mit anerkennendem Ausdruck: »Sehr schön,
sehr gut. Ich habe vom Fenster aus zugesehen. Endlich
einmal hat dieser Kerl eine Lektion erhalten.«
Er lachte meckernd, wobei seine Augen ganz klein
wurden und freundschaftlich glänzten. Dann lud er
Arnold ein, ihn ein Stück Wegs zu begleiten; oft
schon hätte er sich eine nähere Bekanntschaft gewünscht,
sagte er. Obwohl sein Anzug ärmlich war, sah er
darin adrett aus; im Gespräch war er ungezwungen
und zugleich zurückhaltend. Er war sehr neugierig
in bezug auf alles, was Arnold betraf.
»Wie können Sie denn das aushalten hier, das eintönige
Leben?« fragte er. »Was tun Sie denn den
ganzen Tag über?«
Arnold gab, so gut er konnte, Auskunft.
»Sie sind also eine Art Verwalter auf dem Gut
Ihrer Frau Mutter?« meinte Specht. »Und wird
Ihnen das nicht langweilig?«
»Langweilig? Nein; langweilig ist es nicht!«
»Waren Sie nie in der Stadt?«
»Nein.«
»Überhaupt noch nicht? Wie merkwürdig! Dem
Äußern nach sind Sie doch ein Städter. Ihre Sprache,
Ihr Gesicht, Ihr Benehmen, alles ist wie bei einem
Städter. Sehr merkwürdig!«
»Ist denn das so etwas Besonderes, ein Städter?«
erkundigte sich Arnold.
»Na, etwas Besonderes ... das will ich nicht gerade
sagen. Aber wenn Sie die Stadt noch nicht
kennen, da steht Ihnen ein großer Genuß bevor.
Haben Sie noch nie Sehnsucht danach gehabt? Nein!
Wie merkwürdig! Ich sage Ihnen, es ist etwas Herrliches
um so eine große Stadt. Theater, Konzerte,
reiche Leute, schöne Damen, Paläste, Kirchen, kolossale
Straßen und abends ein Lichtermeer! Das können
Sie sich nicht vorstellen. Es ist wie ein Traum. Hier
versumpft man ja, glauben Sie mir.«
Verwundert schüttelte Arnold den Kopf. Da es
ihm zu heiß wurde, zog er seine Lodenjacke aus, wobei
er stehen blieb und den Lehrer durchdringend und
verständnislos anschaute.
Sie waren gegen die Nordseite vors Dorf gekommen.
An der Straße lag eine Art Meierhof: ein schmuckes
Wohnhaus, Stall, Scheune, alles sauber und neu
umzäunt. Wie eine appetitliche Speise auf dem
Teller lag das kleine Gut in der Ebene. Unter dem
Haus stand ein junges Mädchen, auf den Lippen
ein Kinderlächeln. Als Specht sich von Arnold verabschiedet
hatte, schlug sie den gelben Schal fester
um Brust und Schultern und ging dem Lehrer entgegen.
Viertes Kapitel
Es war Nachmittag; Arnold saß am Fluß und
schaute ruhig nach der Angelschnur, die sich in
weitem Bogen zum Wasser senkte. Er hatte das
Hemd über der Brust geöffnet; es war ungewöhnlich
schwül geworden. Nicht das kleinste Fischlein
wollte sich verbeißen; den schwarzen Fluß kräuselte
keine Welle. Der Himmel hatte sich umzogen; über
den schlesischen Wäldern lag ein Wetter.
Salscha, vom Dorf herkommend, blieb neben Arnold
stehen und fragte ihn, was er mit dem Fleischer Uravar
gehabt habe, der schimpfe wie ein Teufel auf ihn.
Arnold brummte etwas vor sich hin.
Weshalb er sich da hineinmische, fuhr das Mädchen
fort, dem Juden werde er ja doch nicht zu seinem
Recht verhelfen können.
»So? warum denn nicht?« fuhr Arnold auf.
Na, die Juden seien eben keine rechten Menschen,
sie behexten das Vieh und zu Ostern schlachten sie
Christenkinder.
»Dumme Gans,« murmelte Arnold verächtlich. »Der
Jud ist arm, hat neun Kinder zu Haus und wenn
er zu Gericht geht, wird er auch sein Recht bekommen.«
»Natürlich, als ob das Recht bei den Gerichten so
billig wäre!« höhnte Salscha.
Arnold zuckte die Achseln und schwieg.
Salscha setzte sich auf einen Stein neben Arnold,
die Knie unter den Röcken weit voneinander, die Augen
nicht von ihm wendend. Weit und breit war kein
Mensch zu sehen; eine Viertelstunde der Liebe schien
erwünscht. Aber endlich merkte sie die Kälte Arnolds.
Mit bösem Blick schielte sie nach der Angel, stand
auf und ging. Lange noch hörte Arnold ihr gleichmäßiges
und erzürntes Trällern über die Wiesen
klingen.
Arnold schnellte die Angel aus dem Wasser und
machte sich auf den Heimweg, da der Regen nahte.
Über Podolin wetterleuchtete es. Er schulterte die
Rute und schritt fest über den dürren Ackerboden.
Frau Ansorge saß bleich in der Mitte des Zimmers,
als er eintrat, denn sie fürchtete Gewitter, besonders
die des Herbstes.
Aber die Wolken verzogen sich wieder.
Arnold erzählte, daß ihn der Lehrer in Podolin
angesprochen und ihm mit allerlei wunderlichen Ausdrücken
von dem Leben in der Stadt vorgeschwärmt
habe.
Frau Ansorge runzelte finster die Stirn. »Der
Windbeutel«, sagte sie; »er soll seine frischgebackene
Weisheit für sich behalten.«
Sie stellte sich ans Fenster und blickte gegen den
Himmel, wo ein Regenbogen stand.
»Komm einmal her, Arnold,« sagte sie.
Arnold trat an ihre Seite.
»Siehst du den Regenbogen? Jetzt steht er schön
und groß vor dir. Kommst du zwischen Gassen und
Häuser, so bleibt nicht mehr viel von ihm übrig. Und
so viel deine Augen davon verlieren, so viel Glück
und Ruhe verlierst du selber. Und die Stadt, das ist
nichts andres als eine Unmenge von Gassen und
Häusern. Sie verwirren dich nur, die Windbeutel,
sie sind leer wie gedroschenes Stroh.«
Fünftes Kapitel
Hankas, die neuen Bewohner von Podolin,
hatten Besuch. Der Bruder von Agnes Hanka,
Alexander, war aus Wien gekommen. Er wollte
nur drei Tage bleiben; Erbschaftsangelegenheiten
waren zu besprechen. Auch wegen Beate kam
er, die seine Schutzbefohlene war. Agnes hatte sie
einst auf seinen Wunsch zu sich genommen. Vor
Jahren hatte er die arme Waise den Händen böswilliger
Verwandten entrissen, der Familie seines
Gutsinspektors in Böhmen. Alexander Hanka, den
alle Welt für die Vernunft und Hausbackenheit selber
hielt, hatte damals phantastische Pläne gefaßt. Ein
Ideal schwebte ihm vor: ein von der Gesellschaft losgelöstes
Weib, innerlich frei und kräftig, unverblendet
und natürlich, das er für sich, für ein von der Gesellschaft
losgelöstes Leben auferziehen wollte. Seitdem
waren acht Jahre verflossen, und er sah auf sein ehemaliges
leichtgläubiges Ich etwas gelangweilt herab.
Beate selbst fand diese gleichmütige Gesinnung sehr
bequem. Wer nicht dankbar zu sein braucht, ist
wenigstens ehrlich; sie schätzte den Beschützer, denn
sie wußte, was sie an ihm hatte, und war zutraulich
gegen ihn.
Als Doktor Hanka in Podolin ankam, stand die
Sonne schon tief im Westen. Harzgeruch würzte die
Luft, Bauern gingen vorbei und grüßten. Am Rain
weideten Kühe und blickten mit Ruhe und Mißbilligung
auf den städtischen Ankömmling.
Agnes und Beate waren nicht zu Hause. Hanka
erfuhr, daß seine Schwester beim Pfarrer, Beate man
wisse nicht wo sei. Damit gab er sich zufrieden, setzte
sich auf die Bank vor dem Haus, rauchte, schlug die
überaus langen Beine übereinander und wartete.
Die Stille und der große Himmel, dessen Anblick in
solchem Umfang ihm ungewöhnlich war, ließen ihn
seine anfängliche Verdrießlichkeit über den Landausflug
vergessen.
Während er noch in Nachdenken versunken war,
es fing schon an zu dämmern, klang ein überraschtes
Ach an seine Ohren. Beate stand hinter ihm und
mit ihr war Maxim Specht gekommen. Beate, indem
sie eine ungeschickte Tanzstundenhöflichkeit annahm,
machte die beiden Männer miteinander bekannt.
Der Lehrer und Beate sahen belustigt und
aufgeräumt aus. Mit offenbarem Vergnügen an
seinem Talent, Erlebtes wiederzugeben, erzählte
Specht, daß sie auf der Lomnitzer Straße Arnold
Ansorge begegnet seien und sich sehr gut dabei unterhalten
hätten.
»Er fragte, ob ich schon einen Liebhaber hätte,«
platzte Beate lachend heraus.
»Nicht was er sagt, ist so amüsant,« erklärte Specht,
»sondern wie er zuhört, wie er verwundert ist, wie
er jedes Wort bedenkt. Er ist nicht dumm.«
»Wer ist Arnold Ansorge?« fragte Hanka kühl, dem
die Art Spechts nicht sympathisch war. Indes kam
auch Agnes Hanka. Bruder und Schwester begrüßten
einander herzlich, Alexander mit der ihm eigenen
Gravität und spöttischen Zurückhaltung, Agnes mit
einem Ausdruck unbegrenzter Hochachtung vor dem
Bruder. Da sie schwerhörig war, redete sie wenig,
aus Furcht, mißzuverstehen und aus noch größerer
Furcht, denjenigen allzusehr zu bemühen, mit dem
sie sich unterhielt.
Alle vier gingen ins Haus. Specht verabschiedete
sich bald. Sein Taktgefühl sagte ihm, daß er überflüssig,
und seine Empfindlichkeit, daß Hanka nicht
zufrieden sei mit der Anwesenheit eines Fremden.
Als Specht gegangen und Agnes in der Küche beschäftigt
war, erkundigte sich Hanka bei Beate nach
dem Lehrer.
Beate blickte den umherstolzierenden Frager mit
damenhafter Nachlässigkeit an. Sie hatte die Hände
über den Knien verschränkt, saß vorgebeugt und
trippelte leise mit den Fußspitzen. Sie begann von
Specht zu schwärmen, der arm sei, aber nach ihrer
Überzeugung es zu etwas Großem bringen würde.
Nur die Not habe ihn hierher verschlagen, bald wolle
er die Schulmeisterei an den Nagel hängen. »Er ist
ein Sozialist,« fuhr sie flüsternd fort, »aber das
sag’ ich dir nur im Vertrauen, es soll Geheimnis
bleiben.«
Hanka blieb mit gespreizten Beinen vor ihr stehen,
wiegte sich in den Hüften, schmunzelte gutmütig und
um seinen vollen, weichen Mund zuckte die Ironie
wie in kleinen Schlänglein. Sogar in den Bewegungen
seines langen, hagern Körpers drückte sich Wohlwollen
und Spott aus. Zum erstenmal heute sah er
Beate voll und deutlich an; sie gefiel ihm, besonders
behagten ihm die schmalen, schwarzen Linien der
Brauen über den perlmutterglänzenden Augen. Darauf
erblickte er sein eigenes Bild, denn hinter dem
dunklen Kopf des Mädchens hing der Spiegel. Nie
glaubte er Häßlicheres gesehen zu haben; eine dicke,
lange Nase, eine niedere Stirn; ein blasses Mephistogesicht.
Bestürzt wandte er sich ab. »Wir haben uns
ja schon zwei Jahre lang nicht gesehen,« sagte er.
»Wie geht’s dir denn, Beate? Einmal schrieb mir
Agnes, du hättest dich fortgestohlen, um zu tanzen.
Wie verhält sich das?«
Seine vor Fülle vibrierende Stimme mit den
tiefen O-Lauten erregte Beates Lachlust. »Es macht
mir jetzt gar keine Freude mehr zu tanzen,« log sie
und kettete gleich eine zweite Lüge bequem an: »ich
lese nämlich sehr viel.«
»Hm–m, Herrn Spechts Einfluß,« sagte Hanka
mit hölzerner Würde. Zugleich sah er im Geist den
jungen Lehrer mit dem gutrasierten Gesicht und dem
flinken Benehmen.
Die Fenster waren offen, die kühle Herbstluft strich
herein, die Lampe brannte freundlich, und altvertraute
Bilder schauten von der Wand. Beate nahm
fleißig tuend einen Strickstrumpf und Agnes steckte
den vom Herdfeuer erhitzten Kopf durch die Türspalte,
um zu erfahren, ob Alexander auch den richtigen
Hunger habe. Hanka stellte allerlei Betrachtungen
über das Landleben an, rauchte schweigend
seine Zigarette und sandte bisweilen einen kurzen
Blick nach Beate.
Agnes trug zu essen auf, wie für eine Soldaten-Kompanie.
Dabei entschuldigte sie sich, daß sie dies
oder jenes nicht habe bekommen können. Beate reichte
Hanka eine Schüssel um die andere, so daß er sich
in eine Art Betäubung hineinaß. Er schob die Lippen
vor, machte eine Schnauze, drehte den Hals wie eine
Ente im Wasser und sagte, es tue ihm leid, daß er
morgen schon wieder abreisen müsse. Beate wiederholte
es lauter für Agnes und diese sah ihn vorwurfsvoll
an.
Das junge Mädchen ging bald schlafen, und die
Geschwister hatten eine ernsthafte Unterredung. Mitten
darin verlor sich Hankas Geist in die Breite und spielte
mit den lichten Gestalten eines Traumzustandes. Oben
am Haus öffnete sich ein Fenster. Beates Stimme
sang ein Lied, das sie von den Tschechinnen gelernt
hatte.
Kudy, kudy, vede cestička
Pro mého Jenička ...
Der Liebste ist zwar in die Ferne gegangen, bedeutet
es, um sich eine Reiche zu suchen, aber das
kann nicht hindern, ihn noch weiter zu lieben.
Sechstes Kapitel
Da in der Nacht leichter Frost eingetreten
war, umhüllte Arnold am Morgen die Fruchtstöcke
für den Winter mit Stroh. Salscha half ihm,
trug das Stroh aus der Scheune und legte es in
lange Bündel. Sie war mürrisch und traurig und
suchte Arnold durch Gleichgültigkeit aufmerksam zu
machen. Er stand auf der Leiter, und während er
den Arm hinunterstreckte, um ein Bündel zu ergreifen,
begegnete er Salschas Blicken. Die Polin
wurde blaß, zog die Lippen von den Zähnen zurück
und stieß einen leisen Pfiff aus. Eine Sekunde lang
stand sie noch schweigend, dann kehrte sie um, ging
ins Haus, trat entschlossenen Schrittes vor Frau Ansorge
hin mit der Miene eines Menschen, der endlich
einmal viel zu sagen hat. Frau Ansorge legte
die Stickerei auf den Schoß und lächelte Salscha entgegen.
Dadurch wurde das Mädchen um alle Fassung
gebracht, sie hielt den nackten Arm vor die Augen
und fing an zu schluchzen. Das Lächeln auf Frau
Ansorges Lippen nahm nacheinander jeden Ausdruck
der Frauenhaftigkeit an: Mitleid, Spott, Ratlosigkeit
und leichte Geringschätzung; dahinter gleich einem
feinen Schimmer die Freude über den, der solche
starke Kränkung zufügen konnte. Sie stand auf,
räumte ihre Arbeit beiseite, legte beide Hände auf
die Schulter der Magd und sagte: »Das vergeht
schon, Salscha. Gott hat tausend andere für dich
erschaffen. Sei nur stille jetzt, heut ist Kirmes, ich
schenk’ dir einen neuen Unterrock.«
Arnold war von der Leiter gestiegen. Gleichmütig
stieß er mit dem Fuß das Stroh aus dem Weg und
wandte sich zum Gartentor, da er dort einen Mann
stehen sah, der ein junges Mädchen an der Hand
führte. Als er näher kam, erkannte er Elasser, den
Hausierer. Ängstlich und demütig entblößte der Jude
das kahle Haupt und fragte Arnold, ob er Zeugenschaft
vor Gericht ablegen wolle gegen Uravar. Trotz
seiner Ehrerbietung war er kurz, trotz der süßen
Freundlichkeit war in seinen Mienen zu lesen, daß
es für den Gebetenen keinen Ausweg gab, als zuzusagen,
wenn es so weit kam. Arnold dachte nicht
an anderes. Er blickte das Mädchen an, das Elasser
mit sich führte, und der Gegensatz, in dem die winzige
Gestalt und die frühreifen Züge standen, erschreckte
ihn fast. »Sag dem Herrn Dank, Jutta,« murmelte
Elasser und schüttelte den Arm des Mädchens. Die
Kleine betrachtete Arnold mit einem prüfenden und
furchtsamen Seitenblick. Sie war dreizehn bis vierzehn
Jahre alt und mit ihren etwas schwärmerischen
Augen schien sie wie ermüdet von den Lasten der
Generationen, die gleichsam das natürliche Wachstum
ihrer Gestalt verhindert hatten.
Am Nachmittag ging Arnold ins Dorf. Gassen
und Platz waren vom Kirchweihdunst erfüllt. Aus
der ganzen Umgegend waren die Bauern zusammengeströmt.
Geschrei und Musik waren nicht mehr voneinander
zu unterscheiden. Die Wirtsstuben konnten
ihre Gäste nicht fassen, die überall im Flur und auf
der Gasse hockten, auf Fässern, Blöcken, Ballen und
Balken, schrien, spielten, handelten und Lieder
johlten. Die Drehorgeln quietschten, die Heringbrater
schrien und Kinder schlüpften wie Eidechsen
um die Beine der Erwachsenen. Aus der geöffneten
Kirchentür strömte der Weihrauch in den Heringsgestank,
und mit bunten Fähnchen und schläfrigem
Gesang kam eine Prozession heraus, die sich im Gedränge
kaum vorwärts schieben konnte. Einige in
der Nähe bekreuzten sich, knixten und stürzten wieder
in den Trubel. Dabei wurde es Abend. Die Menge
staute sich immer mehr. Arnold wurde in den Flur
des »goldenen Stern« gedrückt, wo Tanzmusik erklang.
Ein Mann schrie verzweifelt, seine farbigen
Ballons waren in die Luft geflogen. Fünf Mägde,
Arm in Arm wie Soldaten, schwenkten aus dem Tor
und sangen lachend ein Lied. Hinter ihnen stand
plötzlich Maxim Specht und winkte Arnold lächelnd
zu. Er wollte folgen, aber ein Verkäufer von Zaubertränken
versammelte die Zecher um sich, und der
Durchgang war versperrt. Als er neben sich blickte,
sah er auch den jüdischen Hausierer. Seine traurige
Gestalt, das unbewegt demütige Gesicht und die nüchtern
und gefaßt prüfenden Augen wirkten so befremdlich
in dem Haufen, daß Arnold ihn fragte,
was er da suche. Elasser gab mechanisch Auskunft,
als wenn er bisher mit niemandem hätte über etwas
sprechen können, was ihn sehr zu bedrücken schien.
Seine Tochter Jutta sei vom Hause weg, erzählte
er mit einer fast geschäftlichen Freundlichkeit. Seit
er vom Hof des gnädigen Herrn Ansorge zurückgekommen,
sei sie verschwunden. Am Sonntag helfe
sie manchmal beim Wirt Gläser spülen, aber sie sei
nicht da. Wunderlich genug, daß Arnold auf einmal
Sorge um das gesuchte Mädchen empfand, als ob
er sich hier an Menschliches klammern müsse, wo er
nur betrunkene Tiere sah. Er wurde nachdenklich
und sah diese winzige Jutta irgendwo im Wald verirrt.
Er wollte fragen, aber Elasser war schon fortgedrängt
und Arnold befand sich neben der Saaltüre,
dicht neben Specht und Beate. Specht faßte
ihn sofort unter und fragte vertraulich, wie es gehe.
Verlegen zuckte Arnold die Achseln, denn er fand
keinen Tonfall gegenüber dieser unerwarteten Liebenswürdigkeit.
Neugierig sah er auf die Füße der Tanzenden,
denn die plumpen, gespreizten, lächerlichen und
wilden Bewegungen reizten immer seine Schaulust.
Oben auf einer Estrade hockten wie Kobolde die
Musikanten, durch den Dunst halb verwischt. Beate
wandte sich erhitzt mit derselben unerklärlichen Vertraulichkeit,
aber mit einem geheimnisvoll tückischen
Glanz in den Augen zu Arnold und fragte, ob er
denn nie beim Jahrmarkt gewesen sei, weil er so
erstaunt starre. Auch die Schnelligkeit und falsche
Heiterkeit, mit der sie redete, hatten etwas Unerklärliches.
»O ja,« antwortete Arnold gelassen, »aber
ich habe es vergessen.« In der Tat, für ihn war
ein Jahr eine unübersehbare Spanne Zeit.
Beate tanzte mit einem Bauernburschen von riesenhaftem
Wuchs davon. Der heiße Saal mit seinen
trüben Lichtern glich einer kleinen Hölle. Bald schien
es Arnold, als drehten sich die Wände statt der Menschen.
Er stand am Schanktisch, konnte weder vor-
noch rückwärts, blickte zwischen Köpfen hinweg, über
zuckende Schultern in den Dampf. Die Wirtin stellte
Bier vor ihn hin; er hatte Durst, zahlte und trank.
Er sah Beate vorbeifliegen, und ihre Röcke wehten.
Der Bauer schien sie zu tragen, und seine großen
Stiefel polterten vernehmbar vor allen. Dann standen
auf einmal wieder sie und der Lehrer dicht vor ihm.
Beide sahen ihn nicht. Specht hatte das Mädchen
am Oberarm gefaßt und knirschte etwas durch die
Zähne. Seine Unterlippe bewegte sich leidenschaftlich.
Beate antwortete ihm mit einem langen Blick,
der zugleich nachlässig, verliebt, unentschieden und
von äußerster Wildheit war. Ihre Haare klebten an
der Stirn, ihre Halsader pochte, ihre Ohren waren
purpurrot, das Gesicht blaß. Zwei betrunkene Bauern,
die tschechisch lallten, verdeckten gleich darauf die beiden
für Arnolds Blicke. Er drängte sich zur Türe durch.
Er war schon im Freien, als er eine Stimme hinter
sich vernahm. Es war Specht, der seinen Arm abermals
in den Arnolds schob und höflich bat, mitgehen
zu dürfen. Arnold wußte nichts zu entgegnen. Die
Welt ist für jedermanns Füße, dachte er. Er hörte den
Lehrer keuchen von der Anstrengung des Nachlaufens.
»Bleiben wir doch noch zusammen,« bat Specht
wiederum. »Ich möchte nicht gern allein sein. Es
ist erst sieben Uhr und wir könnten ganz gut noch
einen Spaziergang machen.«
Arnold nickte, halb neugierig, halb gleichgültig.
Bald hatten sie den Lärm hinter sich. Trotz der
Dunkelheit war der Weg deutlich, denn der Viertelsmond
stand im Westen. Der Frieden der Felder schien
vertausendfacht durch das nun verklungene Marktgetöse.
Siebentes Kapitel
»Elende Bauern,« sagte Specht, nachdem sie eine
Weile lang schweigend gegangen waren. »An
einem einzigen Sonntag werfen sie fort, was sie
einen ganzen Sommer lang zusammengescharrt
haben.« Er redete in Wut und Haß und warf irgend
eine Anklage, die mit seinen Gefühlen gar nichts
zu schaffen hatte, irgendwohin.
Arnold schwieg.
»Und was ist das überhaupt für ein Leben!« fuhr
Specht mit einer verzweifelten Bewegung seines
ganzen Körpers fort. »Wer bin ich hier? Was soll
ich hier? Lauter Bauern, lauter Dummköpfe! Kein
Mensch, mit dem man ein richtiges Gespräch führen
kann. Pfui Teufel.«
Er ärgert sich, weil sein Mädchen mit einem andern
getanzt hat, dachte Arnold, was macht er solches Wesen
davon.
»Ich wundre mich nur, daß Sie’s hier aushalten,«
sagte Specht, »Sie sind doch auch schließlich nicht auf
den Kopf gefallen. Das ist doch keine Existenz für
Sie. Sie müssen hinaus in die Welt. Man braucht
Männer heutzutage.«
»Mir ist ganz wohl hier,« gab Arnold ruhig zur
Antwort.
Das Dorf war längst verschwunden, sie schritten
schweigend am Waldrand entlang. Die Wiesen
glänzten silbern, Mondnebel erfüllten die Luft. Dicht
vor ihnen tauchten die Mauern des Felizianerinnen-Klosters
auf; über dem hohen Tor glänzte ein Kreuz.
»Wir sind sehr weit,« sagte Specht bedenklich. Mit
verborgener Bewunderung heftete er den Blick auf
Arnold, der ihm gegenüberstand, die Füße in schreitender
Stellung, das Gesicht mit einem Ausdruck des
Lauschens emporgewandt, das braune Haar aus der
Stirn gestrichen. Die etwas lange, gerade, aber breitrückige
Nase verlieh dem Gesicht einen durchaus reifen
Charakter.
Der Lehrer riß einen Zweig ab und zerbog ihn.
Seine Haltung war sinnend und schwermütig. Ihm
war, als sei sein Gemüt gereinigt worden, und er
hörte mit ganz anderm Ohr das Rauschen, welches
der Wind in den Baumkronen verursachte. Seine
Qualen rückten auf ein anderes Ufer, vor ihm floß
ein Strom der Einsamkeit.
Sie gingen ein Stück weiter bis zum Fuße der
Klostermauer. Dort setzte sich Specht auf eine Steinbank
und erzählte von seiner Tätigkeit als Lehrer,
von seinen Wünschen und Träumen, von seinem
sozialen Ideal, das ihn anderswo hinweise als in
mährische Einöden. Er erzählte von seiner Bibliothek,
von seinen mit Studien verbrachten Nächten
und deutete dumpf und schamvoll sein kümmerliches
Auskommen an. Sein Ton war einfach, wenn auch
durch die Nacht etwas gedrückt. Ihm war, als müsse
er diesem Menschen beichten, und er vergaß die
jüngeren Jahre Arnolds. Leicht erzeugt ohnedies
eine solche Stunde festere Brücken zwischen Männern,
als etwa ein Beisammensitzen im Sonnenschein. Freilich
nicht bei Arnold, den keine innere Enge trieb,
sich mitzuteilen. Aber da es für ihn nichts Längstbekanntes
gab, kein alltägliches Schicksal, lauschte er
dem Lehrer mit Interesse.
Endlich erhob sich Specht und meinte, es sei doch
Zeit, nach Hause zu gehn. Während des Heimwanderns
brachte er noch vielerlei vor, denn er hatte
einen regen, lebendigen Geist, und mit Unrast suchte
er Beziehungen und wünschte Sympathien.
Achtes Kapitel
Am andern Morgen, als Arnold und Frau Ansorge
beim Frühstück waren, kam Ursula und erzählte,
die Felizianerinnen hätten die Tochter des Juden
Elasser zu sich ins Kloster gebracht.
»Vierzehn Stunden haben die Leute nicht gewußt
wo ihr Kind ist,« sagte sie. »Erst heut Nacht haben
sie es durch einen Zufall erfahren.«
»Und was ist dann geschehen?« fragte Arnold.
»Der Jud ist mit dem Gendarmerie-Wachtmeister
Wittek ins Kloster gegangen. Man hat sie aber nicht
hineingelassen.«
»Eine wunderbare Geschichte,« bemerkte Frau Ansorge
spöttisch.
Arnold erinnerte sich seiner gestrigen Begegnung
mit dem Hausierer und an dessen beklommenes Wesen.
»Man kann doch nicht ohne weiteres ein Mädchen
rauben,« sagte er verwundert.
»Wahrscheinlich soll das Judenkind getauft werden,«
antwortete Ursula.
Der Bäcker aus Podolin, der gleich darauf kam,
bestätigte das Vorgefallene.
»Ich versteh das nicht,« sagte Arnold in wachsender
Verwunderung zu seiner Mutter. »Können die vom
Kloster ein Kind einfach stehlen?«
Frau Ansorge zuckte die Achseln.
»Man kann es doch nicht taufen, wenn die Eltern
nicht wollen.«
»Vielleicht will das Mädchen selber. Wenn es vierzehn
Jahre alt ist, braucht man die Einwilligung der
Eltern nicht.«
»Wenn es aber nicht will? Dann müssen Sie es
wieder entlassen, wie?«
Frau Ansorge zuckte abermals die Achseln. »Was
gehen uns die fremden Leute an,« entgegnete sie
gleichgültig.
Gegen Mittag machte sich Arnold auf den Weg
nach dem Dorf. Auf dem Hauptplatz blieb er eine
Weile unschlüssig stehen. Dann, fast wider Willen
trat er in den Ullmannschen Schnapsladen an der
Ecke. Bauern, Knechte, Tagelöhner, Unterstandslose,
ja sogar ein paar Weiber saßen dort und machten
Lärm. Arnold ließ sich ein Glas Tschai geben. Ein
alter, dicker, gichtiger Bauer, der weithin nach Schnaps
roch und dessen Mund verzogen war, als hätte er
Zitronensaft auf der Zunge, sagte, jetzt sei die Zeit
gekommen, und endlich werde dem Juden der Garaus
gemacht. Getauft oder verbrannt, schrie ein Bursche,
dem die bloße Brust durch das zerrissene Hemd schien.
Der Ladenbesitzer, selber ein Jude, mit einem Bart,
der dünn und kranzartig um das ganze Gesicht lief,
lachte mit weit aufgerissenem Mund. Eine pockennarbige
Bäuerin behauptete, der Papst und der Erzbischof
hätten den Felizianerinnen strenge befohlen,
alle Judenkinder zu taufen.
Arnold fragte den geleckt und hungrig aussehenden
Geschäftsgehilfen nach der Wohnung Elassers und verließ
dann den Laden.
Podolin, aus einer langgestreckten Reihe niedriger
Häuser bestehend, hatte nur eine einzige Seitengasse
und dort, dicht am Flußufer, wohnte Elasser. Die
abschüssige Gasse war fast ungangbar durch Misthaufen,
Kotpfützen, Schottergestein und umhergackerndes
Geflügel. Von den Mauern des Elasserschen
Häuschens war der größte Teil der Mörtelbekleidung
abgefallen. Arnold ging durch die offene Haustüre
in ein gleichfalls offenes Zimmer zur Rechten, wo
sich ihm ein ebenso wunderbarer als trauriger Anblick
bot.
Neuntes Kapitel
Samuel Elasser hockte zusammengekauert, die
Knie fast bis zur Brust emporgezogen, im
Winkel eines schmutzigen Kanapees. Er hatte mit
beiden Händen das Gesicht so vollständig bedeckt,
daß darunter nur der braune Bart hervorquoll. Auf
dem Kopf trug er ein altes, hintübergeschobenes
Seidenkäppchen mit einer Quaste. Um ihn herum
standen wie in einem abgemessenen Halbkreis sechs
Kinder und blickten regungslos auf die kauernde Gestalt
ihres Vaters. Eines von zwei Jahren kroch
halb spielend, halb winselnd über die Dielen und
ein Neugeborenes lag eingehüllt in bunte Lappen,
die wiederum durch einen grünen Gürtel zusammengehalten
waren, auf einer breiten Bank neben dem
Ofen. Die Frau stand vor dem Fenstersims und bewegte
betend die Lippen und den Oberkörper. Außer
dem Gelalle des kleinen Halbnackten war kaum ein
deutlicher Laut vernehmbar. Auf dem Tisch standen
acht blecherne Kaffeetassen, an einem Strick vom Ofen
zur Wand hingen rote Windeln zum Trocknen und
der Türe gegenüber nahm ein uralter Schrank den
fünften Teil des Raumes ein.
Nachdem Arnold einige Minuten ruhig auf der
Schwelle geblieben war, trat er ins Zimmer. Sogleich
drängten sich die sechs Kinder in einen Knäuel
zusammen. Elasser ließ die Hände vom Gesicht fallen
und blickte den Fremdling mit glasigen Blicken an.
Arnold war etwas verdutzt über die gepreßte Trauer
und düstere Niedergeschlagenheit, die hier herrschten.
Er forschte unter den Gesichtern der Kinder und als
er das ihm bekannte der kleinen Jutta nicht erblickte,
fragte er: »Ist sie noch nicht zurück aus dem Kloster?«
Die Frau drehte sich um und heftete aus ihren
hervorquellenden, ermüdeten Augen einen ungewissen
und furchtsamen Blick auf Arnold. »Weiß der Herr
nicht, daß unsere Jutta geschleppt worden ist mit Gewalt
ins Nonnenkloster?« rief sie mit einer überscharfen
Stimme. Ihre Züge, obwohl alt und häßlich,
entbehrten nicht des Reizes, den das Leiden in
jeder Form zu erteilen vermag.
Arnold blickte die Frau aufmerksam an. »Ja ja,«
erwiderte er, »aber das ist doch gegen das Recht.«
»Sehn Sie nur an,« fuhr die magere Jüdin fort
und hob sibyllenhaft den Kopf, »wie es bestellt ist
mit dem Recht. Für die armen Leute gibt’s kein
Recht, für arme Juden gibt’s gar kein Recht. Und
mit was kann ich dienen? Mit wem hab ich das
Vergnügen?«
»Es ist der gnädige Herr Ansorge,« klärte Elasser
auf, mit einer Geberde, die ebensowohl für ehrfürchtig
als für kummervoll gelten konnte. »Der Herr kommt
nicht in schlechte Absichten, Mutter. Erinnern Sie
sich, gnädiger Herr, wie ich meine Jutta hab gesucht
Sonntag? Wir haben gewartet und gewartet und
wer nicht gekommen is, war unsere Jutta. Und der
ganze Abend ist geflossen un endlich gegen elf is gekommen
der Gehilf vom Uravar und klopft da draußen
und meint, wir sollen doch einmal nachfragen im
Kloster. Und ich denk mir noch und denk mir noch,
’s ist wahr, sie kann sein gegangen mit die Bänderchen
zu den Nonnen, denn sie ist allein hausieren gegangen,
und solche Sachen sind schon bereits vorgekommen,
und der Gehilfe, der ’s Fleisch bringt ins
Kloster, kann sie dort gesehn haben. Gnädiger Herr
meine Tochter ist eine gute Jüdin, warum soll sie
bei den Nonnen geblieben sein? Und es war Mitternacht,
bin ich noch gegangen und der Herr Wachtmeister,
ein freundlicher Herr, ist mit mir gegangen
ins Kloster. Und wir verlangen die Oberin zu sprechen,
aber die Schwester Pförtnerin sagt, wir sollen kommen
in der Früh und meine Jutta wäre da. Und der
Herr Wachtmeister sagt, warten wir bis in der Früh.
Gut. Sie können sich denken, daß wir kein Aug
zugemacht haben die ganze Nacht, und in der Früh
um sechs bin ich abermals wieder gegangen mit dem
Herrn Wachtmeister und verlang zu sprechen die
Oberin. Un sie kommt und ich verlang zu haben
mein Kind. Und gnädiger Herr, glauben Se mir,
mein Herz is still gestanden, sie sagt, ich soll kommen
in fünf Tagen, bis sich das Mädchen besser gewöhnt
haben wird an die neue Umgebung.«
Elasser wand sich, als ob ihn die Eingeweide
brennten. »Un so bin ich fortgegangen,« schloß er
und atmete tief.
»Und der Wachtmeister?« fragte Arnold, dessen Gesicht
sich verfärbt hatte.
»Der Herr Wachtmeister is ein freundlicher Herr,
aber er hat gesagt, leider, es ist vorläufig nichts zu
machen. Man muß warten. So wart ich.«
Der Säugling auf der Ofenbank erwachte und begann
ein dünnes Geheul, bis die Mutter hinging
und ihm ein in Honig getauchtes, kugelartiges Leinwandstück
in den Mund steckte. Auch das auf dem
Boden kriechende Kind fing an zu weinen. Die Frau
blickte gleichgültig herab, gab ihm mit dem Bein
einen leichten Stoß, und als es platt auf der Erde
lag, rollte sie es mit dem Fuß gleich einem Fäßchen
hin und her. Das Kind lachte, während die Mutter
leise summte und mit der Hand den Säugling wieder
in Schlaf schüttelte.
Elasser erhob sich, nachdem er lange vor sich hingebrütet
hatte und blickte Arnold ohne jede Schüchternheit
mit funkelnden Augen an. »Was soll ich tun,
lieber Herr,« sagte er dumpf und sein demütiger Tonfall
wirkte sonderbar im Gegensatz zu seinem Aussehen.
»Kann ich mir helfen, sagen Sie selber? Wenn
sie sagt, ich soll kommen in einem Jahr, kann ich
mir helfen? Und wenn ich keine Nacht mehr schließ
ein Auge, kann ich mir helfen, lieber Herr?« Er
ging auf und ab.
Arnold verfolgte ihn mit den Blicken. Er begriff
nicht, begriff nichts. Diese Verzweiflung schien ihm
unverständlich.
»Papa,« rief jetzt der älteste Knabe mit finsterer
Entschlossenheit, »hör auf zu reden, bitt dich, vor dem
Christen.«
»Keine Ruh will ich haben, keine ruhige Stunde,
bis sie mir nicht mein Kind gegeben haben!« rief
Elasser mit scheuer Leidenschaftlichkeit. »Und wenn
ich bis Wien zum Herrn Kaiser gehen muß, un wenn
ich hungern un dürsten muß.«
»Und sollen Weib und Kinder gleichfalls hungern?«
fragte die Frau mit streng zusammengezogenen
Brauen.
»Schämen Sie sich doch,« sagte Arnold laut und
blickte verdrießlich von einem zum andern, »gibt es
denn kein Gericht? Jeder Richter muß Ihnen das
Kind zurückgeben, sobald es das Gesetz verlangt.«
Draußen wurden Schritte laut und drei jüdische
Männer betraten den Raum, wobei sie Gebete murmelten.
Arnold ging. Er war kaum bis zur Ecke des Hauptplatzes
gelangt, als ihm Specht begegnete. Der
Lehrer schien die größte Eile zu haben, blieb aber
doch bei Arnold stehen, fing von der Klostergeschichte
an und meinte, es sei sonderbar, daß sie beide gerade
gestern Abend vor dem Kloster geweilt hätten. »Und
was sagen Sie zu alledem? Klingt es nicht fabelhaft,
daß dergleichen noch vorkommt?« Leise und geheimnisvoll
fügte er hinzu: »Ich berichte alles an eine
Wiener Zeitung. Übrigens könnten wir eine halbe
Stunde miteinander plaudern; kommen Sie mit ins
Wirtshaus.«
Arnold folgte zögernd, betrat das dumpfe und
dunkle Gemach, nahm schweigend neben Specht Platz
und nickte, als der Wirt ein Glas Bier vor ihn hinstellte.
Niemand war hier außer den beiden. Ein kleiner
Rattenpinscher lag neben Specht auf der Bank, erhob
den Kopf, knurrte und schlief bald weiter. Specht
schien lange innerlich zu kämpfen, endlich sagte er:
»Heute ist es mir schlimm ergangen; heute hab’ ich
was Schlimmes erfahren. Hören Sie nur ... Vielleicht
bereu’ ich einmal, daß ich schwatzhaft war, aber
der Teufel kann ewig schweigen.«
Arnold horchte hoch auf und schaute erwartungsvoll
auf den Mund des Lehrers.
»Sie kennen doch Beate?«
Arnold wandte den Kopf ab und nickte gleichgültig.
Specht legte seine Hand auf Arnolds Schulter und
sagte beschwörend und schmerzlich: »Ich übertreibe
nicht, mein Lieber, aber wenn es eine verkörperte
Ruchlosigkeit gibt, ist es diese siebzehnjährige Hexe.
Was ich gelitten habe! Doch es ist vorbei; anderes
liegt vor mir.« Er bedeckte die Stirn mit der Hand;
seine Lippen zitterten und in seinen Augen lag schon
jetzt Reue über seine Mitteilsamkeit. Seine Miene
wurde plötzlich kalt, und das Gesellschaftliche in seinem
Wesen trat mit auffallender Schärfe hervor, als er
sagte: »Ich hoffe, Sie können schweigen. Wir dürfen
die Frauen nicht einmal ins Gerede bringen, während
sie uns ungestraft zum Wahnsinn treiben.« Er lächelte
und zupfte an seinem schmalen, blonden Schnurrbart.
Arnold, der für solche Schmerzen keinerlei Verständnis
besaß, hatte zerstreut zugehört. Jenes unbedeutende
Frauenzimmer erschien ihm keines Wortes
wert. Er schämte sich für Specht.
Über eine Viertelstunde saßen sie schweigend beisammen.
Der Wirt hatte die Lampe angezündet.
Endlich fragte Arnold, indem er den Kopf ein wenig
vorstreckte und das Kinn mit zwei Fingern der linken
Hand drückte: »Wann wird man denn befehlen, das
Mädchen frei zu lassen?«
»Welches Mädchen?« entgegnete Specht aufschreckend.
»Die Elasser meinen Sie? Ich weiß
nicht.« Specht fühlte sich beleidigt, daß Arnold einer
so fernen Angelegenheit mehr entgegenbrachte als
seiner, Maxim Spechts, persönlich nahen. »Wer,
glauben Sie denn, daß hier befehlen wird?« fragte
er ironisch.
»Das Gericht, denk ich,« entgegnete Arnold und
wandte sich dem Lehrer völlig zu.
»Sie ahnen offenbar nicht, um welche Mächte es
sich hier handelt?« Specht lächelte boshaft vor sich
hin, als ob er mit diesen Mächten im Bunde sei.
Mit lachendem Mund und höchst erstauntem Ausdruck
sagte Arnold: »Es handelt sich um ein Unrecht.«
Specht meckerte. »Unrecht hin oder her. Leben
wir denn im Paradies? Findet denn jedes Unrecht
einen Richter? Und wenn es schon einen Richter
findet, findet es dann auch Gerechtigkeit?«
»Das ist mir zu dumm, was Sie da schwätzen, Sie
wollen mich wohl zum Narren halten,« erwiderte
Arnold, erhob sich mit blitzenden Augen und schob
den Tisch mit dem Oberschenkel von der Bank weg.
Der Hund fuhr aus dem Schlaf empor und bellte
wütend. Bestürzt blickte der Lehrer Arnold an, der
schweigend sein Geld auf den Tisch legte und die
Wirtsstube verließ.
Specht seufzte. Er schloß grübelnd die Augen.
Bald machte auch er sich auf den Weg, schlenderte
die finstere Dorfstraße entlang und kam bis zum
Hankaschen Zaun. Er lehnte sich an das Gartentor
und begann melancholisch zu pfeifen, scheinbar ohne
Absicht und nur in sich selbst versinkend. Seltsame
Menschen gibt es, dachte er, indem er weiterpfiff,
mit Beziehung auf Arnold. Was ficht ihn an? Für
ihn ist das Leben ein warmer Pfannkuchen; er braucht
sich nur hinsetzen, um zu essen. Will er Rechenschaft
haben über die Unbescholtenheit der Henne, von der
die Eier kommen?
Im Haus wurde ein Fenster geöffnet und eine
helle Stimme rief: »Specht! Herr Specht! Kommen
Sie doch herein! Was stehen Sie denn und pfeifen!«
Specht folgte der Einladung. Beate und Agnes
saßen bei Tisch und schienen soeben mit dem Abendessen
fertig geworden zu sein. Beate blickte Specht
hochmütig und höhnisch an. Specht verbeugte sich,
lächelte flüchtig, nahm Platz und fragte höflich nach
Agnes Hankas Befinden. Freundlich und eilfertig
bot ihm Agnes von den Überresten der Mahlzeit und
obwohl er hungrig war, schüttelte Specht den Kopf
und deutete scherzhaft auf seine Magengegend. Beate
hatte nicht aufgehört den Lehrer fest anzublicken. Sie
spielte mit einem Zeitungsblatt und sagte plötzlich
vor sich hin, ohne Furcht, daß sie von der halbtauben
Agnes gehört werden könne: »Wenn du nicht vernünftig
bist –« ... mit einer kategorischen und deutungsvollen
Bewegung riß sie das Blatt mitten entzwei.
»Erlauben Sie, ich nehme mir doch ein Stückchen
Käse,« rief Specht, zu Agnes gewandt, die ihm erfreut
Butter, Brot, die Weinflasche und den Wurstteller
hinschob. Sie klagte dem Lehrer, daß sie Sorge
um ihren Bruder Alexander habe; sie fürchte für
seine Gesundheit, er sehe so schlecht aus. Übrigens
habe er heute in einem Brief versprochen, gegen
Weihnachten längere Zeit in Podolin zuzubringen.
Specht fragte, was Alexander Hanka eigentlich
treibe.
Agnes besann sich, ob es nicht doch vielleicht etwas
gab, das Hanka »trieb«. »Nichts,« erwiderte sie
endlich scheu.
Der Lehrer lächelte sarkastisch.
»Er lebt von seinem Geld,« sagte Beate stirnrunzelnd.
»Er ist reich genug. Ist das vielleicht nicht
erlaubt?«
»Es ist leider nicht nur erlaubt, es wird gern gesehen,«
antwortete Specht.
Agnes gab dem Lehrer ihres Bruders Brief zu
lesen. Es war, als suche sie über etwas Beunruhigendes
in Hankas Leben Aufschluß und Trost, naiv dem
Fremdesten vertrauend. Specht betrachtete zerstreut
die ungefügen Schriftzeichen; unter dem Tisch suchte
er Beates Hand zu ergreifen.
Zehntes Kapitel
Frau Ansorge erhielt aus Wien die Nachricht, daß
ihr Bruder Borromeo sich wieder verheiratet habe.
Die Photographie der neuen Schwägerin zeigte eine
üppige Gestalt mit regelmäßigen Zügen, die einen
herrischen und kalten Ausdruck hatten. »Friedrich tut
nichts Gutes in seinem Schwabenalter,« sagte Frau
Ansorge zu Arnold, der das Bild der schönen Frau
mit Vergnügen betrachtete.
An demselben Morgen schickte Maxim Specht einen
Brief und eine Zeitung. Die Zeitung enthielt Spechts
Bericht über den Raub der Jutta Elasser. Arnold
las, und es wirkte erstaunlich auf ihn, nicht gerade
wie eine Lüge, sondern wie Schiefheit, wie Backenaufblasen.
Aus dem Nahen und Wahren war etwas
Fernes, Gespreiztes und Lärmendes geworden.
Der Brief lautete: »Wenn es Ihnen paßt, holen
Sie mich morgen früh um sieben Uhr ab. Der Polizeihauptmann
hat mit der Elasserschen Angelegenheit
einen Kommissar beauftragt, der ein guter Bekannter
von mir ist. Er erlaubt mir und Ihnen dabei zu
sein, wenn Elasser im Kloster seine Tochter zu sehen
bekommt. Davon darf man die Entscheidung erwarten,
denn es ist nicht einzusehen, wie sie ihm
dann noch das Kind verweigern wollen, was doch
zweifellos geschehen wird. Der Zweck ist, die Sache
hinzuziehen, bis Jutta das religionsmündige Alter
von vierzehn Jahren erreicht haben wird. Dann wird
dem Samuel Elasser die väterliche Gewalt durch die
Vormundschaftsbehörde abgesprochen und der Taufe
steht kein Hindernis im Wege; denn über das, was
das Mädchen selbst will oder nicht will, wird ja die
Öffentlichkeit getäuscht. Also nicht ich bin dumm oder
boshaft, lieber Freund, sondern die Ereignisse sind
es. Und dumm bin ich vielleicht nur deshalb, weil
ich mich darum kümmere und die Welt, gemein wie
sie ist, ändern möchte. Das ist nicht nur Dummheit,
sondern Irrsinn. Bleiben Sie gut Ihrem Specht.«
Arnold hatte das Gefühl eines Hinterhaltes. Er
las den Brief nicht nur, sondern er studierte ihn,
drehte ihn um und um und zerstampfte ihn schließlich
mit den Stiefeln. Den ganzen Tag über vermochte
er nichts Rechtes anzufangen.
In der Nacht hatte er einen seltsamen Traum.
Er kam von einer langen Landstraße an eine hohe
Gartenmauer. Vor der Mauer standen zwei Pferde
einander gegenüber, ein kleines und ein großes Pferd.
Beide Tiere sahen aus, als ob sie mit Grünspan überzogen
wären. An Hals, Kopf, Rücken und Bauch
trugen sie allerlei Zieraten, die, ebenfalls grünspanfarben,
aus der Haut hervorragten, als ob es nur
künstliche Tiere wären. Aber beide Pferde lebten.
Nun stand an der Mauer eine Tafel, welche die Inschrift
trug: diese Pferde können sprechen. Nachdem
er eine Weile unschlüssig und doch höchst begierig
gestanden war, warf er ein Geldstück hin. Darauf
ertönte ein langsames Glöckchen über der Mauer;
das größere Pferd erhob den Kopf und öffnete weit
das Maul, um zu sprechen. In diesem Augenblick
wurde Arnold von einem so furchtbaren Schrecken
ergriffen, daß er in der größten Eile über die Landstraße
Reißaus nahm. Als er aufwachte und den
Traum überlegte, kam er ihm überaus albern vor;
dennoch, die dünne Luft, die Mauer, die einsame
Straße, die schwermütige Miene des grünen Gauls,
der sich anschickte zu sprechen, das alles trug etwas
Unvergeßliches in sich.
Punkt sieben Uhr stellte sich Arnold bei Maxim
Specht ein. Es war noch halb dunkel, als sie sich
auf den Weg machten. Arnold verzehrte sein Frühstück
unterwegs. Specht war schweigsam.
Vor dem Klostertor warteten sie. Als die ersten
Wolken vom Frührot glühend wurden, traf der Kommissar
mit einem Gendarmen ein. Ein wenig davon
entfernt gingen Elasser und der Rabbiner aus Lomnitz.
Der Kommissar zog die Glocke. Die Schwester
Pförtnerin öffnete, deutete gegen eine schmale Türe
zur Linken und hinkte auf einer Krücke davon. Als
die Tür geöffnet war, wurde ein langer Gang sichtbar,
an dessen Ende ein Windlicht brannte, welches
nur mühsam die Finsternis verringerte. Darnach
kam ein weiter, flurartiger Raum. Auf einem Schemel
hockte schlaftrunken eine Laienschwester und zeigte
stumm auf die zur Linken befindliche Glastür. Die
Männer betraten ein saalartiges Gemach, dessen Decke
durch ein gekreuztes Tonnengewölbe gebildet wurde.
Auf einer langen Bank standen zwei dreiarmige silberne
Leuchter, darüber hing ein ehernes Kreuz mit
dem Heiland. An der hinteren Wand öffnete sich
ein dunkles Loch, vor welchem sich ein aus weißen
Stäben bestehendes Gitter befand. Elasser und der
Rabbiner standen schweigend abseits; sie starrten vor
sich nieder.
Nach einigen langen Minuten, während welcher
Arnold seine Uhr in der Tasche ticken hörte, knarrte
eine zweite Tür in der Ecke und vier Nonnen traten
herein. Elasser reckte den Kopf auf – Arnold gedachte
seines Traumpferds, welches sprechen wollte –
und blickte nach der Tür, die sich indes wieder schloß,
ohne daß seine Tochter eingetreten wäre. Plötzlich
war das finstere, vergitterte Loch durch eine Kerzenflamme
erleuchtet. Eine Gestalt bewegte sich vorbei,
eine andere folgte. Die erste kehrte zurück, streckte
die Arme aus, als wolle sie einen schweren Gegenstand
ans Licht ziehen. Darauf wurde das Öffnen
einer knarrenden Türe hörbar, und in demselben
Augenblick begann ein Weinen und Schluchzen, das
um so schauerlicher wirkte, als es wie durch das Fallen
einer Wand mit einem Male hervorgebrochen schien.
Die Arme regten sich geschäftiger, noch ein paar Arme
und ein Kopf schienen Beistand zu leisten, aber das
nicht zu beschwichtigende Weinen und Schluchzen erfüllte
nach wie vor anschwellend den Raum. Die
Kerze wurde ausgelöscht; das Gitter wurde wieder
finster, die knarrende Türe ließ sich von neuem hören;
Füße scharrten wie auf sandbestreuten Brettern, und
mit einem Schlag war es wieder still.
Elasser war einen Schritt vorwärts gegangen. Der
ganze Mann zitterte und seine Stirn glänzte von
Schweiß. Ein gurgelndes Geräusch kam von seinen
Lippen. Er schwenkte die Arme hin und her; der
Rabbiner und der Gendarm mußten ihn bei den
Schultern zurückhalten. Als es hinter dem Gitter
finster und ruhig wurde, war auch er wieder still.
Einige Minuten lang hörte man das leise Aufprasseln
der Kerzenflammen auf der Bank. Die frommen
Schwestern zeigten eine durch Gewohnheit und
Übung erlernte und befestigte Gleichgültigkeit. Ihr
inneres Leben schien sich zu einem verheimlichten
Lauschen gesammelt zu haben, wovon allein die Bewegung
der Augenlider Zeugnis ablegte. Specht
stand mit bleichem Gesicht. Arnold betrachtete auch
ihn; sämtliche Gestalten erschienen im trüben Zwielicht
wie Phantome. Es war kaum zu unterscheiden,
ob sie schliefen oder wachten.
Jetzt öffnete sich zum zweitenmal die seitliche Tür
und die Oberin trat ein. Specht, der Kommissar
und der Gendarm verbeugten sich ehrerbietig. Die
Oberin streifte die Männer mit einem eisigen Seitenblick
und richtete die Augen befremdet und fragend
auf Arnold, der sich nicht rührte, nicht grüßte und
mit verhängten Augen auf das eherne Christuskreuz
sah. Indessen wandte sich die Dame ab, trat mit
festem Schritt auf den Kommissar zu und sagte:
»Herr Elasser kann leider seine Tochter nicht sehen.
Das Mädchen ist krank.«
Elasser hob blitzschnell beide Hände, zog sie rasch
gegen sein Herz und schien reden zu wollen. Ja,
er schien gewaltsam bemüht, die ränkevolle Finsternis,
die er um sich gewahren mußte, wenigstens durch
Worte zu zerstören; der Polizei-Kommissar nahm
seine Partei, bemerkte schüchtern, die Mutter des
Kindes liege schwer darnieder und wünsche die Tochter
vor ihrem Tode noch einmal zu sehen. Durch diese
List gedachte er das Herz der Oberin zu rühren.
»Sie wird sie im Himmel wiedersehen,« antwortete
die Oberin mit feierlich erhobener Hand und mit
langsamer, zu peinvollem Lauschen zwingender
Stimme. Dann winkte sie den Nonnen zu und verließ
an ihrer Spitze den Raum.
Arnold, als wären seine Sinne für andere Wahrnehmungen
getrübt, starrte gegen den Boden; das
rasche, allseitige Getrappel auf den Steinfliesen schien
ihn zu fesseln. Auch er wandte sich schließlich, um
fortzugehen. Elasser stieß einen Seufzer aus, der
Arnold noch lange in Erinnerung haften blieb, ordnete
den feiertäglichen Rock, der sich verschoben hatte und
sagte mit seinem kummervollen, diesmal aber von
Entschlüssen durchwühlten Gesicht nichts als: »So
wahr ein Gott lebt –!«
Der Kommissar und Maxim Specht gingen dem
Dorfe zu. Plötzlich verabschiedete sich Specht von
seinem Begleiter, schaute sich nach Arnold um und
wartete, bis er herankam.
Elftes Kapitel
Arnold ergriff Spechts Arm und drückte ihn
so fest, daß der Lehrer sich zusammennehmen
mußte, um seinen Schmerz zu verbeißen. »Nicht
so stürmisch,« sagte er mit schwachem Lächeln. Arnold
atmete tief auf, dann wandte er den Blick
von Spechts unschlüssigem, aber ernstem Gesicht ab,
ließ ihn langsam über die Landschaft gleiten, und
um seinen Mund zuckte es. Er schüttelte heftig und
kurz den Kopf, und ohne den Lehrer zu grüßen, ging
er mit raschen Schritten querfeldein. Der Wind sauste
ihm entgegen, bald schien die Sonne, bald verging
sie wieder, dann strömte auf einmal Regen, vom
Sturm zu Wirbeln gepeitscht und gedreht, und von
neuem brach kalt und fahl die Sonne durch. Stumm
und weit dehnten sich Äcker und Wiesen. Arnold war
unzufrieden mit sich selbst; diese Empfindung beirrte
ihn. Wozu dies Streunen? dachte er. Er fing an,
seiner Zweifel sich zu schämen, und langsam erhellte
sich seine Stirn. Denn daß Elasser um sein offenbares
klares Recht gebracht werden könne, erschien
ihm so unmöglich, wie daß der Sonnenball für immer
verschwinden sollte, weil eine Wolke darüber zog.
Die nächsten Tage verflossen ihm wie in einem
unbewußten Horchen. Natürlich machte der Raub
des Judenmädchens viel Aufsehen im Lande. Arnold
wagte nicht, irgend jemand nach dem Verlauf der
Dinge zu fragen, denn er ahnte wohl, daß da mehr
Feindseligkeit und Parteileidenschaft im Spiel war,
als es zuerst den Anschein gehabt.
Da schickte ihm Specht zum zweitenmal die Zeitung
zu, an welche er berichtete und Arnold las:
»Neuestes aus Podolin. Samuel Elasser, unterstützt
durch die Hilfe und getragen von der gemeinsamen
Angst und Entrüstung seiner Stammesgenossen,
hat seiner Sache endlich einen Rechtsbeistand gewählt,
den Hof- und Gerichtsadvokaten Dr. Steinbacher in
Krakau. Unter Berufung auf den § 145 des allgemeinen
Bürgerlichen Gesetzbuches wurde eine Eingabe
an die Polizeibehörde berichtet. Dieser Paragraph
erklärt deutlich, daß die Eltern berechtigt sind, vermißte
Kinder aufzusuchen, entwichene zurückzufordern
und flüchtige durch Unterstützung der Obrigkeit zurückzubringen.
Der Polizeidirektor lehnte jedoch jede Vermittlung
mit folgenden Worten ab: »Was? ich soll
ein Mädchen aus einem Kloster herausnehmen?« In
der tiefsten Besorgnis über das Wohlbefinden seiner
Tochter, da ihm die Oberin doch Angst eingeflößt,
verlangte Samuel Elasser die Untersuchung des Gesundheitszustandes.
Nach langen vergeblichen Bemühungen
und langen Beratungen wurden ein Gerichtsarzt
und der Universitätsprofessor Dr. Woering
in das Kloster gesandt. Beide Ärzte stimmten darin
überein und sagten aus, daß Jutta Elasser vollkommen
gesund sei. Nun erfolgten dringendere Vorstellungen
des Vaters. Ein Polizeibeamter wurde beauftragt,
in aller Form des Gesetzes vom Kloster wenigstens die
Vorführung des Mädchens zu verlangen. Die Oberin
antwortete dem Beamten: »In sieben Tagen wird
sie ihr Vater sehen.« Der Beamte mußte sich damit
begnügen, diesen Bescheid stillschweigend zu Protokoll
zu bringen. Samuel Elasser fand sich am festgesetzten
Tage bei der Polizeibehörde ein. Da überreichte
man ihm eine schriftliche Meldung der Schwester
Wirtschafterin, wonach Jutta Elasser zwei Tage vorher
aus dem Kloster entflohen sei. Dies der nackte
Bericht. Man muß nur darüber erstaunen, daß die
Schwester Wirtschafterin den Ausdruck »entflohen«
wählte. Entflohen? Wohin? Wohin, wenn nicht zu
den Eltern? Warum gebrauchte die Schwester Wirtschafterin
nicht den klareren und wahreren Ausdruck:
entführt –? Denn das Mädchen wurde inzwischen
schon im Kloster Lagiewniki bei Podgorze gesehen.«
Stumm reichte Arnold seiner Mutter das Blatt
und bohrte die Zähne in die Lippe, während sie las,
Frau Ansorge schüttelte den Kopf, als sie fertig war
und sagte: »So ist eben die Welt; so sind die Menschen.«
Arnold machte ihr Sorge. Sein Benehmen zeigte
so viel Überlegenheit und bewußten Eigenwillen, so
viel Selbsterleben, so viel Hinaustasten und geheimnisvolles
Erzittern alles dessen, was eben nur in einem
Mann erzittern kann, daß sie nicht mehr aus noch
ein wußte; sie litt unter seinem veränderten Gang,
seiner beherrschteren Miene, seinem nach innen prüfenden
Blick und erkannte plötzlich Kräfte seines Verstandes,
seines raschen Auges, seiner Entflammbarkeit,
die sie früher mit ihrer Furcht kaum berührt
hatte. Wohl nahm sie bald wahr, daß er sich in
einem seltsamen Zustand der Erwartung befand, aber
außer einigen blitzhaften Einblicken blieb ihr alles ein
Rätsel. Sie fand ihre Beobachtungsgabe verschärft,
verzehnfacht; sie überzeugte sich, daß ihn nichts Trübes
erfüllte, nichts Lebenfeindliches, im Gegenteil; doppelter
Grund zur Sorge.
Eine Stunde später ging Arnold ins Dorf, bog in
die bekannte Seitengasse und betrat das Elassersche
Haus. Dort schien sich nichts verändert zu haben;
der Säugling lag noch auf der Ofenbank, die Windeln
hingen noch auf Stricken. Von den übrigen Kindern
und Elasser selbst war nichts zu sehen. Die Frau lag
auf dem alten Sofa und blickte ruhig gegen die rauchschwarze
Decke. Als Arnold eintrat, erhob sie sich,
und ihr Gesicht bekam einen verbissenen und boshaften
Ausdruck.
»Wo ist Herr Elasser?« fragte Arnold sanft.
»Wo wird er sein!« erwiderte die Frau und lehnte
sich mürrisch gegen den Sofawinkel.
»Was haben Sie für Nachrichten über Jutta?«
fragte Arnold, der Widerwillen empfand gegen die
Jüdin und ihre unordentliche Behausung.
Die Frau schwieg.
»Ich habe gehört, daß sie in Podgorze ist,« fuhr
Arnold ruhig fort.
»Warum nicht?« erwiderte die Frau höhnisch und
zuckte die Achseln. Plötzlich sprang sie auf, schritt
hastig quer durch die Stube auf Arnold los und rief:
»Wollen Sie mich zum Besten haben, mein Herr?«
Sie blickte Arnold an, als sehe sie in ihm eine Person
von unergründlicher Falschheit. »Wissen Sie was,
gnädiger Herr? ich will einmal sagen und Sie sind
ehrlich. Was kommen Sie dann von mir zu erfahren,
was die Spatzen pfeifen auf allen Dächern? Ja! in
Podgorze ist Jutta, zwei Nonnen haben sie in der
Nacht herausgebracht aus dem Kloster im Wagen.
Und Elasser ist gegangen nach Podgorze und die Gendarmerie
dorten hat erwiesen, daß Jutta war im
Kloster. Aber sie haben gesagt, sie hätten keinen
Auftrag einzugreifen. Und Elasser ist gegangen zum
Bezirkshauptmann von Podgorze und der Bezirkshauptmann
ist gegangen zum Herrn Grafen Statthalter
und wie er zurückgekommen ist, war unsere
Jutta verschwunden aus Podgorze. Und Elasser ist
gegangen ins Kloster nach Binczice und ins Kloster
nach Morawice und ins Kloster nach Wolajustowska
und nach Wielowics und überall ist Jutta gewesen
und überall ist sie wieder fortgebracht worden und
überall hat die Behörde verweigert den schuldigen
Beistand, und kaum war der neue Aufenthalt von
unserm Kind bekannt, so war sie auch schon wo anders.
Und bloß in Kenty hat der Herr Bürgermeister geleistet
Beistand und ist vorgestern verhaftet worden
wegen Hausfriedensbruch. So, mein Herr! Wollen
Sie noch mehr wissen?«
Mit funkelnden Augen sah ihn das Weib an und
lachte, ohne daß sich ihr Mund öffnete. Was antwortest
du, Schuldiger? schien ihr Blick zu fragen.
Arnold senkte den Kopf und verließ langsam das Zimmer
und das Haus.
Zwölftes Kapitel
Die ganze Ebene lag im tiefen Schnee. Es war
sogar mühselig, nach Podolin zu kommen, aber
da Maxim Specht Arnold durch einen kleinen
Burschen hatte zum Besuch bitten lassen, folgte
er der Aufforderung, trotzdem es schon weit im
Nachmittag war. Als er in der Wohnung des
Lehrers ankam, war es schon dunkel. Specht saß
lesend am Tisch, und in einer Teekanne vor ihm
summte das Wasser. Das Stübchen war gemütlich;
der Lehrer trug einen großväterischen Schlafrock und
rauchte aus einer langen Pfeife. Die Tabakswolken
zogen langsam durch das Zimmerchen, nur über der
Lampe wurden sie in schnellen Wirbeln emporgerissen.
Als Neuigkeit erzählte Specht, seine Schreiberei
habe in der hauptstädtischen Redaktion solchen Beifall
gewonnen, daß man ihm eine Stellung bei dem
Blatt angetragen habe. Er werde auch nicht säumen;
noch vor Weihnachten gehe er nach Wien, obwohl sein
neues Amt erst im Januar beginne. Aber da sei
viel zu ordnen und er könne es vor Ungeduld in
Podolin nicht mehr aushalten. »Ich freue mich ja
wahnsinnig, lieber Freund! Endlich! Wenn Sie
wüßten, was in mir alles brodelt, was da drinnen
steckt! Nicht genug Hände hat man dort, und hier
sind zwei bald zu viel. Endlich werd’ ich atmen können!«
Arnold nickte. Niemals war ihm der Lehrer so
sympathisch gewesen, niemals auch hatte er so leicht
das Wesen eines andern begriffen. Atmen können!
Er betrachtete das Gesicht des Lehrers, das in peinlicher
Sauberkeit gehaltene Stübchen, die Bücher an
den Wänden und auf dem Tisch. Maxim Specht,
an das wortkarge Gehaben des Kumpans längst gewöhnt,
war der Gelegenheit froh, sich ausschwatzen
zu können. Er schenkte Tee ein; Arnold lehnte sich
auf dem Sessel zurück und starrte in die Luft. Auch
in ihm meldete sich höheres Leben. Das durch Gewohnheit
nahe trat zurück, und der Horizont wurde
beglüht von einem noch verborgenen Feuer.
»Sie müssen mir ein wenig auf Beate achten,«
sagte Specht, in Freudigkeit vor sich hinbrütend, und
ohne seine Worte sonderlich zu wägen. »Zwar ist
alles aus zwischen uns, aber was man geliebt hat,
soll man bewahren. Vielleicht gehen Sie hie und da
zu Hankas. Zu Ihnen hab ich ein, ich möchte sagen
übersinnliches Vertrauen. Jaja,« seufzte er, schlürfte
behaglich aus der Tasse und blickte nicht ohne Empfindsamkeit
in die Rauchwölkchen, »so geht die Liebe
hin und das Leben ergreift uns.«
Arnold griff nach einem der Bücher im Regal. Es
war ein Band von Gibbons Geschichte, welche den
Untergang des Römerreichs schildert.
»Sie hat jetzt ein Verhältnis mit dem Bauernknecht
auf dem Randomirschen Gut,« fuhr Maxim
Specht halb für sich fort, als vermöchte er sich von
diesem Gegenstand nicht zu trennen. »Traurig genug.
Mir tut nur der arme Hanka leid. Er hat sich ihrer
angenommen und glaubt nun, eine unverdorbene
Blume zu besitzen, ein unschuldiges Kind. Zum
Lachen!«
Arnold bat, Specht möge ihm die Geschichtsbücher
auf einige Tage borgen. Vor der Abreise solle er
sie wieder haben.
Das plötzliche Interesse für die Historie war kaum
mehr als Selbsttäuschung; ein Versuch, sich von seinem
Innern ab- und an ein Äußeres, Weltliches zu wenden.
Er hatte nach Schriften solcher Art früher nie gefragt.
Die Vergangenheit der Erde und ihrer Völker war
zwar bei ihm nicht Lernfutter gewesen, um abgelegene
Höhlen des Gedächtnisses zu stopfen, aber nie war
auch Lebendiges daraus hervorgegangen. Wie er
nun zu Hause sich in diese Darstellung des Falls
einer Nation vertiefte, gewahrte sein frischer Geist
mit einem unermeßlichen Erstaunen, wie die Führung
der menschlichen Angelegenheiten stets weit über
den persönlichen Willen hinausgerückt wird. Dadurch
erschien ihm zunächst alles als ein bodenloses
Märchen. Zorn und Gleichgültigkeit wechselten in
seinem Innern. Voll edlen Sträubens las er trotzdem
Seite für Seite, brachte jedem Ereignis eine
Fülle von Miterleben entgegen und lachte nicht selten
spöttisch und verächtlich, da manches ganz anders auslief,
als er es abgeschätzt hatte. Wie ebensoviele
Käfer, die dumm in der dunklen Rinne laufen, statt
den glatten, sonnenbeschienenen Weg zu wählen,
kamen ihm die Handelnden vor und die Leidenden
wie Mücken, die stumpf und trunken ins kleine Netz
sich verstricken, während rundum die Luft voll Freiheit
ist. Seltsam war seine Anteilnahme, seltsam,
wie er von dem längstentschwundenen Treiben längstvermoderter
Geschlechter für die Gegenwart Besitz
ergriff, wie er über Schicksalsmächte rücklebend verfügte,
mit brennendem Kopf den Zusammenhang
verlor und in wirrem Trotz sich anmaßte, an Stelle
eines jeden dieser Helden und Unhelden frei über
das Kommende bestimmen zu können. Indem das
in Zeit und Raum Entlegenste wie Nächste von seiner
Phantasie verschmolz, stieß er die neuen Bilder bald
voll Haß von sich und kehrte bald leidenschaftlich
suchend danach zurück.
Aber gleichwie in dünstevoller Atmosphäre sich ein
vielfarbiger Ring um jede Flamme bildet, so waren
jene Bewegungen nicht das eigentlich ihn Erfüllende,
sondern nur Ausstrahlungen. Er las, geriet in Zwiespalt
und Betrachtung, raffte sich auf, bekämpfte,
ordnete, überblickte, aber alles das hatte mit seiner
Lektüre gar nichts mehr zu tun.
Um seiner Bedrängnis einigermaßen Herr zu werden,
begann er wieder viel draußen herumzuwandern.
Dabei kam er eines Nachmittags zu einer kleinen
entlegenen Bauernschenke in der Nähe der sogenannten
Polen-Mühle. Er hielt Einkehr und ließ
sich ein Glas Wein geben. Zufällig fiel sein Blick
in ein von einer Talgkerze erhelltes Seitenzimmerchen
und dort sah er Beate, dicht und zärtlich an den
hünenhaften Knecht geschmiegt, mit dem sie auf dem
Jahrmarkt getanzt hatte. Arnold achtete nicht sonderlich
darauf. Er griff nach der Zeitung, die auf dem
Tisch lag. Es war der »Mährische Landbote«. Gleichgültig
las er, bis sein Blick auf eine telegraphische
Meldung fiel, des Inhalts, daß der Jude Elasser beim
Justizminister zur Audienz vorgelassen sei. Mehr
stand nicht darüber, aber dies befriedigte Arnold so
vollkommen, daß er munter pfeifend seinen Weg fortsetzte.
Vor dem Postamt auf dem Hauptplatz gewahrte
er Specht. »Wie geht es Ihnen?« fragte der Lehrer
mit so übertrieben liebevollem Tonfall, daß Arnold
ihn befremdet und mißtrauisch anblickte.
»Elasser ist beim Justizminister, – wissen Sie
schon?« sagte Arnold. Wie er so dastand, ein wenig
vorgebeugt, mit listig spähendem Blick, das erregte
Maxim Spechts Lachlust, und er erwiderte: »Spaß.
Schon längst gewesen.«
»Nun, und ist Jutta schon frei?« fragte Arnold.
»Frei? Meinen Sie wirklich frei?« Specht lachte,
aufs äußerste belustigt. Da er aber bemerkte, wie sich
in Arnolds Gesicht wieder jener Zorn sammelte, dessen
Äußerung er fürchtete, sagte er schnell: »Der Minister
hat sich sehr gut benommen, o ja. Er hat dem armen
Vater auf die Schulter geklopft, das tut ein Minister
in solchen Fällen stets, und hat ihn mit den Worten
entlassen: Fahren Sie ruhig nach Hause; das Kind
wird Ihnen zurückgegeben werden.«
Arnold nickte, als habe er nichts anderes erwartet.
Den Spott in dem Bericht des Lehrers begriff er
nicht.
»Sie scheinen ganz einverstanden zu sein,« fuhr
Specht munter fort, »aber nun weiter. Der Minister
beauftragt den Staatsanwalt, beim Landgericht die
Strafanzeige wegen Entführung zu erstatten. Er
verlangt ferner, daß ein gerichtlicher Auslieferungsbefehl
geschrieben und dem Kloster zugestellt wird.
Und was, meinen Sie, geschieht darauf? Die Ratskammer
des Landgerichts lehnt diese Anträge einfach
und rundweg ab.«
»Das wissen Sie doch noch nicht,« versetzte Arnold
unwillig. Er mißverstand Spechts lebendige Wiedererzählung,
durch welche die Zeitwörter in der Gegenwartsform
erschienen.
Maxim Spechts Mienen wurden feierlich. »Was
für ein Unglück für Sie, lieber Freund, daß Sie so
jung und unerfahren sind!« rief er aus und schlug
die Hände zusammen. »Allerdings hätte ich es vorher
nicht wissen können, denn so weit kann sich der frechste
Pessimismus nicht versteigen. Aber es ist geschehen,
ist schon geschehen.«
Arnold schwieg. Er schaute den Lehrer studierend
an, als mangle ihm in diesem Augenblick das Zutrauen
in dessen Worte. Besinnend zur Erde blickend,
schüttelte er den Kopf.
»Und noch etwas, lieber Freund, das ist noch nicht
alles,« fuhr Specht mit leiser Stimme fort und zog
Arnold ein wenig von den Häusern weg. »Der Advokat
Elassers wollte die Akten sehen, in denen dieser
Beschluß stand. Das erlaubt das Gesetz. Man sieht
aus den Akten die Begründung des Urteils. Denn
schließlich sollte doch jedermann wissen dürfen, warum
die Ratskammer das Verlangen des Justizministers
abschlägt. Und auch das ist nun verweigert worden,
auch das.« Specht suchte erregt in seiner Tasche,
nahm einen Zettel heraus, entfaltete ihn und sagte:
»Ich habe mir von dem Dekret eine Abschrift genommen.
Hören Sie.« Arnold trat dicht neben
Specht, so daß er beim dürftigen Schein einer Öllaterne
mitlesen konnte, was Specht murmelnd vorlas.
»An den Landesadvokaten Dr. Steinbacher.
Ohne die Frage zu entscheiden, ob Samuel Elasser
in dieser Angelegenheit als Privatbeteiligter anzusehen
sei –«
»Was heißt das?« unterbrach Arnold.
»Das? Das ist ein Schnörkel, den niemand auf
Gottes Welt verantworten kann. Es ist nämlich nicht
entschieden, heißt das, ob es den Elasser etwas angeht,
wenn ihm sein Kind gestohlen wird. Also
weiter ... anzusehen sei, wird die Einsichtnahme in
die Akten betreffs der Sache Jutta Elasser verweigert,
weil wichtige Gründe dem im Wege stehen. Das
Landesgericht in Strafsachen.« Specht faltete seinen
Zettel wieder zusammen.
»Wichtige Gründe?« fragte Arnold, der immer noch
nicht völlig glauben wollte und keiner Lüge auf
den Grund zu kommen fähig war. Fassungslos schaute
er dem Lehrer ins Gesicht und allmählich begriff er
selbst, daß diese wichtigen Gründe in den zwei Worten
bestanden, die sie vorgeben sollten.
»Nun spüren Sie den Atem unserer Welt,« sagte
Specht mit tiefer Bitterkeit. »Heute war ein Herr
von Gröden bei mir, Gerichtsadjunkt in Lomnitz. Er
sollte sich im Auftrag der Regierung über die Stimmung
unterrichten, die unter den Gutsbesitzern für
oder gegen diese ganze Geschichte herrscht. Ich habe
ihm ein Licht aufgesteckt, ich habe unter anderm auch
von Ihnen gesprochen. Aber glauben Sie denn, daß
das etwas nützen wird? Nicht einen Pfifferling. Die
großen Herren tun, was Sie wollen und der kleine
Jud mag sehen, wie er zu seinem Recht kommt. Wir
beide werden es nicht erleben.«
Arnold hörte das alles nicht. Er stand und schien
zu überlegen, welchen Weg er zu nehmen habe, um
nicht einem furchtbaren Gespenst in die Arme zu
laufen, das aus der Nacht emporstieg.
Langsam und ohne Gruß entfernte er sich von
Specht. Er hatte kaum ein paar Schritte zurückgelegt,
so holte ihn der Lehrer ein.
»Ich sage Ihnen Adieu, ich reise morgen früh,«
sagte Specht. »Ich möchte Sie um einen großen
Gefallen bitten,« fügte er mit unsicherer Stimme
hinzu, und zog ein braunes Kuvert aus der Manteltasche.
»Wollen Sie zu Hankas gehen und dies Beate
geben? Nur ihr selbst und wenn niemand sonst dabei
ist –? Wollen Sie das? Und grüßen Sie Agnes
Hanka noch besonders von mir.«
Arnold nickte und nahm das Ding in Empfang.
»Und nun, Liebster, leben Sie wohl,« sagte Specht,
indem er Arnold die Hand gab. »Sollte Sie das
Geschick einmal dorthin führen, dann wissen Sie, wo
Sie einen Freund haben. Leben Sie wohl, Arnold.
Von Ihnen scheide ich am schwersten.« Schnell
wandte er sich ab und ging.
Als Arnold nach Hause kam, entfiel dem offenen
Kuvert der Inhalt. Es war die Photographie Beates;
auf dem Bilde stand: Zur Erinnerung an den herrlichen
7. Oktober. Obwohl von ländlicher Unvollkommenheit,
war das Porträt doch ähnlich; das Gesicht
über dem nackten Hals und den halbentblößten
Schultern hatte einen unschuldigen und süßen Ausdruck.
Wie Sterne unter dunklen Torbogen, traten
die Augen unter den Linien der Brauen hervor.
Arnold konnte eine Empfindung der Geringschätzung
nicht unterdrücken, welche Maxim Specht galt, dem
so rachsüchtig offenen Kuvert und der Wichtigkeit, die
der Lehrer all diesem beimaß.
Seine angstvollen und heißen Gedanken waren
ganz wo anders, und er bemerkte gar nicht, daß die
Mutter, schweigsam und bleich auf dem niedrigen
Sofa liegend, dumpf vor sich hinstöhnte.
Elasser
Alexander Hanka hatte große Spielverluste erlitten.
Als er eines Sonntags mit Entschlossenheit
an eine Berechnung ging, erschrak er
vor der Schmälerung, welche sein Vermögen erlitten
hatte und vor dem Zeugnis, das sich wider
ihn selbst und die verbrachte Zeit erhob. Damit
verband sich die Galerie tausendmal gesehener
Gesichter, tausendmal passierter Gassen und Plätze,
tausendmal berührter Gegenstände, tausendmal gesprochener
gleichgültiger Worte, tausendmal gedachter,
kraftloser Gedanken. Jede Nacht, wenn er sich entkleidete,
träumte er von einem zu fassenden Entschluß;
irgend ein Geschehnis winkte in weiter Ferne. Am
andern Tag rollte er wieder auf den blanken Schienen
der Gewohnheit durch dieselben Stationen wie am
Tag vorher.
Unwillkürlich begannen seine Gedanken sich zu erheben
und flatterten aus der Stadt wie Schmetterlinge,
die ihre Raupenhülle verlassen. Die Einsamkeit
einer Wüste dünkte ihm erträglich gegenüber der
Einsamkeit in dem Häusermeer. Im Geiste sah er
sich wieder in dem mährischen Örtchen, und sein Herz
schuf sich Landschaften von eigenwilliger Art: langgestreckte
Hügel, mit Nadelwald bestanden; ein trauriger
glatter Fluß, der zu müde schien, um zu fließen;
zwischen dunklen Wiesen eine lange, schmale Landstraße
wie ein gelbes Band; tiefe, stille Gräben, mit
Heckenrosen angefüllt; nüchterne, schattenlose, geräuschlose
Dörfer.
Er erinnerte sich freilich, daß es längst Winter war,
auch dort draußen. Dennoch behaupteten jene Bilder
ihren Reiz, als hätte seine Ahnung sie unter der
Schneedecke zu verschönen vermocht. So reiste er,
ohne Agnes zu benachrichtigen, denn er liebte nicht
Mienen, die zum Empfang vorbereitet waren. Unzufriedenheit
bemächtigte sich seiner während der
Fahrt. Ihm schien, eine innere Macht wolle ihn
warnen oder zurückhalten. Die fremden Gesichter
um ihn her, welche Langeweile, Neugierde und Sattgegessenheit
verrieten, erbitterten ihn. Ein kleiner
Mensch mit einer seltsam zugestutzten Kakadufrisur
sprach unablässig über die Mehlbörse. Niemand hörte
zu, niemand antwortete, so daß seine Reden dem
lästigen Gesummse einer Biene glich. Voller Verdruß
suchte sich Hanka durch die Betrachtung der
schneeblauen Landschaft zu zerstreuen, dann zog er
schon gelesene Briefe aus der Tasche und las sie
wieder. Einer belustigte ihn, der in dem neckisch-empfindsamen
Ton der großen Welt gehalten war,
eigentlich keinen Inhalt hatte, aber vieles bestocherte
wie mit einer Nadel. Hanka schmunzelte und sah
seine Freundin leibhaftig vor sich stehen, die zierliche,
kleine, ruhelose Natalie.
Agnes wurde bleich, als die lange Gestalt ihres
Bruders unter der Küchentüre auftauchte. Mit zitterndem
Arm griff sie nach der Lampe, um zu sehen,
ob er es denn wirklich sei. Hanka lachte, riß seine
schwarzen, stumpfblickigen Augen auf und starrte mit
komischer Schwärmerei den Apfelkuchen an, der neben
dem Herde lag. Jetzt lachte auch Agnes, als sie ihn
so fand, wie sie wünschte und mit seiner Ankunft nicht
den Gedanken eines Unheils zu verbinden brauchte.
Auch Beate kam; Hanka war betroffen durch ihren
Anblick. Sie war blaß; ihre Bewegungen waren verhaltener,
wenn sich auch in einem Achselzucken oder
einem Lachen wie sonst ein bäurischer Zug zeigte.
Aber in wenigen Wochen schien sie gereift und abgeschliffen.
Ihr Lächeln war prüfend, ihre Art, sich
umzudrehen, den Kopf zu erheben, mit einem Ruck
eine lauschende Stellung anzunehmen, war, obwohl
rasch und temperamentvoll, so doch frauenhaft. Sie
hatte etwas Besonderes angenommen, so kam es
Hanka vor; eine Prägung, die sie von allen andern
auf den ersten Blick unterschied. Er blieb den Abend
über schweigsam, doch galt es schon nach der ersten
Stunde für ausgemacht, daß er einige Wochen bleiben
würde. Er brauche Ruhe, sagte er. Agnes freute sich
auf ihre schüchterne Weise in sich hinein; Hanka wurde
aufmerksam durch Beates eigentümliches Benehmen.
Sie erhob sich oftmals vom Tisch und ging auf und
ab, suchte ihr Gesicht zu verbergen, sich den Anschein
einer Gleichgültigen zu geben, doch zitterte sie vor
Unruhe und Ungeduld. Bisher war sie allabendlich
um diese Stunde entwischt. Agnes ging sonst früh
zu Bett und die Mahlzeit war kurz. Nun sollte sie
warten; auf dem Herd wurde noch gekocht und bis
gegessen war, mochte es spät werden. Sie wollte
nicht unvorsichtig sein und ging umher, Wut und Haß
im Innern, brennend vor Begierde, einen Plan nach
dem andern erwägend und im Geist durch Schnee
und Kälte zur Scheune des Randomirschen Gutes
eilend. Klugheit und Rücksicht entschwanden mit dem
Vorschreiten der Stunde; langsam verließ sie das Zimmer,
als könne sie auch ebensogut bleiben und ein verwilderter
Ausdruck trat in ihrem Gesicht hervor, als
sie draußen hastig Kapuze und Mantel umlegte. Sie
lief an den Ort der Zusammenkunft, um Aufschub zu
erbitten, durch eine flüchtige Liebkosung Sicherheit zu
geben, denn Furcht bewegte sie noch mehr als Liebe.
Hanka war ihre Abwesenheit nicht unerwünscht.
Argwohn lag weit von ihm; eher vermutete er etwas
für Beate Günstiges und für ihn selbst Angenehmes.
Im Grunde sah er das, was er aus ihr hatte machen
wollen, nicht das, was sie geworden war durch sein
geringes Hinzutun. Er gedachte sich ihr gegenüber
wie ein Vater, wenn nicht wie ein Großvater zu betragen,
ihn täuschte die dörfliche Ruhe und trübte
sein sonst so vorsichtiges Urteil. Er hatte das Bedürfnis,
mit Agnes von Beate zu sprechen. So
dehnte er sich behaglich auf dem Sofa aus, (er war
so lang, daß seine Beine von den Waden an außerhalb
des Möbels in freier Luft schwebten) und bat
Agnes, sich neben ihn zu setzen.
Agnes bekannte, sie wisse eigentlich nichts über
Beate. So gütig auch ihre Äußerungen waren, und
so sehr sie in Ton und Wort jede Richterlichkeit ablehnte,
aus allem war doch deutlich, daß sie und das
junge Mädchen niemals aneinander warm geworden
waren. Nichts Böses war Agnes bekannt, aber auch
nichts, was ihr weiches und mit Nachsicht verschwenderisches
Herz gefangen hätte. Mit froher Bereitwilligkeit
hatte sie damals Alexanders Willen getan,
und das Mädchen bei sich aufgenommen, selbst gefesselt
und entzückt durch eine so zukunftsvolle Handlung.
In Frieden hatte sie mit Beate gelebt, doch
nicht in jener Freundschaft, die oft so glühend zwischen
Frauen entsteht, deren gemeinsame Wünsche sich in
einem dritten Wesen vereinigen. Es war, als sei das
Kind aus einer fremden, stolzen Rasse, zur Sklavin
geworden, aber unbeugsam in der Seele und im Verborgenen
auf einstige Befreiung und Macht hoffend.
Ihre Vergnügungslust sei nicht zu bändigen, sagte
Agnes, oft scheine sie still und ein wenig tückisch, oft
ausgelassen und fast roh; auch lüge sie gern. Aber
bei alledem ließe sich gut mit ihr hausen; sie füge
sich schnell und wer weiß, vielleicht rumore nur die
düstere Kindheit noch in ihr. Zu spät vielleicht sei
sie in das Licht des Lebens getreten, als daß man
die Dunkelheit, aus der sie gekommen, vergessen dürfe.
Alexander Hanka lauschte und freute sich einer
Offenheit, die ihm Agnes und, wunderlich, auch Beate
näher brachte. Er war weniger für das Tugendhafte,
als für das, was Charakter gibt, und er konnte in der
Verletzung üblicher Moralsätze etwas Lebenförderndes
sehen. Und wie die sanfte Stimme seiner Schwester
über alles hinweghuschte, das Eckige glättend, das Übel
begütigend, erschien ihm Beate geschmückt mit den
Zeichen der Persönlichkeit; ihr herbes Gebahren nahm
er hin; er beschloß, es an Verständnis nicht fehlen zu
lassen.
Als der Tisch gedeckt war, begann Agnes das junge
Mädchen zu vermissen. Sie fragte die Magd, aber
da trat Beate schon ein, mit derselben nachlässigen
Langsamkeit, mit der sie gegangen war und mit einer
Miene, als hätte sie ein Taschentuch im Nebenzimmer
geholt.
Hanka verbrachte die Hälfte der Nacht mit unruhvollen
Gedanken. Zärtliche Regungen lagen ihm fern.
Aber es war, als ob zukünftige Tage ihn lockten, und
so verkroch er sich in Betrachtungen. Früh am Morgen
machte er sich schon zu einem Spaziergang auf, denn
er wollte einsam sein; nicht um zu beschließen, sondern
um Erwägungen und Entschlüssen zu entgehen,
die zu Hause blieben, wo Beate war.
Agnes war auf den Wochenmarkt nach Podolin gegangen.
Beate saß allein im Zimmer und vertrieb
sich die Zeit, indem sie mit einer Schablone Stickmuster
auf Linnen malte. Da klopfte es an der Türe
und Arnold trat ein. Er grüßte, nahm unbefangen
ihr gegenüber Platz und als er sich überzeugt hatte,
daß sie allein sei, übergab er ihr das Kuvert mit der
Photographie, wie er es von Specht empfangen. Sie
nahm es, starrte schweigend auf das Bild, blickte Arnold
an und verzog finster und verächtlich Brauen und
Mund. Dann stand sie auf, zerriß ihr Porträt und
warf die Stücke in den Ofen, vor den sie sich nun mit
gespreizten Beinen stellte und unverschämten Tones
fragte: »Sind Sie vielleicht deshalb gekommen?«
Arnold bejahte.
»Zu viel Umstände,« spottete Beate.
»Ich finde auch, daß er zu viel Umstände mit
Ihnen macht,« entgegnete Arnold trocken.
Beate trat zwei Schritte vor, erblaßte und ihr Blick
irrte furchtsam von Tür zu Tür. Sie bekam Angst
vor der Ruhe und Sicherheit ihres Gastes und wußte
sich nicht zu erklären, warum er immer noch blieb.
Sie legte den Arm über die Augen und stellte sich,
als ob sie weinen wollte. Arnold sagte endlich: »Kommt
Frau Hanka bald? Ich soll sie von Maxim Specht
grüßen. Er hat nicht Zeit gehabt zu einem Besuch.«
Arnold faßte sehr wörtlich auf, was ihm bestellt war.
Aus diesen Worten und aus dem harmlosen, fragenden
Blick, der sie begleitete, sah Beate, wie überflüssig
ihre Befürchtungen seien. Ihr Selbstgefühl wuchs
wieder; sie lachte spöttisch, wandte sich um, das Zimmer
zu verlassen und sagte unter der Schwelle: »Auf
Wiedersehen.« Damit schlug sie die Türe zu.
Arnold wartete nicht gerade, weil ihm der Auftrag
zum Gruß so wichtig erschienen wäre; aber er
vergaß nach wenigen Minuten, daß er sich in einem
fremden Haus befand. Das plötzliche Alleinsein ließ
unveränderliche Gedanken aufs neue emporstürmen.
Außerdem begann die drückende Stimmung des eigenen
Zuhause von ihm zu weichen. Er hatte zusammen
mit dem Doktor das Haus verlassen, der allerlei bedenkliche
Redensarten über Frau Ansorges Krankheit
gemacht hatte.
Während er noch versunken war, trat Alexander
Hanka mit seinem ausholenden Schritt herein, nach
seiner Gewohnheit spannweit die Tür öffnend. Er
machte große Augen, als er einen unbekannten Menschen
im Zimmer erblickte. Er verbeugte sich in seiner
steifen Art und nannte seinen Namen, bemerkte aber
zugleich, daß diese gesellschaftliche Form hier nicht angebracht
war. Arnold sah verwundert zu ihm empor,
denn ein so langer und magerer Mensch war ihm
noch nicht vorgekommen. Hanka, nicht weniger verwundert,
fing an zu lachen, geriet jedoch in Verlegenheit,
als er den Fremden ohne Verlegenheit sah.
Arnold erhob sich, und als er das fragende, fast zu
einer fragenden Grimasse verzogene Gesicht Hankas
ansah, begriff er, daß es sich um seinen Namen handelte,
nannte ihn also und fügte hinzu, daß er eine
Bestellung von dem Lehrer Specht auszurichten habe,
der gestern abgereist sei.
Hanka erinnerte sich an Arnolds Namen wohl. So
gleichgültig er damals auf Beates und Spechts Erzählung
gelauscht hatte, etwas war in seinem Bewußtsein
geblieben. Hanka hatte Vergnügen an diesem
offenen, derben, gebräunten Gesicht, an der kräftigen,
trockenen Stirn, die unbeweglich zwischen klar-grauen
Augen und braunen glatten Haaren lag, an der gutgebauten
Gestalt, die nichts von Verfettung und
Krankhaftigkeit zeigte.
Vierzehntes Kapitel
Hanka fragte, und Arnold gab förmlich gehorsam
Antworten. Hanka befremdete ihn. Sein natürlicher
Scharfblick erfaßte sofort die merkwürdige
Mischung von Gutmütigkeit und Trauer, von Ironie
und Langeweile in dessen Wesen. »Welche Beschäftigung
haben Sie denn?« fragte er.
»Keine,« versetzte Hanka, »ich tue nichts.«
»Gar nichts?«
»Ich betrachte.« Hanka hatte seinen Stock in der
Hand behalten und klopfte damit, weit vorgebeugt
sitzend, auf den Boden.
»Haben Sie denn nichts gelernt?« fragte Arnold
erstaunt.
Hanka lachte laut. »O ja«, antwortete er. »Ich
habe die Juristerei erlernt, aber eben deshalb mach
ich keinen Gebrauch davon.«
Diese Antwort gab Arnold sehr zu denken. Aber
ehe er etwas dagegensagen konnte, kam Agnes ins
Zimmer. Arnold richtete seinen Auftrag aus und
schickte sich an zu gehen. Agnes war erfreut, ihn zu
sehen und dankbar für den Gruß des Lehrers. »Ein
reizender Mann,« sagte sie von Specht. »Vielleicht
kommen Sie, Herr Ansorge, nun recht oft zu uns.«
Sie sprach laut, schüttelte die Hand Arnolds und ihre
Augen strahlten mild. Arnold fühlte das beunruhigte
Wesen von sich weichen und Sympathie strömte auf
ihn ein. Beate, die nach Agnes gekommen war,
schnitt eine Fratze; als sie aber Hankas Blick auf sich
ruhen fühlte, betrachtete sie Arnold mit wohlwollendem
Lächeln.
Arnold verabschiedete sich. Zuhause angekommen,
fand er auf dem Tisch ein katholisches Flugblatt über
den Raub der Jüdin. Darin wurden öffentliche
Ideale und der Name Gottes angerufen, aber die
Wahrheit stand dabei und steckte die Hände in die
Taschen. Arnold überlief es heiß und kalt. Seine
Zuversicht begann zu schwinden. Darüber vergaß er
die Mutter, wie er denn ihre Krankheit nicht ernst
nahm, und keine Furcht deswegen empfand, hauptsächlich,
weil Frau Ansorge ohne Äußerung eines
Schmerzes lag.
Doch in der Nacht erwachte Arnold durch ein fortgesetztes
tiefes Aufstöhnen. Mit Schrecken entdeckte
er, von welchem Mund die Laute kamen. Da war
es mit der Ruhe aus. Er bat den Doktor um Aufschluß.
Es sei mit den Nieren nicht in Ordnung, erwiderte
der Mann unsicher und er halte es für gut,
einen Spezialisten kommen zu lassen. Arnold ging
mit sich zu Rate, schrieb und telegraphierte zugleich
dem Oheim Borromeo, damit das Notwendige rasch
geschehe. Als er die Depesche aufgegeben hatte, schritt
er langsam den Hauptplatz hinunter, bis dahin, wo
die Straße gegen die Elassersche Wohnung abbog.
Zu jeder Zeit des Tages und der Nacht, in jedem
Augenblick des Besinnens sah er dort Menschen um
ihr Recht kämpfen, und sein ganzes Wesen lechzte
nach Entscheidung.
An der Ecke des Platzes stand Uravar. Trotz der
Kälte waren seine Ärmel hoch aufgestreift. Mit bedeutsamem
Grinsen starrte er Arnold an und verfolgte
ihn mit den stets wie in Trunkenheit glänzenden
Augen.
In dem Häuschen des Juden herrschte vollkommene
Stille. Die Tür nach dem Wohnzimmer war geschlossen.
Arnold pochte, aber niemand antwortete.
Er drückte auf die Klinke, öffnete, spähte durch den
Spalt und sah einen Knaben an dem runden Tisch
sitzen, den Kopf zwischen den Händen, in ein Buch
vertieft. Er trat ein, der Knabe, (der etwa dreizehn
Jahre alt war, nach Jutta das älteste Kind) blickte
erschrocken empor, erkannte wohl Arnold von früher,
getraute aber nicht, sich zu rühren. Arnold fragte,
ob niemand zu Hause sei und blieb an der Türe
stehen, um den Knaben nicht einzuschüchtern. Niemand,
erwiderte der Bursche und die Augen in dem
blatternarbigen Gesicht zeigten Trotz. Der Vater sei
in der Stadt, fuhr er auf eine weitere Frage mit
langsamem Tonfall fort, die Mutter gehe in Geschäften
über Land, die andern Kinder seien beim
Rabbiner in Lomnitz. »Wie heißt du?« fragte Arnold.
Moses, war die Antwort. Arnold näherte sich
dem Tisch, blickte flüchtig in das Buch und nahm dem
Knaben gegenüber auf einem Holzschemel Platz. »Und
Jutta?« fragte er mit heiserer Stimme, »wird sie denn
nicht wiederkommen?«
»Der Herr fragt –!« erwiderte Moses ironisch und
mit dem Bestreben, ein gutes Deutsch zu sprechen.
»Wiederkommen! Eher wird Wachs zu Eisen.«
Arnold schaute den Knaben verblüfft an. Sonderbar
war es ihm zumute, er fühlte sich schuldig. Langsam
stand er auf und trat zum Fenster. Er hörte ein
vielfältiges Gemurmel von draußen, öffnete den winzigen
Flügel und sah oben an der Ecke zwanzig bis
dreißig Menschen beisammenstehen. Gleichgültig schloß
er das Fenster wieder und blickte nachdenklich auf den
Knaben, der böse vor sich hinstarrte. Als er aus dem
Haus trat, erblickte er am oberen Ausgang der Gasse
noch immer die Ansammlung von Menschen; es
schienen mehr als vorher zu sein, auch Weiber und
Kinder hatten sich hinzugesellt und ein verworrener
Lärm herrschte. In der kurzen Gasse selber stand
keiner, sondern diese war förmlich abgesperrt. In
breiter Reihe warteten die Leute. Je näher Arnold
kam, je mehr Gesichter wandten sich ihm durch gemeinsame
Aufmerksamkeit zu und endlich öffnete sich
eine schmale Gasse, damit er hindurchgehen könne.
Aber das sah mehr einer feindlichen Handlung als
einer Höflichkeit ähnlich. Uravar stand in der Mitte
eines Haufens gleich der Feder einer Uhr, welche,
kaum wahrnehmbar, dennoch die Bewegung regelt.
Arnold war weit entfernt, zu denken, daß diese Zusammenrottung
ihm gelten könne. Schweigen legte
sich um die Masse. Blöde, neugierige, tückische Gesichter
stierten ihn an, und unwillkürlich blieb Arnold
stehen. Vor ihm öffnete sich eine Art Bucht, in deren
Mitte er den neuen Pfarrer gewahrte. Der geistliche
Herr hatte die Arme verschränkt und den Kopf steif
emporgerichtet. Es war ein mächtiger Kopf, groß
wie der eines Ochsen, mit an der Seite abstehenden
Haaren. Die grünen Pupillen hinter der Brille
flackerten komisch aufgeregt. In dem Augenblick erhob
sich eine dünne, scharfe Stimme gegen Arnold:
»Judenknecht!« und das Gemurmel fing wieder an,
dunkler und gährender.
Mit stummem Zorn blickte Arnold um sich, furchtlos
forschte er nach dem Rufer und in seiner Nähe
kuschten die Murmler. Ruhig setzte er dann seinen
Weg fort, aber er fühlte sich stärker und als ein
Schauer durchrann ihn die Vorahnung von Kampf.
Frau Ansorge verbrachte eine schlimme Nacht. Arnold,
der um neun Uhr das Lager aufgesucht hatte,
fuhr um Mitternacht aus dem Schlaf und wachte bis
zum Morgen an Ursulas Seite. Die Kranke sprach
nicht; wenn sie die Augen aufschlug, lächelte sie gezwungen;
dann kamen Stunden, in denen sie unaufhörlich
stöhnte und sich auf der niedrigen Matratze
wälzte. Ursula murmelte Gebete aus einem Buch,
Arnold saß mit gesenktem Kopf, die Augen bald
gegen das Licht, bald gegen die Finsternis gewandt.
Gegen zehn Uhr morgens kam der Doktor, um den
Arzt aus Wien zu erwarten, der mit dem Frühschnellzug
eintreffen mußte. Von der Station aus
war noch ein tüchtiges Stück Weg, aber schon kurz
nach elf kam eine Landkutsche mit zwei Insassen angefahren.
Arnold trat in den Hof, die Herren zu
begrüßen. Den Bruder der Mutter erkannte er sofort,
obwohl er ihn seit den Kinderjahren nicht
gesehen hatte. Borromeo reichte seinem Neffen
die Hand, betrachtete ihn mit einem kühl-kritischen
Blick, stellte den Arzt vor, einen eleganten, noch
jungen Mann und alle drei gingen zum Krankenbett.
Frau Ansorge hatte kaum ihren Bruder und
den Fremden erblickt, so schien es, als schüttle sie
Fieber und Fieberbilder mit gewaltiger Anstrengung
von sich ab. Ihre Erinnerung erhielt hundert Brücken.
Als sie Friedrich zum letztenmal gesehen hatte, war
all ihr früheres Leben und Fühlen ins Herz getroffen
worden. Die dazwischenliegenden Jahre stürzten zusammen,
und die Schmerzen in denen sie jetzt gefangen
war, verbanden sich mit jenen halbvergessenen.
Die Begrüßung war kurz und ohne Worte. Doktor
Borromeo winkte Arnold und Ursula, das Zimmer
zu verlassen. Die beiden Ärzte blieben allein. Arnold
führte seinen Oheim in ein wenig benutztes
Zimmer hinter der Küche. Da standen uralte Möbel,
auf welchen die Zeit gleich einem Gespenst lag. Borromeo
hüllte sich frierend in seinen Pelz und schritt mit
wiegendem, müdem Gang auf und ab. Dieselbe
Müdigkeit drückte sich in seinen Gebärden wie in
seinem Mienenspiel aus, sie lag in den hingeworfenen
Worten, die er sprach, in seinem Lächeln, in
seiner Stimme. Kinn und Mund waren durch einen
schwarzen Bart verdeckt, der förmlich steifgebügelt
aussah und eine ungemein sorgfältige Pflege verriet.
Die obere Hälfte des Gesichtes zeigte frauenhaft weiche
Linien.
»Was hast du eigentlich für deine Zukunft vor,
Arnold?« fragte er, in seiner Wanderung innehaltend,
mit einem langsamen und sinnenden Tonfall.
Arnold war überrascht und schaute zaudernd vor
sich hin. Aus einem unklaren Grund empfand er
ein ebenso unklares Mitgefühl mit dem Mann. »Ich
weiß nicht. Ich will leben«, sagte er trocken.
Borromeo fuhr mit der flachen Hand behutsam
an seinem Bart herab, kaum die Haare berührend,
als fürchtete er sie zu zerzausen. »Und hältst du
das für so leicht?« erwiderte er sanft und traurig.
Arnold lachte. »Ist es denn schwer?« fragte er
verwundert. »Hast du denn so schlechte Erfahrungen
gemacht?« Er saß rittlings auf einem Stuhl und
drückte das Kinn auf die Lehne.
»Ich glaube, es ist nicht möglich, andere zu machen«,
antwortete Borromeo mit einem Lächeln, welches ein
vernichtendes Erbarmen mit dem Frager zeigte. Arnold
wurde aus diesem wunderlichen Wesen durchaus
nicht klug. Borromeo zeigte eine Einfachheit, die bis
zur Hölzernheit ging, und eine ängstliche Sucht, unauffällig
zu sein. Die Gesichtszüge des etwa Fünfundvierzigjährigen
hatten einen greisenhaft stillen
Ausdruck, die Augen starrten, als könnten sie in der
Luft beobachten, was in der Seele selbst vorging.
Trotzdem war bisweilen ein Aufleuchten im Blick,
als gäbe es über gewisse tröstliche Dinge keinen
Zweifel.
Fünfzehntes Kapitel
Die Ärzte ließen wenig Hoffnung; die Dauer des
Leidens war nicht abzusehen. So reiste Borromeo
wieder ab, denn ihn riefen Geschäfte. Arnold
gab das Versprechen, ihm sofort zu schreiben, wenn
es schlechter gehen sollte. Außerdem wurde der Landarzt
von dem jungen Spezialisten genau unterrichtet,
wann eine Operation stattfinden könne; dann erst
werde er wiederkommen.
Frau Ansorge ahnte, was ihr bevorstand. Ihre
ganze Kraft nahm sie vor Arnold zusammen. Nicht
um ihn zu schonen, verbarg sie ihre Schmerzen und
nicht um als Heldin in seinen Augen zu gewinnen,
sondern weil sie sich vor seinem Urteil fürchtete. So
völlig hatte das Verhältnis eine Umkehrung erfahren,
daß sie, die Unterwerferin und Lehrerin, nun schülerhaft
von dem Bilde abhing, das sie im Innern des
Sohnes von sich selbst geschaffen hatte, daß sie sein
Mitleid mit Recht scheute und mit einer ungeheuren
Überwindung ihr Bewußtsein abzog von ihren körperlichen
Qualen. Nicht den träumerischen Weichling
wollte sie, der im Mitgefühl erst seine Neigung entdeckt.
Das gesunde Herz ist hart, sagte sie sich. So
litt sie in sich hinein, um den Himmel seiner Zukunft
rein zu wissen und sich darin zu bewahren als eine
Art von kühler Göttin.
Mit Borromeo hatte sie wegen des Besitzstandes
gesprochen. Da das Kapital unberührt lag und die
Zinsen stets wieder dazugeschlagen worden waren,
weil die kleine Ökonomie sich allmählich selbst erhalten
hatte, war Arnold Herr eines ganz beträchtlichen
Vermögens. Man gab ihm einen Überblick
und sprach mit ihm über die Anlage des Geldes, aber
er schien sich nicht sonderlich dafür zu interessieren.
Er wurde von Tag zu Tag schweigsamer und in
sich gekehrter. Wenn er ins Dorf kam, bemerkte er
feindselige Gesichter, einen unentschlossenen, abwartenden
Haß. Was ist los? dachte er; wohin ich sehe,
alle nehmen für das Unrecht Partei. Warum? warum
nicht für das Recht?
Eines Nachmittags ging er aus und marschierte
lange Zeit am Flußufer hin und her. Das Wetter
schien sich zu verändern. Regen wich der Kälte. Träg
und dick rollte das Wasser des Flusses hin, rotgelb
von Sand und Schlamm. Naßkalte Windstöße schlugen
dem Wanderer in Gesicht und Nacken, und als er sich
endlich entschloß nach Podolin zu gehen, war er bis
über die Knie mit Kot bespritzt. Auf dem Platz des
Dorfes standen einige Leute in Gruppen und disputierten
eifrig. An den Häuserecken waren riesenhafte
Plakate angeklebt; Weiber und Kinder buchstabierten
daran herum und schrien durcheinander.
Es war von einer Wahlversammlung die Rede. Das
Glück des Volkes, das Ende der Armut wurde prophezeit,
und als Quelle alles Unheils wurden die Juden
genannt.
Aus der Kirche kam eine Prozession und füllte
beim Schulhaus die Mitte der Straße. Als Arnold
zur Seite wich, entstand hinter ihm ein drohendes
Raunen, das sich vom schreienden Gebeteleiern jäh
unterschied. Er drehte sich um und erblickte Elasser,
der von der Lomnitzer Straße hereingekommen war,
den schweren Hausierpack auf dem Rücken. Ein
Schlossergeselle namens Pavlicek eilte sofort auf den
Juden los und schleuderte mit einer kurzen Armbewegung
den Schlapphut vom Kopfe des Wehrlosen,
und der Hut flog im weiten Bogen auf die
Schwelle eines Haustors. Das zornige Murmeln
nahm einen beifälligen Charakter an. Elasser blieb
stehen, machte mit den Lippen eine fletschende Bewegung,
blickte scheu auf dem Boden umher, als erwarte
er, daß der Hut von selbst wieder zu ihm käme,
da er doch keine Hand frei hatte, ihn zu holen. Er
schickte sich an, seinen Pack auf die Erde zu stellen
und lächelte dabei sklavisch, wie um den Umstehern
zu zeigen, daß er eigentlich nichts übelnehme, sondern
daß es nur beschwerlich für ihn sei. Arnolds Gesicht
errötete und seine Augen verdunkelten sich vor Verachtung.
Das Maß der Unbill schien ihm über und
über gefüllt. Er warf den Kopf zurück, stieß einen
gurgelnden Schrei aus, wie wenn in der nächsten
Sekunde alles in ihm zur Besinnungslosigkeit zusammenstürzen
würde und rieb die Zähne aneinander,
indem er die Lippen nach oben und nach
unten entfernte. Der Schneider Wittek, ein Deutscher,
stand in seiner Nähe und glotzte. Arnold wollte
auf ihn zu, um ihn mitten in den Haufen der andern
zu schleudern. Ein wenig Schaum trat vor seinen
Mund, aber plötzlich war es, als ob sich ein überirdischer
Mittler vor ihm erhöbe, dessen unsichtbarer
Mund weise und stolz zum bessern rief. Liegt denn
das Recht in deiner Stärke? schien eine Stimme zu
fragen. Triffst du das wahre Unrecht mit den Schlägen
deiner Faust? Sei anders als sie! überzeuge sie!
Überrascht und finster waren die Leute vor ihm
zurückgewichen. Er wandte sich ab, ging bis zum
Haustor über die Straße, hob den davongeflogenen
Hut auf und setzte ihn dem Elasser auf den Kopf.
Dabei begegnete er dem geschlagenen Blick des Juden,
der sich wieder mit demselben knechtischen Lächeln an
die Zuschauer wandte und sich dann langsam entfernte.
Auch Arnold ging. Kaum war er ein paar Schritte
weiter gelangt, als ihm ein apfelgroßer Stein über
die Schulter am Ohr vorbeiflog. Verwundert kehrte
er sich um, denn es wunderte ihn, daß einer dies
wagte. Ein alter Mann senkte die schon erhobene
Hand, die einen zweiten Stein hielt.
Die Dämmerung war eingebrochen und nahm rasch
zu. Arnold blieb stehen und dachte nach. Fast mechanisch
schritt er dann in die Gasse hinein, wo Elasser
wohnte. Er trat an das Fenster des Erdgeschosses
und warf einen Blick in die niedrige Stube. Die
Kinder hockten aufmerksam um den Tisch. Frau
Elasser und ein fremder kleiner Mann standen betend
vor einem andern, weißgedeckten Tischchen, auf welchem
auch Kerzen brannten. Der eben eintretende
Elasser ließ seinen Pack sinken und die Betenden
gingen auf ihn zu. Auch die Kinder erhoben sich
von ihren Plätzen, und der Knabe, mit welchem
Arnold schon Bekanntschaft geschlossen hatte, sagte
etwas mit lauter Stimme, aber die Worte blieben
unverständlich. Der Fremde, dessen Gesicht zutraulich
und nachsichtig aussah, nickte. Er war etwa siebzig
Jahre alt, war bartlos und hatte einen fast belustigend
kleinen Kopf.
Arnold legte die Hand vor die Augen. Er befand
sich jetzt wie auf einem Ruhepunkt über den Geschehnissen.
Es war, als ob sich die Bilder greifbar in die
Finsternis zwischen Hand und Auge zwängten. Er
sah Jutta, widerrechtlich leidend und diese dort im
Haus, widerrechtlich zögernd, feig aller Vernunft zum
Spott. Ging der Spruch auf so langsamen Füßen?
Wo war der, dessen Amt es war, Gerechtigkeit zu
üben? Geschah deshalb nicht, was hätte geschehen
können, weil niemand die Hand erhob und den Mund
öffnete? Warum saßen sie dort in ihren Zimmern
und duckten sich, ließen Unrecht an sich herabrinnen
wie Wasser? Hatten sie denn vergessen? Ihm
brannte jede Stunde ein tieferes Mahnzeichen ein,
er konnte nicht vergessen.
Oder gibt es überhaupt keine Gerechtigkeit? dachte
er schaudernd. Ist das alles Unsinn oder Einbildung?
Er lehnte den Kopf zurück und schaute empor, um
ein Stück des Himmels und seiner Sterne zu suchen.
Denn es war indessen Nacht geworden. Der Mond
stieg zwischen den Häusern herauf.
Dann blickte er, sich vorsichtig am Rand des Fensters
haltend, von neuem in das Zimmer. Elasser saß an
dem kleinen, gedeckten Tisch, während die andern an
dem runden Tisch das Abendessen nahmen. Arnold
sah, daß der Fremde einige Male hinüberging, aber
Elasser, den Bart in der Faust zerknüllend, schüttelte
stets den Kopf. Die Frau saß starr und in sich gekehrt.
Als die Kinder sich in die anstoßende Kammer
zur Nachtruhe begeben hatten, legte sie den Säugling
an ihre magere Brust und schaute düster sinnend
ins Licht der Lampe. Zwischen dem fremden Mann
und Elasser entstand ein Wortwechsel, und murmelnde
Laute drangen zu Arnolds Ohr; aber der Fremde
reichte bald darauf der Frau die Hand und wollte
sich auch von Elasser verabschieden, dieser schickte sich
jedoch an, den Gast zu begleiten. Die Haustüre
kreischte und die zwei Männer traten auf die Schwelle.
Beide machten eine Gebärde des Schreckens, als sie
an der Mauer, wunderlich dunkel inmitten eines vom
Mond gebildeten Lichtdreiecks einen Menschen stehen
sahen. Arnold ging auf die beiden zu und fragte
sogleich: »Was ist also geschehen? Kommt Jutta
zurück?«
Ein langes Schweigen entstand. Elasser blickte
Arnold verwundert und immer mehr verwundert ins
Gesicht. Endlich sagte er zu seinem Begleiter, dessen
Züge die Gewohnheit des Wohlwollens und der Milde
verrieten: »Das ist der Herr von Ansorge, ders so
gut meint mit uns.«
Der Alte ließ sein Köpfchen hin und her pendeln,
das trotz seiner Kleinheit den Schultern eine zu
schwere Last war.
»Wie steht es also?« fragte Arnold ungeduldig.
»Es steht schlecht,« sagte Elasser. »Keine Hand
bewegt sich. Es werden Erhebungen angestellt, heißts,
und mich haben sie herumgehetzt wie einen Hund, und
ich soll warten. Nun, ich wart, wir warten lang genug,
is es gefällig? In vier Wochen wird Jutta vierzehn
Jahr alt und dann ist keine Hoffnung mehr.«
»Es ist in der Schrift geschrieben,« mahnte der
Fremde, »man soll das Unrecht sich ergießen lassen
ganz.«
»Eine schöne Schrift!« rief Arnold empört. »Wartet
ihr darauf, bis man euch den Kopf abschlägt?«
Elasser machte eine weitausholende Bewegung mit
den Armen. »Herr,« antwortete er, »Sie kommen
mir wahrlich vor wie jener Jud, der nicht hat lernen
wollen Deutsch, weil er hat geglaubt, die ganze Welt
ist jüdisch. Die Welt ist nicht jüdisch, gnädiger Herr.
Das Recht ist für Sie und nicht für uns.«
Langsam waren die drei gegen das Flußufer gegangen.
Arnold stieß mit dem Fuß einen Stein ins
Wasser und heftig bewegt sagte er: »Aber wie könnt
ihr ruhig dastehen, Leute, und schwätzen, immer
schwätzen! Es ist ja die niederträchtigste Teufelei,
wenn ihr euch nicht rührt um eure Sachen. Mein
Recht ist euer Recht, und euer Recht ist Kaisers Recht.
Da ist nicht daran zu tifteln. Die Gerechtigkeit ist
für alle.«
»Der Herr ist in einem großen Irrtum,« erwiderte
Elasser finster. »Das Recht ist da; auch die Richter
sind da; gleichfalls die Bücher, worein alles steht geschrieben.
Aber die Gerechtigkeit? Die ist nicht da.«
Verächtlich spuckte Arnold auf die Erde und entgegnete
mit äußerster Feindseligkeit: »Lügner und
Faulenzer seid ihr.«
Der fremde alte Mann stand mit gesenktem Kopf.
Die Weltanschauung der Geduld, die ihm Nieren und
Hirn geformt hatte, geriet plötzlich in einen geheimnisvollen
Aufruhr. In seinen langen Lebensjahren hatte
er genug gesehen an Vergewaltigung des Rechts, an
blutigen Wunden, welche die Unschuld trug, an tyrannischem
Übereinkommen der Mächtigen, um in einem
eingebildeten Rächer den letzten Trost zu finden. Nun
ging ein Blitz über ihm nieder und zündete in seiner
Brust, deren Empfindungen schon versteinert schienen.
Nicht Arnolds Worte hatten das vermocht. Was
waren ihm Worte! Auch das Unglück des ihm blutsverwandten
Elasser nicht, obwohl dies böswillige Hinziehen,
dies tückische Verbergen, dieser eingestandene
Raub, dies Schauspiel öffentlicher Schmach und Feigheit
auch Gleichgültige erregt hatte. Das Neue kam
von Arnold her. Berauschend strömte der wilde
Idealismus auf ihn ein, befeuerte ihn, und er gedachte
seiner eigenen unerfüllten Jugend. »Ja,
Samuel,« sagte er mit veränderter Stimme, »du
mußt deine Pflicht erfüllen. Wir wollen vor den
Kaiser hintreten. Gern will ich das Geld, was du
brauchst, hergeben, denn es ist zum guten Zweck. Es
ist uns schon gesagt worden, daß wir können eine
Audienz bekommen und Seine Majestät wird uns
anhören.«
»Er wird richten,« sagte Arnold befriedigt.
»Ich will nicht sagen, er wird,« antwortete der
Alte mit feinem Lächeln, »aber es kann sein. Reisen
wir also nach Wien, Samuel.«
Elasser starrte bewegt vor sich hin. Während die
beiden Alten sich noch beredeten, kniete Arnold am
Flußufer nieder, nahm die Mütze ab, legte die Binde
beiseite, die seinen Hals umschloß, stülpte die Ärmel
bis an die Ellenbogen auf und wusch sich das Gesicht
mit dem eiskalten Wasser. Darauf wurde ihm wohl
und kühl.
Sechzehntes Kapitel
Die nachgesuchte, durch einflußreiche Personen
unterstützte Audienz des Juden Elasser beim
Monarchen wurde genehmigt. Eine jener Zeitungen,
welche die öffentliche Meinung beherrschen,
schrieb, daß die Angelegenheit, welche solange
das Staunen und die Beunruhigung aller Redlichdenkenden
verursacht habe, nun endlich vor eine Instanz
gelangt sei, bei der es kein Zaudern und keinen
Umweg gebe.
Von den Einzelheiten der Audienz wurde wenig
bekannt. Der Monarch geruhte, die ihm überreichte
Bittschrift aufmerksam durchzulesen und richtete dann
an den unglücklichen Vater, der schluchzend vor ihm
kniete, die verheißungsvollen Worte: »Ich werde
neue Weisungen an die Behörden geben, damit sie
ihre Pflicht und Schuldigkeit tun.« In der Tat wurden
schon zwei Stunden nach der Audienz Befehle
solcher Art erlassen.
Aber Tag auf Tag verging ohne Botschaft und
Erfolg. Als Elasser erfuhr, daß Jutta im Kloster
bei Tarnobrzeg gesehen worden sei, wandte er sich
telegraphisch an den Bezirksrichter, doch dieser wies
ihn an denselben Staatsanwalt, der schon früher jeden
Antrag abgelehnt hatte. Elasser ging zum Ministerpräsidenten,
welcher auf seine Bitte um Schutz erwiderte:
»Sie verdienen es, das gebührt Ihnen.«
Es geschah nichts. Elasser wandte sich an den Justizminister
und erhielt die Versicherung, daß von der
Statthalterei alles aufgeboten werden würde, um den
Aufenthaltsort des Mädchens zu ermitteln. Es solle
alles aufgeboten werden, um dem Vater seine Tochter
vor dem 10. Februar wiederzugeben, an welchem
Tag sie das religionsmündige Alter erreicht haben
würde. Elasser wartete. Das Leutebereden, In-Vorzimmern-Hocken,
Bitten, Sichverbeugen, Erklären
nahm kein Ende. Man schüttelte den Kopf, gab Ratschläge,
war bedenklich, zerstreut, ergriffen, beschäftigt,
ängstlich oder von frecher Deutlichkeit. Die Zeit
ging hin. Ein anderer Skandal erweckte die Aufmerksamkeit
der Menge. Elasser sagte sich, Jutta sei
tot. Ihn zog es nach Hause. Er hatte sich müdgegangen,
müdgeredet, müdgebettelt, müdgehofft. Am
letzten Tage faßte er sich noch einmal zu einem letzten
Gang zusammen; es gelang ihm, den Minister für
Galizien zu ungewohnter Stunde zu sprechen. In
drangvoll verhaltener Wildheit stellte er eine letzte
Frage, um dann für immer zu erschlaffen. Die würdige
alte Exzellenz, menschlich erschüttert, verlor den
öffentlichen Tonfall und sagte die denkwürdigen Worte
»An den Mauern des Klosters hat unsre Macht ein Ende.«
Das war am 5. Februar.
Mitte Januar gelangte die Kunde von dem gnädigen
Versprechen des Kaisers nach Podolin und zu
Arnold. Er hatte etwas andres kaum erwartet. Seit
dem Gespräch mit Elasser hatte eine gleichmäßige
Ruhe und Zuversicht von ihm Besitz genommen.
Als er die Nachricht vernommen hatte, kam ein
ungestümer Drang nach körperlicher Tätigkeit über
Arnold. Er nahm Besen und Schaufel zur Hand,
ging in den Hof und begann, einen Weg in den fußhohen
Schnee zu schaufeln. Eine Stunde lang arbeitete
er, ohne auszusetzen. Die Luft war rein und
es war sehr kalt. Arnold, in Schweiß gebadet, blickte
empor, als am Zaun eine herrische Baßstimme erschallte.
Den Schirm aufgespannt, von den hohen
Stulpenstiefeln den Schnee stampfend, stand der
Pfarrer dort. Arnold trat näher. Der geistliche
Herr fragte nach Frau Ansorge. »Die Mutter ist
krank,« erwiderte Arnold etwas verwundert. Desto
mehr Grund für den Seelsorger, sie zu besuchen, war
die herrische Antwort.
Arnold überlegte und schritt dann dem Pfarrer
voran. Frau Ansorge wandte den Eintretenden langsam
das Gesicht zu. Der Geistliche nahm Platz, schaute
die Kranke fest an, erkundigte sich nach ihrem Befinden,
und als Frau Ansorge zur Erwiderung gleichgültig
und unbestimmt die Lider senkte, befeuchtete
er die Lippen mit der Zunge und sagte: »Warum
kommt der junge Ansorge weder in die Kirche noch
zur Beichte? Haben Sie Ihren Sohn nicht in der
Furcht und Anbetung des dreieinigen Gottes erzogen?
Ich warte schon lange auf ihn, aber er macht
mein Harren zuschanden. Böse Umtriebe stecken in
ihm, mit den Gottlosen ist er im Bund. Darum bin
ich hier und frage: haben Sie Ihre Pflicht als Mutter
erfüllt, liebe Frau?«
Nachdem er diese Worte in psalmodierendem Tonfall
gesprochen, schwieg der Pfarrer und beleckte wieder
die Lippen. Er hielt jeden möglichen Einwand für
zermalmt, und mit Zufriedenheit betrachtete er seine
auf den Knien liegenden gefalteten Hände.
Frau Ansorge hob den Kopf mit großer Mühe
etwas empor und erwiderte mit ihrer von Krankheit
gebrochenen Stimme: »Bemühen Sie sich nicht,
Hochwürden. Wir brauchen keinen Vermittler zwischen
uns und dem Himmel.«
Erschrocken schnellte der Geistliche von seinem Stuhl
auf.
Frau Ansorge seufzte. Mit glanzlosen Augen blickte
sie umher. Es war, als gehorche der Mund nicht
mehr. Sie erhob abwehrend den Arm, wie um den
Pfarrer zu verhindern, daß er sich bloßstelle.
Der geistliche Herr empfand etwas wie Furcht.
Jetzt klopfte es an der Türe; der Doktor trat ein
und begrüßte den Pfarrer mit jener Höflichkeit und
halben Kollegialität, die eine wohltätige Gewöhnlichkeitsluft
verbreitete. Der Geistliche murmelte ein
paar Worte und verließ unruhigen Gesichts das Zimmer.
Ursula stellte sich neben den Doktor an das Bett.
Arnold beobachtete vom Fenster aus, daß die Kranke
schneller und vernehmlicher atmete als sonst. Der
Doktor flüsterte Ursula etwas zu, worauf diese hinausging
und nach einigen Minuten einen mit Eis
gefüllten Kübel zurückbrachte. Dann kam der Doktor
zu Arnold, legte ihm die Hand auf die Schulter und
sagte, jetzt sei die Zeit zu einem operativen Eingriff
gekommen. Arnold rüstete sich, um auf das Telegraphenamt
zu gehen, aber der Doktor meinte, das
werde er selbst übernehmen. Arnold schickte sich nun
an, Friedrich Borromeo zu benachrichtigen; es drängte
ihn hinaus, schon allein deshalb, um nach seiner Art
im Vorwärtsschreiten Herr der Besorgnisse zu werden.
Als er über den Marktplatz des Dorfes ging, sah er
Beate aus der Kirche kommen; sie schaute unbeweglich
vor sich hin und ihr Gesicht war weiß unter der
Pelzkappe, vielleicht vom Widerschein des Schnees.
Arnold widmete ihr nur flüchtige Aufmerksamkeit;
eine Sekunde lang erschienen ihm der Pfarrer, die
Kirche und Beate zusammen im Bunde zu stehn gegen
das Leben der Mutter. Die grob voraussagende Miene
des Doktors hatte seine Verachtung erregt und ihn
zugleich vorbereitet. Er war nicht geschaffen, in der
Dämmerung zu hoffen und zu fürchten; um ihn
mußte es licht, das Drohende mußte beleuchtet sein.
Das Schicksal der Mutter lag viel greifbarer vor ihm
als das Schicksal Elassers und seiner Tochter, bis zu
dem Augenblick, wo er von dem Versprechen des Kaisers
Kunde erhalten hatte. Wie es auch mit der
Mutter gehen mochte, dies nahe Unglück war begrenzt;
es konnte mit einem Worte bezeichnet werden,
mit zweien: Krankheit, Tod. So rücksichtslos
trotz wachsender Angst vermochte er seinem Gefühle
Klarheit abzupressen über das, was ihn selbst betraf,
was sein eigenes und seines Eigentums Schicksal war.
Dort aber hatte er nichts gefunden als eine unaussprechliche
Bedrängnis. Der Grund war ihm verborgen.
Ein gleichgültiger Jude, seine gleichgültige
Tochter, ein gleichgültiges Kloster, ein fremdes Leiden,
umflutet von einem Gewirr fremder Stimmen,
was hatte ihn dabei gequält?
Als er zu Hause ankam, war Frau Ansorge nicht
mehr bei Bewußtsein.
Siebzehntes Kapitel
Der Wiener Professor (samt einem Assistenten)
und Friedrich Borromeo trafen auch diesmal
zusammen ein. Die Operation wurde eine Stunde
darauf vorgenommen. Arnold und sein Oheim
befanden sich in demselben Zimmer wie neulich, jedoch
in vollkommenem Schweigen. Wieder hatte
sich Doktor Borromeo in seinen Pelz gehüllt, wieder
schritt er mit seinem wiegenden, müden Gang
auf und ab. Ein eigenes, morsches, bitteres, geduldiges
Lächeln verzog bisweilen seinen Mund. Draußen
war das ärgste Wetter, Sturm und Schneetreiben.
Arnold konnte nicht anders, als beständig den leise
knarrenden, uhrenhaft regelmäßigen Tritten Borromeos
zu lauschen. Ohne daß er es recht wußte,
wirkte die Gegenwart dieses Mannes lähmend auf
ihn. Nun erschien der Assistent unter der Türe. Er
trocknete mit einem Tuch die Hände; die weiße Schürze
war mit Blut bespritzt. Sein Gesicht zeigte die Helligkeit
eines siegreichen Kämpfers, als er sagte: »Alles
steht gut.« Arnold ging dem jungen Mann entgegen
und drückte seine noch feuchte Hand. Auch der Professor
kam zum Vorschein und begnügte sich, mit
emporgezogenen Brauen seine Befriedigung bemerkbar
zu machen. Ursula, deren Gesicht noch in Tränen
gebadet war, hantierte übereifrig umher. Knechte
und Mägde standen im Flur und der Wind sauste
durch die Spalten der geschlossenen Türe.
Arnold fühlte sich unheimlich. Auf einmal wußte
er, als er die flüsternden Stimmen der fremden
Männer vernahm, daß die Mutter sterben müsse.
Er wollte in das Krankenzimmer, doch dies wurde
ihm verwehrt. So verließ er das Haus, trieb sich
zwei Stunden lang im Sturm umher, und ein nagender
Schmerz ergriff ihn, während er an die Ärzte
und an Borromeo wie an Gespenster dachte. Er
stieß einen Schrei aus und rannte gegen den Hof
zurück, bisweilen einknickend im Schnee, später seine
tiefen Fußstapfen von vorhin benutzend. Er stürzte
in das Zimmer der Kranken, trat ans Bett, umschlang
sie mit den Armen und lachte halb triumphierend,
halb vorwurfsvoll, als er sie lebend, wachend erblickte,
freilich weiß wie die Leinwand, auf der sie ruhte.
Frau Ansorge, erstaunt und müde, legte beide Hände
auf seinen Kopf. Sein Ungestüm gab ihr zu denken.
Der Abend rückte schon heran, und das Wetter
hatte sich ein wenig gebessert, da erschien Alexander
Hanka. Er war förmlich versteckt in seinem Winterpelz,
aber trotzdem war es zu verwundern, daß Hanka
an solchem Tag eine Wanderung über die kaum gangbaren
Straßen gewagt, um sich nach Frau Ansorges
Befinden zu erkundigen. Er war auch frischer und
belebter als sonst, schon in der Art, wie er Arnold
die Hand reichte. Doktor Borromeo trat zu ihnen
in das abseits liegende Zimmer. Es erwies sich, daß
Hanka und Borromeo schon irgendwo einmal Bekanntschaft
geschlossen hatten, und es blieb nur zu
ergründen, wo. Arnold erstaunte, wie zwei anscheinend
so ernste Männer sich spielerisch an ein Erraten
und Suchen begaben, oberflächliche Erinnerungen betasteten
und dabei nicht das mindeste von Belang zu
sagen wußten. Am seltsamsten war das beziehungs-
und ortlose dieser in gleichmäßigem Ton geführten
Unterhaltung; vergessen war Frau Ansorge, vergessen
das Haus und die Schatten, die es bedeckten, vergessen
schließlich der, zu dem gesprochen wurde und
jeder von beiden schien sich selber, sich allein dumpf
und mechanisch anzureden. Arnold war schließlich
froh, daß er mit Hanka allein blieb, da sein Oheim
sich zur Wiederabreise vorbereiten mußte. Auch der
Professor reiste; der Assistent blieb noch einen Tag,
um eine schon gemietete Pflegerin aus Wien abzuwarten.
»Wie geht es Ihnen also?« fragte Hanka mit seiner
tiefen Stimme, als er Arnold gegenübersaß. Er
schlug ein Bein lässig über das andere und strich mit
der Hand über das Knie. In seinen Augen lag etwas,
das diese inhaltslose Frage vergessen machte. »Hoffentlich
ist Frau Ansorge bald wieder gesund. Es soll ja
nun Aussicht sein, wie?«
Arnold nickte. Was für ein Mensch, dachte er; ihn
verwunderten die Worte Hankas, aber dennoch zog
ihn irgend etwas an. Hanka seinerseits streifte den
jungen Mann mit einem forschenden Blick und senkte
dann rasch den Kopf. »Wollen Sie nicht einmal zu
mir herüberkommen, wenn Sie sich langweilen?«
fragte er mit offenbarer Anstrengung, ein überbrückendes
Wort zu finden.
»Wenn ich mich langweile?« fragte Arnold. »Warum
soll ich mich langweilen?« Er saß vorgebeugt,
warf aber mit einem Ruck den Kopf in den Nacken
und schaute Hanka nachdenklich an.
»Beneidenswerter,« murmelte Hanka und suchte
nach einem andern Gesprächsstoff. »Was macht
Herr Specht?« fragte er zögernd. »Hören Sie von
ihm?«
Arnold schwieg. Für ihn war der Name Specht
schon etwas Fernes und Unwirkliches.
»Er soll sich sehr mit diesem jüdischen Mädchenraub
befaßt haben,« fuhr Hanka fort, von Arnolds
Schweigen sonderbar berührt. »Aber was ist nun
aus der Geschichte eigentlich geworden? Diese unglückliche
Affäre macht ihre Verteidiger und ihre Ankläger
zuschanden.«
»Der Kaiser hat entschieden«, antwortete Arnold
mit einer leichten Beunruhigung, die wie ein Hauch
über seine Mienen zog.
»Von einer Entscheidung weiß ich nichts«, bemerkte
Hanka kopfschüttelnd. »Was könnte der Kaiser auch
hier entscheiden. Ich weiß ja nicht, möglich ist alles.«
Arnold lächelte besserwissend und erhob sich.
Hankas Gesicht war ermüdet. Es war, als hätte
Nüchternheit seinen vorher so frischen Blick gebrochen.
Er verabschiedete sich kälter und fremder, als er gekommen
war.
Am Abend saß Arnold neben der Matratze der
Mutter. Sie dachte an die Liebkosung, die er ihr
vor Stunden erwiesen hatte und beantwortete sie
jetzt im Geist. Während Ursula am Lagerende ihren
Strumpf strickte und der junge Assistent lesend bei
der Lampe saß, schaute sie Arnold mit unverwandten
Blicken an. In ihren Adern fühlte sie den Tod, aber
ihm suchte sie, als wohne eine übermächtige Kraft
der Beeinflussung in ihr, den Glauben zu geben, daß
neues Leben für sie anbreche. Und Arnold, auch er
kannte den Pfad, auf dem sie hoffnungslos schritt,
und in seinem Gesicht war die Lüge der Hoffnung.
So saßen sie beisammen und täuschten sich.
Die fremde Pflegerin war gekommen, hatte ihre
Anweisungen erhalten, und der Assistenzarzt war abgereist.
Arnold ging zu Elassers. Die Frau zeigte ihm
einen mit kaum leserlichen Buchstaben hingeschmierten
Brief, den Jutta aus dem Kloster Tarnobrzeg geschrieben.
Es war ihr gelungen, das Papier einer
Händlerin zuzustecken und diese hatte ihn gebracht.
Der Brief war ein Notschrei.
Von Elasser hörte man nichts.
Als Arnold nach Hause kam und sich ans Bett der
Mutter begab, verlangte sie, man solle das Fenster
öffnen, und sie blickte nun schräg hinauf gegen den
von flockigen Wolkengebilden bedeckten Tauwetterhimmel.
Heute war es, als schlösse sie sich stärker
als seit vielen Jahren an das Leben an, als sei die
Luft um sie her verdünnt und sie vermöchte weit
hinter sich in einem wunderbaren Kranz von Ursache
und Wirkung den Lauf ihrer Tage zu verfolgen.
Deshalb strahlten ihre Züge plötzlich Güte aus, und
Arnold schien sich aufgefordert zu reden. Aber was
sollte er sagen? Ich nehme teil an einem fremden
Schicksal? Irgend etwas hat mich mit hundert
Krallen ergriffen, wovon ich nicht Rechenschaft zu
geben vermag? Wie hätte er dies zu sagen vermocht?
Wie hätte er seine Unruhe zu schildern vermocht,
seine Bangnis um irgendwelche Nachricht,
um Klarheit, sein immer wieder erstickter Zorn, sein
grüblerisches Horchen? Plötzlich ergriff die Mutter
seine Hand, als habe sie seine wachsende Drangsal
verstanden. »Es gibt ein Wort in der Bibel, das
mußt du dir merken, Arnold,« sagte sie. Es heißt:
»Wer reiner Hände ist, mehrt die Kraft.« Die Kranke
wandte sich ab. Auf ihren Augenwimpern lag Todesschatten.
Als die Pflegerin das Fenster leise schloß,
seufzte sie tief.
Achtzehntes Kapitel
Am nächsten Morgen, die Luft war voller Taudünste
und der Wind wehte von Süden, trat
Arnold pfeifend auf den Hof. Da sah er am Zaun
die Gestalt Elassers. Arnold erschrak. Langsam
ging er näher. Elasser berührte den Schlapphut,
machte einen halb widerwilligen, halb gewohnheitsmäßigen
Knix und indem er auf seinen Huckepack
deutete, fragte er: »Braucht die Frau Mutter nichts?«
»Schon zurück, Elasser?« fragte Arnold mit stockendem
Herzen dagegen.
Der Jude nickte. »Heut in der Nacht«, sagte er.
Sein Blick wurde finster und er blies, um sie zu erwärmen,
in die eine freie Hand.
»Und Jutta?« fragte Arnold von neuem, als vermöchte
dies eine Wort alle übrigen zu ersetzen.
Elasser zuckte die Achseln. »Sie haben mir gesagt,
der Herr Minister hat mir gesagt, wollen Sie wissen,
was? Er hat mir gesagt, so wahr Gott lebt, der
mir mein Leben verbittert, er hat gesagt: An den
Mauern des Klosters hat unsere Macht ein Ende.
Das hat er zu mir gesagt, Herr.« Mit Besorgnis
und Furcht sah Elasser auf Arnold, der leichenblaß
geworden war; der Mund war geöffnet, die Nase
war ganz weiß, die Lippen zitterten, in den Mundwinkeln
war Feuchtigkeit.
Der Jude duckte den Kopf und wollte sich zum
Gehen wenden. Arnold trat neben ihn hin, wodurch
er ihn aufhielt. Er legte die Hand schwer auf die
Schulter des Hausierers und wiederholte nun mit
einer unbeschreiblichen Langsamkeit und einem entstellenden
Gesichtsausdruck: »An den Mauern des
Klosters – hat es ein Ende?«
Elasser vermochte nichts zu erwidern.
»Das ist gesagt worden?« fuhr Arnold in derselben
versteinerten Weise fort. Indessen fühlte er es in
sich zittern und schaudern, sein Herz schien brennend
und sein Kopf kalt; auch vor den Augen lag Kälte.
»Jaja,« nickte Elasser. Er war betrübt, aber auch
kühl und willenlos.
Ohne den Hausierer weiter zu beachten, wandte
sich Arnold ab. Seine Schritte wurden schneller,
dann wieder langsamer, dann wieder schneller. Ohne
zu wissen wie, erreichte er den Wald, warf sich auf
den nassen Boden und legte Stirn und Augen auf
die flache Hand. In der Fülle des unerträglichen,
schmerzlichen Zorns biß er die Zähne ins Moos;
Tannennadeln gerieten ihm an den Gaumen, und
sein Zahnfleisch blutete. Ihm war bitter auf der
Zunge, im Gehirn, im Hals, in den Augen, im
Herzen. Ja sogar die Muskeln seiner Arme krampften
sich zusammen vor Bitterkeit. Er stand wieder
auf und wanderte fast laufend weiter. Sein Anzug,
sein Gesicht waren mit Kot und Schnee bedeckt.
Ist es möglich? dachte er und empfand wieder das
schreckliche Zittern. Er sah Gesichter vor sich, die er
noch nie gesehen. Sie hatten einen ernsten, grämlichen,
harten und gleichgültigen Ausdruck. Gleichgültig
war ihnen das, was geschah und ihre trüben
Augen sahen leblos aus wie Muscheln. Ein Bach
floß über den Weg. Auch im Wasser wimmelten
Gesichter, ja, Vorgänge voll Bosheit. Er kam zu
einem Bauernhof, es war weit weg von Podolin.
Während er aus dem Gehölz trat, sah er, wie ein
Knecht eine weiße Katze beim Schwanz hielt und
heftig mit einem Prügel auf das Tier einhieb. Schon
zeigte sich Blut. Arnold lachte atemlos; er sprang
hinüber (der Straßengraben lag dazwischen), packte
den Knecht bei den Hüften, warf ihn nieder, schlug
mit der Faust in das bärtige Gesicht und schüttelte
den Mann voll Raserei, bis ein tiefes Aufatmen seine
Brust von einem schweren Druck frei machte. Der
Knecht brüllte, aber niemand eilte ihm zu Hilfe, der
Hof lag verödet. »Still«, sagte Arnold, indem er
den Mann bei den Haaren ergriff. Er ließ ab. Der
Knecht erhob sich langsam auf ein Knie; er machte
eine Bewegung der Wut, aber dann blieb er tückisch
gebückt an seinem Platz.
Arnold entfernte sich, ohne daß der Gezüchtigte sich
rührte. Er konnte nicht verweilen. In seinen Füßen
steckte Ungeduld; seine Schläfen waren heiß wie von
Weingenuß. Eile, eile, schienen die Steine zu rufen.
Eile! mahnten die Wolken. Eile! sauste der Wind.
Frech kam ihm sein Zögern vor, denn er erschien sich
beleidigt, maßlos übervorteilt. Alle schienen zu leiden,
die unsichtbar ihm nahelegten, zu eilen. Ach
welch ein Zorn ergriff ihn immer wieder mit neuer
Gewalt! Wenn er stillstand, um aufzuatmen, war es
schon ein Frevel, und jede Pore seiner Haut war zum
selbständig hörenden Ohr geworden.
Ist es eine Welt? dachte er; wo leb’ ich denn? was
geschieht denn? Ist es erlaubt? Und neuerdings
riefen die Steine, das Wasser, die Luft, die Wolken:
eile! Er fürchtete zu spät zu kommen. Der Erste,
dem er sagen würde, was vorgefallen, mußte ja
niederfallen, von Schande erdrückt und Zähneknirschen
mußte seinen Mund für jede Speise verschließen.
Sieh doch an, was geschehen ist, wollte er ihm erzählen.
Aber dessen bedurfte es gar nicht, wozu erzählen?
Ein Hinweis, ein Satz und es war genug.
Keiner würde seine Stimme ruhen lassen, ein Geschrei
würde kommen, alle würden schreien: Gerechtigkeit!
Gerechtigkeit! sonst ist es nicht möglich zu leben. Arnold,
würde die Mutter sagen, geh’ hin und ruhe nicht,
denn sie können sonst nicht leben.
Alle hatten geschlafen wie er selbst; in ihren Gesichtern
lag der Schlummer: Hanka, der Pfarrer,
Specht, Beate, Ursula, Borromeo, die Knechte, die
Podolinschen Leute. Er war froh, seinen Arm zu
fühlen, seine Kräfte zu spüren, seine Jugend und die
Genugtuung, den Schlaf von sich entfernt zu haben.
Dann werden sie herankommen und lächeln und sie
werden sagen; weshalb hast du nicht früher, Arnold
Ansorge, dich eingefunden? Nun will ich wachsam
sein, erwiderte er ihnen und begann zu lächeln, indem
sein Gesicht sich mit Röte bedeckte. Und er lächelte
den ganzen Weg nach Hause und als er ins Zimmer
trat, sah er Ursula weinend an der Türe stehen, auch
die Pflegerin weinte, und oben am Lager der Mutter
stand unbeweglich der Pfarrer.
Arnold ging langsam näher. Sie ist tot, dachte er;
weder Schrecken, noch Trauer ergriff ihn. Lächelnd
faßte er die Hand der Gestorbenen mit einem Ausdruck
des Versprechens, einem Ausdruck der Ruhe.
Als Ursula ihn ansah, schrie sie laut auf und lief aus
dem Zimmer. »Sie ist tot,« sagte der geistliche Herr
mit scharfer Stimme. Arnold nickte lächelnd zu ihm
auf.
Der Pfarrer wich zurück, steckte sein Buch in die
Tasche, murmelte vor sich hin, sah sich murmelnd um
und verließ das Zimmer. Die Pflegerin riß mit
eiligen Gebärden ihren Mantel von der Wand und
folgte dem Pfarrer. Als es still um Arnold war,
begann wieder das formlose Wallen in seiner Seele.
Er wanderte in dem engen Zimmer auf und ab.
Türe und Fenster waren weit geöffnet, keine Menschenseele
war nah, alle hatten sich entfernt und geflüchtet
wie vor einem bösen Geist. Die Dämmerung
war schon gekommen; der Himmel, reingefegt
von Wolken, färbte sich langsam vom aufsteigenden
Mond. Die Lüfte und Winde ruhten. Eine Magd,
dieselbe die im Flur gestanden war und geweint
hatte, schlich am Fenster vorbei, während die Gärtnersfrau
und Ursula von fern lauschten. Als die
Spionin Arnold mit sich selber sprechen hörte, glaubte
sie, er führe eine Unterhaltung mit der Toten und
schwindelnd vor Schrecken lief sie davon. Ursula hatte
schon am Morgen dem Doktor Borromeo Nachricht
gegeben; Arnolds Ausbleiben hatte sie zu selbständiger
Handlung getrieben, jede Stunde erwartete sie
Erlösung von ihrer Angst.
Neunzehntes Kapitel
Der Mond beschien den Leichnam, der schon
seit dem Mittag gewaschen und hergerichtet
war. Ursula und die Pflegerin saßen im Gärtnerhaus;
auch die Pflegerin wartete auf die Ankunft
Borromeos und auf ihre Entlohnung. Spät
abends nahm Ursula vier Kerzen, die sie im Dorf
gekauft, überschritt Garten und Hof, trat ins Sterbezimmer
und sah Arnold am Fenster sitzen, zwanglos
angelehnt, die Arme leicht über die Brust verschränkt.
Ursula schaffte vier Leuchter herbei, und bald brannten
die Kerzen an den vier Enden des Lagers. Arnold
sah ruhig zu und ließ sie gewähren, auch dann,
als sie, auf einem Schemel hockend, sich anschickte, die
Nacht bei der Herrin zu verbringen. Nach kurzer Zeit
begann sie indes zu schlafen.
Viele Stunden waren vorbei, es mochte gegen vier
Uhr morgens sein, als das Rädergerassel eines Wagens
laut wurde. Ursula erwachte, sprang empor, ein Gebet
flüsternd, und als sie fertig war, trat Friedrich Borromeo
ein. Zum drittenmal seit wenig Monaten; er
war schon vorbereitet auf den Anblick einer Toten.
Trotzdem, als er am Bett der Schwester stand, schluchzte
er trocken vor sich hin.
Arnold, den die Dunkelheit ohnedies verborgen
hatte, verließ zartsinnig das Zimmer. Der Mond
stand tief und gelbrot am Himmel. Nebel zogen
über die Ebene. Nicht lange vermochte er draußen
zu bleiben. Er ging zu Ursula, die in der Küche
Kaffee kochte und bat, ihm im Lauf des Vormittags
seine Wäsche und was sonst zur Reise und langen
Abwesenheit nötig, zu richten und einzupacken. Vor
Erstaunen vermochte sich die Alte nicht zu rühren.
Borromeo folgte Arnold alsbald. Er reichte ihm
die Hand und wandte dann in geheimnisvoller Verlegenheit
und Ablenkung die Augen wie Arnold gegen
das flackernde Herdfeuer. Das Schweigen wurde
durch Ursula unterbrochen. Auf Arnold zugehend,
fragte sie heftig: »Zum Begräbnis wirst du doch
bleiben? Packen, was soll das heißen? Wo hinaus
denn so geschwind?«
Borromeo hörte betroffen zu. Nach einer Pause
fragte er sanft: »Meint sie dich, Arnold? Willst du
denn fort?«
Mit einer beredten und lebhaften Gebärde sagte
Arnold: »Ja. Ich will fort. Muß fort. Bald, sobald
wie möglich. Gleich nach dem Begräbnis. Man
muß einen Verwalter mieten.«
»Willst du mir das nicht erklären?« fragte Borromeo
matt.
Beide Männer gingen in die anstoßende Kammer.
Borromeo schritt voran und trug das Petroleumlämpchen.
Wieder hatte ihn jene düstere Verlegenheit
erfaßt.
»Zuerst will ich wissen, wie viel Geld ich besitze,
dann das andere«, begann Arnold.
Borromeo senkte die Augen. Seine Stirn bedeckte
sich mit Unmut. »Du hast ungefähr siebenhundertsiebzigtausend
Gulden in sehr guten Wertpapieren,«
entgegnete er kalt. »Die Verzinsung ist nicht übermäßig
hoch, aber die Anlage ist sicher. Ich darf dich
vielleicht darauf aufmerksam machen,« fuhr er mit
bureaukratischer Gelassenheit fort, »daß ich bis zu
deinem vierundzwanzigsten Lebensjahr dein Vormund
bin und nach unsern Gesetzen ist es mir nicht
nur gestattet, sondern ich bin auch verpflichtet, deine
Schritte zu überwachen und dein Vermögen zu verwalten.«
Arnolds Gesicht wurde dunkelrot. »Kannst du mich
abhalten zu tun, was ich muß?« fragte er.
Wie unerquicklich, dachte Borromeo. Er glaubte
sich auf Kampf gefaßt machen zu sollen. Das erbitterte
ihn. »Was hast du vor?« fragte er gedehnt
und widerwillig.
»Die Sache ist die,« begann Arnold. »Elasser, der
Jude, bekommt seine Tochter nicht. Sie haben sie
ins Kloster gesteckt, das wirst du wissen. Er hat alles
mögliche schon versucht und kann nicht zu seinem Recht
kommen. Das ist doch schändlich. Ich hätte nie geglaubt,
daß so etwas Schändliches passieren kann. Wie
geht das zu, ein unschuldiges Mädchen wird den Eltern
geraubt, Kloster hin oder her, Raub ist Raub, und der
Staat, das Land, der Kaiser, die Minister, keiner will
etwas dagegen tun! Der Kaiser selbst hat es ja versprochen,
und doch, es geschieht nichts. Kann man
denn leben ohne Gerechtigkeit? Kannst du leben ohne
Gerechtigkeit? Deswegen will ich also zunächst nach
Wien. Ich hab’ hier keine Ruhe mehr. Hier weiß
man ja nichts, hier erfährt man nichts. Ich will einmal
sehen, wie das zugeht bei euch. Ich werde den
Kerlen schon Beine machen. Der Jude soll sein Kind
wieder haben oder mich soll der Teufel holen.«
Mit wachsendem Erstaunen hatte Borromeo zugehört.
Eine Art Rührung erfaßte ihn, die aber gleich
wieder verdrängt wurde von einem dumpfen Mißtrauen
gegen diesen »Idealismus«, wie er es innerlich
nannte, und den gläubig hinzunehmen, sich gleichsam
alle Erfahrungen seines Lebens sträubten.
Gründe gegen dieses kindliche Unterfangen waren
natürlich leicht zu finden. Aber Borromeo schämte
sich plötzlich seiner Gründe. »Lassen wir es heute,«
sagte er, winkte mit der Hand ab und ging hinaus.
Kaum war der Morgen angebrochen, als sich Arnold
auf den Weg zur Elasserschen Wohnung machte. Nicht
mehr mit Bedrücktheit und einem Gefühl leerer Erwartung
wie früher trat er in den wohlbekannten Flur.
Geschrei und Gekeife schallte ihm in die Ohren.
Mitten im Zimmer standen Elasser, die Frau und
ein Bauer. Der älteste Knabe zog sich gleichmütig
für die Schule an, und Elasser und sein Weib zankten
unermüdlich auf den Bauer ein, der ein Stück Leinwand
nicht mit dem verlangten Preis bezahlen wollte.
Der Bauer fluchte und lachte. Elasser war höhnisch,
kratzte sich in den Haaren, befühlte den Stoff und
rang die Hände.
Arnold stand im Schatten vor der Schwelle. Niemand
achtete auf ihn. Nachdem er eine Weile zugehört,
wandte er sich nachdenklich ab, um zu gehen.
Eines der kleinen, halbangezogenen Mädchen huschte
an ihm vorbei zum Hauseingang und stieß dort einen
Schrei aus, als ein grauer Metzgerhund vom Ufer
herauftrabte und mit hängender Zunge und düster
glotzenden Augen vor dem Kind stehen blieb, das zusammenschauderte
und sich nicht mehr rührte. In
einer wunderbaren Regung hob Arnold das Mädchen
auf den Arm. Er legte ihm mit einem Ausdruck der
Beteuerung die Hand auf die Stirn. Dann verjagte
er den Hund und setzte seinen Weg fort.
Zwanzigstes Kapitel
Von Tag zu Tag, von Woche zu Woche hatte
Alexander Hanka seine Reise verschoben. Er
sagte sich mit Befriedigung, daß ihn das Landleben,
die Stille und Gleichmäßigkeit der Tage festhalte.
Aber hätte ein Geist wie der seine, ewig nach den
leeren Aufregungen der Gesellschaft lechzend und sie
zugleich verachtend, dies früher ertragen? sich früher
so sorglos zwischen diesen nichtssagenden Beschäftigungen,
diesen ereignislosen Wintertagen eingebettet?
Bisweilen schüttelte er über sich selbst den Kopf, aber
wie jemand, der ein sonst mißachtetes Gut nun mit
Leidenschaft umklammert. Agnes war glücklich. Beate
hatte sich mit der neuen Gesellschaft zurechtgefunden
und wenn auch Hanka in ihren Augen eine komische
Figur war, versagte ihr eingeborener Spürsinn ihm
nicht die Titel eines gescheiten Menschen und aufrichtigen
Freundes. Auch war sie zahm gestimmt, seit
der junge Bauer einer andern das Herz zugewandt
hatte. Fruchtlos war sie hinübergegangen, hatte geweint,
gedroht, gerast. Das alles ging förmlich im
Dunkel vor sich, abgewandt vor den Augen, die sie
liebevoll verfolgten. Endlich schämte sie sich, zuerst
aus Verzweiflung und weil sie anders sich nicht helfen
konnte, um sich selbst noch zu achten; dann war es
die wirkliche Scham, die ins Fleisch schnitt und das
Blut vergiftete. Sie wälzte sich auf dem Boden ihrer
Kammer und heulte in sich hinein. Dann kam sie
wieder herab ins Wohnzimmer, blaß und lächelnd,
saß neben Hanka, spielte ein harmloses Kartenspiel
mit ihm, wärmte sich an seiner Nachsicht, schmiedete
dabei ihre schlauen Pläne, schien sanfter, ergebener,
mitteilsamer und launenloser als früher.
Von seinen Freunden in der Stadt hörte Hanka
wenig. Außerhalb ihres Kreises lebend, war er gleich
dem Spieler, der den Einsatz versäumt hat. Nur
Natalie Osterburg schrieb ihm. Neugierde verschlang
sie, alles zu wissen, was mit dem Fall Elasser zusammenhing.
In den Gesellschaften spreche man von
nichts anderm, und er solle doch umgehend schreiben,
wie diese berühmte Jutta aussehe, wie sie sich benehme,
sich kleide, welche Farbe ihre Augen hätten
und so weiter. So geschwind wie möglich müsse sie
das wissen, schon um den Neid zu genießen, mit dem
dann ihre geheimnisvolle Wissenschaft beehrt werden
würde. Da er, Hanka, an der Quelle der Ereignisse
sitze, brauche er sich ja nur zu bücken und aufzuheben,
was ihr so kostbar sei. Im übrigen möchte er nicht
mehr lange mit der Rückreise zögern, da sie frische
Ananas aus Hamburg erhalten habe.
Natalie, wie sie leibt und lebt, dachte Hanka amüsiert,
ohne sich im geringsten zu beeilen, seiner reizenden
Freundin zu antworten.
Mit Lesen, Spazierengehen, Essen und Schlafen
verbrachte er die Zeit, und all dies hatte in seinen
Augen einen Anstrich von Stumpfsinn und von Philosophie.
Er trug sich mit der Absicht, eine Schrift über
die Einsamkeit zu verfassen, aber er verzichtete bald
darauf. Ein guter Gedanke ist kurz und reicht für
drei Zeilen, sagte er sich; ihn breit zu quetschen wie
einen Kuchenteig, ist weder ehrenhaft noch unterhaltend.
Er empfand Widerwillen und Furcht vor der
Arbeit. In ihm war ein starker, klarer Strom von
Erkenntnis, aber ein trübes, dünnes Flüßchen von
Tatkraft. Seine Gewohnheiten konnten ihm zugleich
verhaßt und unentbehrlich sein, und der halb unfreiwillige
Aufenthalt in Podolin, weit entfernt, ihm die
Segnungen der Stille, Sammlung und Abgeschiedenheit
zu bringen, hatte etwas Zerstörendes für ihn.
Seine nach Ablenkung hungrigen Blicke sahen sich auf
ein schwankendes Bild gewiesen, auf dem sie mit jedem
Tag fester ruhten. Er dachte an Beate, an nichts
anderes als an Beate.
Drei Wege gibt es, sinnierte er; entweder ich gehe
fort und lasse mich nicht wieder sehen; oder sie wird
meine Geliebte; oder ich heirate sie. Das erste habe
ich schon einmal erfolglos versucht; schon damals hatte
mich der Teufel beim Frack. Das zweite ist ja für
mich ganz angenehm. Doch mit der Ahnungslosigkeit
ein Geschäft machen, gehört nicht gerade zu den
sympathischen Dingen. Allerdings, ein natürlicher
Geist wird sich in das natürlichste Verhältnis zu finden
wissen, aber hab’ ich darum mit vierundzwanzig Jahren
Vorsehung gespielt, um mich jetzt selbst zu verlassen
wie jemand, der ein erworbenes Vermögen plötzlich
zum Fenster hinauswirft? Ich kann sie gegen Armut
schützen, allein was ist mit Geld gegen den bösen
Willen der Gesellschaft auszurichten? Bleibt also das
Schlimmste von allen, sie zu heiraten. Eine Promesse
auf Sicherheit, systematischer Freiheitsraub, gewohnheitsmäßiges
Beisammensein und Langeweile zu
zweien. Das Gepäck des Lebens wächst wie im
Sommer bei der Eisenbahn; nach dem Jahr der Liebe
kommen die Jahre der Pflichten. Es ist wie mit den
Schaumtörtchen in der Konditorei; je besser sie sind,
je sicherer verderben sie den Magen. Und gesetzt den
Fall, ich hätte Nachkommenschaft zu erwarten. Habe
ich die Talente eines Erziehers, die Geduld eines
Lehrers, die Eigenschaften eines Vorbilds? Ich habe
kein Verständnis für Kinder und wäre ein erbärmlicher
Vater. Dem veralteten Institut der Ehe neue
Glorie zu verschaffen, ist mir also jedenfalls versagt.
Wie ist es aber sonst beschaffen, mit der Liebe etwa?
Liebt Beate mich? Ein Gedanke von hervorragender
Komik. Ich sie? Seit mich auf dem Gymnasium
meine Mietsfrau in Begeisterung versetzte, weiß ich
von solchen reflektorischen Nervenreizen nichts mehr.
Summa: wie man es auch betrachtet, nichts Haltbares
bleibt; Spinnefäden, die durch die Sonne ziehen.
Damit beendigte Alexander Hanka seine ernsthaften
Überlegungen. Aber das Zimmer und das Haus
waren ihm zu eng geworden und er begab sich ins
Freie, trotzdem schon finstere Nacht angebrochen war.
Er vermochte kaum den Weg zu erkennen, der ihn
von den Feldern schied. Der Himmel, kaum wahrnehmbar,
glich einem tiefverdunkelten Milchglas, und
die übrige Welt lag schwarz wie Kohle. Um es in
seinem Innern hell werden zu lassen, dazu war Hanka
die äußere Nacht sehr willkommen. Aber wie ehrlich
er sich auch bemühte, Klarheit fand sich nicht.
Am andern Morgen trat er mit einem militärisch
ausholenden Schritt vor Agnes hin, als er sie allein
sah. »Was würdest du sagen,« fing er ohne Umstände
an, den Mund ihrem Ohr nahe, »wenn ich Beate heiraten
würde?«
In großer Bestürzung riß Agnes die blauen Augen
auf. Hanka saugte verlegen und krampfhaft an seiner
Zigarre, sah sich spähend um, riß plötzlich ein leeres
Blatt Papier aus seinem Notizbuch und schrieb in
hastigen Zügen: »Du mußt gestehen, daß es nicht
übermäßig vernünftig wäre. Heiraten ist in jedem
Falle eine Dummheit, zugegeben, aber ich habe mich
wenigstens auf diese Dummheit gut vorbereitet. Ad
zwei: für mich ist die Ehe etwas wie eine Heilkur.
Ich bin nicht verliebt, was ja an sich ziemlich traurig,
aber für das ganze Unternehmen von Vorteil ist. Was
mich besonders anzieht, kannst du dir denken.«
Agnes las langsam mit, indem sie ihre Schulter an
den linken Arm Hankas lehnte. »Nun?« fragte sie,
naiv und ergeben zu ihm emporblickend, als seine
Hand zögerte.
Er zuckte die Achseln und knüllte das Blatt zusammen.
»Du mußt es selber am besten wissen, Alexander,«
sagte Agnes, indem auf einmal ihre Augen feucht
wurden. Sie senkte verwirrt die Lider und machte
sich nachdenklich an ihre häuslichen Arbeiten. Hanka
nahm, unzufrieden mit sich, ein Buch, um zu lesen.
Es ist unmöglich, sich jemand zum Freund oder zur
Gattin zu züchten, dachte er und spuckte verächtlich
durchs Fenster in den Garten, den die Sonne durchflutete;
aber erst die Ereignisse charakterisieren eine
Handlung, und ich will mich nicht selbst verraten,
weil es mir einmal geglückt war, Idealist zu sein.
Als Beate ins Zimmer trat, schritt er ein paarmal
auf und ab, dann wandte er sich plötzlich mit einer
erzwungen pfiffigen und überlegenen Miene zu ihr.
»Was würdest du sagen, Beate,« begann er mit derselben
hölzernen Phrase, mit der er Agnes angeredet
und in einer enorm tiefen Stimmlage, »was würdest
du sagen, wenn ich dir einen Heiratsantrag machen
würde?« Er sah verärgert aus und Runzeln erschienen
auf seiner Stirn. Und da Beate unbeweglich
vor sich hinsah und endlich mit langsamen Schritten
das Zimmer verließ, sank er in ein tiefes Nachdenken
und pfiff leise, ohne die Blicke vom Boden zu erheben.
Es mochte eine Stunde später sein, als ihm
das junge Mädchen am Hauseingang begegnete. Sie
erhob im Vorbeigehen den Kopf und sagte mit listigem
Lächeln: »Ja.« Hanka durcheilte klopfenden Herzens
den Garten.
Die Nachricht von Frau Ansorges Tod war schon
am Morgen zu Hankas gelangt. Alexander Hanka
hatte sich gegen den üblichen Teilnahmsbesuch erklärt.
Am folgenden Tag war das Begräbnis und dorthin
beschloß Hanka zu gehen. Der Kirchhof lag hoch auf
dem Hügel. Trotz des klaren Nachmittag-Himmels
herrschte ein sturmartiger Wind. Die Gräber waren
noch mit Schneeresten bestreut, die wie Blumen durch
Zweig und Erde lugten. Hanka hielt sich abseits. Mit
einer Mischung von Staunen und Ungläubigkeit beobachtete
er Arnold, der neben dem Grab stand und
mit einer wunderlichen Ruhe in das viereckige Loch
blickte, als der Sarg hinabgelassen wurde. Alle sahen
auf ihn, selbst der Pfarrer stotterte in seiner formelhaften
Rede, brach plötzlich erregt ab und entfernte
sich. Ursula weinte, aber lauter klang der Schrei einer
Krähe, die über die Köpfe flog. Borromeos bleiches
Gesicht über dem dunklen Bart wurde noch bleicher.
Auch er hatte die Augen auf Arnold gerichtet, jedoch
ohne Unwillen, ohne Vorwurf.
Zu Hause betrieb Hanka seine Vorbereitungen zur
Reise, denn nun galt es, die Zeit zu nutzen. Er hätte
sich an diesem Abend eine leichtere Stimmung gewünscht.
Früh am Morgen fuhr der Wagen vor,
der ihn zur Station bringen sollte. Nach anderthalb
Stunden stand er auf dem Bahnhof und sah
Doktor Borromeo und Arnold, beide reisefertig, beide
gleich ihm den Zug erwartend. Hanka grüßte mit
der ihm eigenen ernsten Verbindlichkeit, näherte sich
aber nicht, sondern schritt in der holzgedeckten Halle
auf und ab. Es war ein wunderschöner Tag; die Luft
war still, die Erde hauchte feuchten Duft aus. Weithin
schimmerten die Gleise in der Sonne und verloren
sich in den graublauen Waldzügen der Ebene.
Natalie
Einundzwanzigstes Kapitel
Borromeo hatte Arnold in seinem Hause Wohnung
angeboten, er hatte erklärt, daß der
obere Halbstock völlig leer stehe und daß Arnold über
drei Zimmer ungestört verfügen könne. Arnold
hatte eingewilligt.
Schweigend und unablässig beriet Borromeo mit
sich selbst. Arnolds Nähe erregte ihn und spannte ihn
ab. Der Anblick dieser gesammelten Züge, dieses festen
und frischen Blicks machte ihn furchtsam und wortkarg.
Längst entherzigt, längst hohl gesogen, kämpfte
Borromeo einen beständigen stillen Kampf mit den
Affekten anderer Menschen.
Am Nachmittag kamen sie in Wien an und fuhren
im offenen Wagen vom Bahnhof weg. Als Arnold
zum erstenmal die Straßen der Stadt gewahrte und
die Flut der Getöse in seine Ohren drang, wurde er
ganz bestürzt. Schreien, Johlen, Schimpfen, Befehlen
erschallte. Es klopfte, knallte, polterte, rasselte
und dröhnte; Wagen fuhren, Karren knatterten, Glöckchen
klimperten; es zischte, stampfte, ächzte, heulte,
hämmerte und knisterte. Menschen liefen, die heftig
mit den Armen schlenkerten; andere, denen Schweiß
auf der Haut glänzte; andere, deren Gesichtsmuskeln
krampfhaft verzerrt waren; andere, die wie im Wahnsinn
stierten und weder rechts noch links schauten;
andere, die in vornehmen Kutschen lehnten und deren
Mienen förmlich gelähmt waren; andere, die lachten
und schwatzten, indem sie doch einen schmerzhaften
und angestrengten Zug behielten. Die Luft war dick
von Staub. Die langen Reihen gleichmäßiger Häuser
zeigten zahllose Fenster; anders sah hier der Himmel
aus, anders die Wolken, anders schien die Sonne.
An den Mauern hingen buntfarbige Fetzen, worauf
in der seltsamsten Weise Seifen, Weine, Eßwaren,
Zeitungen, Möbel, Konzerte, Kleider, Heilmittel und
Kunstwerke angepriesen wurden. Hunde liefen unruhvoll
herum, Soldaten marschierten stumpfsinnig,
Bier-, Speisen- und Ladengerüche zogen aus den
Häusern, krüppelhafte Bäumchen erhoben sich hinter
prachtvollen Gittern, alles war in Bewegung, in Hast,
als ob es hier keinen Schlaf, keine Nacht, keine Ruhe,
kein Besinnen gäbe.
Bald war das Borromeosche Haus erreicht. Es
war ein altes Gebäude, das in einer engen, finstern,
gewundenen Gasse der innern Stadt lag. Ein Diener
kam, um das Reisegepäck in Empfang zu nehmen.
Borromeo führte Arnold sogleich in das obere Stockwerk,
das ihm zur Wohnung dienen sollte. Die Zimmer
waren hoch und still. Borromeo erklärte, daß in
früheren Jahren der Bruder seiner verstorbenen Frau
hier gewohnt, ein Mann, der sich in den Studentenjahren
durch Trinken und Weiber ruiniert habe. Inmitten
seines knappen Berichts brach Borromeo ab
und wandte den Blick langsam zur Tür, durch welche
seine Frau eintrat. Sie war von geradezu fürstlicher
Erscheinung. Ihr Gesicht war bleich, ihre Lippen, um
die ein entgegenkommendes und gleichsam strahlendes
Lächeln lag, waren brennend rot. Fast von demselben
Rot waren die Haare, die in der reichsten Fülle
zu einer Krone frisiert waren. Jeder Schritt der Frau
war mit einem Rauschen verbunden, welches für Arnold
etwas außerordentlich Rätselhaftes hatte. Mit
einem neugierigen und staunenden Gesicht wandte er
sich der Dame zu und er verspürte einen beunruhigenden
Wohlgeruch im Zimmer.
»Pardon, meine Herren, ich dachte nicht zu stören«,
sagte Frau Borromeo. »Das ist also der Neffe«, fuhr
sie fort, trat rauschend näher, streckte Arnold die Hand
entgegen und lächelte: sorglos, mütterlich, voll Teilnahme,
etwas spöttisch, – alles zu gleicher Zeit mit
einer unbeschreiblichen Mischung von Belebtheit und
Ruhe. Indem sie eintrat, so schien es, hatte sie alles
zu ihrem Eigentum gemacht, die Wände, die Möbel,
das Licht, die Luft und die beiden Männer. Arnold
vergaß, ihre Hand zu ergreifen. Sie lachte, schüttelte
den Kopf und fragte Borromeo, ob er zum Tee komme.
Als er verneinte, erwiderte sie, er möge ihr Arnold
überlassen, der doch von der Reise ausgehungert sein
werde. »Ich warte schon mit Ungeduld auf Sie –
oder auf dich«, sagte sie zu Arnold. »Ich war auf
eine Art von Waldmenschen gefaßt und bin es noch.
Natürlich im edelsten Sinn. Aber damit wollen wir
jetzt keine Zeit verlieren. Hier laß ich unterdes alles
instand setzen; ich habe ja erst heute früh erfahren –
Kommen Sie, ... komm, Arnold.«
All das wurde mit vollendeter Betonung gesprochen,
mit einem Wechsel des Ausdrucks, dem sich jedes Wort
anschmiegte wie dem Körper ein musterhaft gefertigtes
Kleid. Arnold folgte der Hausfrau in den Korridor,
dann ein Stockwerk tiefer und trat hinter ihr in ein
großes, lichtes Zimmer. An einem mit Tassen,
Gläsern, Silbergeschirr, Blumen und Eßwaren bedeckten
Tisch saßen plaudernd drei Personen, ein
junges Mädchen, welches von Frau Borromeo als
Petra König vorgestellt wurde, ein alter Herr mit
einem kropfartig verdickten Hals, Baron Drusius, und
ein junger, blonder, blasser Mann namens Hyrtl, der
durch eine fast puppenhafte Sorgfalt seines Anzugs
auffiel. Dieser Mann blickte sofort wie geblendet auf
Arnolds graue Joppe, auf seinen altmodischen Kragen,
auf seine schweren, großen Stiefel und ein humoristisches
Lächeln umzuckte die farblosen Lippen.
»Nun haben wir unsern Waldmenschen glücklich
hier«, sagte Frau Borromeo, indem sie spöttisch lächelte,
als belustigte sie die Verwunderung ihrer Gäste. »Ich
erzählte Ihnen ja von ihm«, wandte sie sich zu Hyrtl.
Baron Drusius knackte mit den Fingern und fragte
mit einer Teilnahme, die Arnold unerklärlich war:
»Sie sind Landwirt?«
»Bis jetzt war er Landwirt«, fiel Anna Borromeo
ein.
Hyrtl, der den Ankömmling für dumm und blöde
hielt, starrte Arnold mit einer Miene an, die immer
humorvoller wurde. Seine Lippen zuckten von verhaltenem
Witz. Er bemühte sich vergeblich, zu ergründen,
weshalb Anna Borromeo den merkwürdigen
Menschen in ihren Salon geführt und gab schließlich
ihrer Sucht nach Überraschungen die Schuld.
»Sie sind wohl geschäftlich in der Stadt?« fragte
der unermüdliche Drusius wieder, der Frau Borromeo
einen Gefallen zu erweisen glaubte, wenn er sich mit
dem stummen Gast beschäftigte.
»Seine Mutter ist gestorben«, bemerkte Anna Borromeo
abermals an Arnolds Stelle. Es war, als
fürchte sie Arnolds Antwort. Sie schenkte Petra
König Tee ein, und eine senkrechte Falte zeigte sich
zwischen ihren Brauen. »Wie geht es eigentlich
Ihrer Schwester Natalie?« fragte sie das junge Mädchen.
»Gut«, entgegnete Fräulein Petra mit verdecktem
Blick und mit jenem nachsichtigen Spott, der nur in
ihrem Gesicht lag, wenn von Natalie gesprochen
wurde.
»Ein ganz köstliches Weibchen«, meinte Drusius
und schnalzte mit der Zunge. »Ein Rokoko-Figürchen,
ein Sprühgeist. Für dieses Frauchen könnte ich
eine Heldentat verrichten.«
Hyrtl sah gelangweilt aus. Seine Augen ruhten
schwermütig-messend auf Anna Borromeo.
»Wie stehen die Montan-Papiere?« fragte ihn Frau
Anna lächelnd und tippte mit der Fingerspitze eine
Brotkrume von ihrem Kleid.
»Schlecht«, antwortete Hyrtl. »Wir können uns
auf einen großen Börsenkrach gefaßt machen.« Er
legte den Knöchel des einen Beines auf das Knie
des andern, schob die Hose ein wenig hinauf, so daß
über den Lackstiefeln ein Stück des violett-seidenen
Strumpfes sichtbar wurde, zog mit leichter Gebärde
eine goldene Zigarettendose aus der Tasche und fragte
mit Höflichkeit die Wirtin, ob er rauchen dürfe. Er
blickte dabei Frau Borromeo tief und traurig in die
Augen, so daß Arnold sehr erstaunt war, als er die
Worte vernahm, die diesen Blick begleiteten. Zugleich
sah er, daß Petra Königs Blicke auf ihn selbst
gerichtet waren, daß sie die Augen, die einen wärmeren,
ruhigeren Glanz angenommen hatten, erschreckt
wieder abwandte und mit leerem Lächeln
nach einer Bäckerei auf der silbernen Schale griff.
Arnold musterte das Zimmer, die Tapeten, die
Teppiche, die Bilder und hörte mehr und mehr erstaunt
der schnell von einem Gegenstand zum andern
schweifenden Unterhaltung zu. Als er den Tee, dem
er sehr viel Milch zugegossen, ausgetrunken hatte,
erhob er sich, stellte seinen Stuhl nahe vor den Tisch,
dankte und fügte hinzu: »Jetzt will ich mich waschen.«
Damit verließ er den Salon mit unbefangenem Gesicht.
Zuerst entstand ein peinliches Schweigen. Dann
lächelte Anna Borromeo, darauf lächelte auch Emerich
Hyrtl und stemmte die Arme auf die Hüften.
Es lächelten auch Drusius und Petra König. Dann
blies Hyrtl die Backen auf und verfiel in einen wahren
Lachkrampf, aus dem er schließlich die Beteuerung
hervorächzte, er habe sich nie so göttlich unterhalten.
Anna Borromeo drohte ihm scherzhaft mit dem Finger.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Arnold suchte die ihm zugewiesenen Zimmer
auf. Im Vorraum seiner Wohnung stand
der Diener und sagte, er erwarte die Befehle des
jungen Herrn. »Was für Befehle?« fragte Arnold
und blieb stehen. Der Diener lächelte und blickte
Arnold aufmerksam an. »Gehn Sie nur«, sagte
Arnold und wartete, bis der Mann die Türe geschlossen
hatte. Welch ein sonderbarer Aufenthalt,
dachte er, als er durch die Zimmer ging und die kostbaren
Tapeten besah, die schweren Vorhänge, die
Bilder, Vasen, Teppiche, Möbel und Bücher. Er riß
das Fenster auf, und es wurde ein wenig heller und
frischer. Die Gasse war eng. Er schaute hinab und
erstaunte über die Höhe, erstaunte über die Nähe der
gegenüberliegenden Häuser und ihre endlosen Reihen
von Fenstern, die alle geschlossen waren. Er schaute
empor und sah nur ein geringes Stück des abendlich
verdämmernden Himmels. Ein Flug Vögel zog mit
Kreischen geschwind über die Dächer.
Während dieser Beobachtungen spürte er großen
Hunger. Er überlegte nicht lange, nahm den Hut,
verließ seine Wohnung, eilte auf die Straße und
suchte das nächste Wirtshaus. Bald fand er eine
kleine Kutscherkneipe, bestellte Wein, Wurst und Käse
und aß mit Appetit. Viele Männer saßen in dem
raucherfüllten Raum, schimpften, politisierten, schrien,
lachten und spielten. Als Arnold satt war, bezahlte
er und ging. Er beschloß, einen Spaziergang durch
die Straßen zu unternehmen, aber vorsichtig, wie
er war, kehrte er zuerst zurück und prägte genau die
Gasse und das Borromeosche Haus seinem Gedächtnis
ein. Kaum hatte er dies stille Seitental verlassen,
als er im Nu in einen eilenden Menschenstrom geriet.
Die Abend-Dunkelheit wurde durch das blendende
Licht aus den hohen, weißen Lampen gänzlich
zerstreut. Aus allen Läden, aus jedem Fenster der
schönen Paläste drang Licht, und die Nacht über den
Dächern war wie eine feste Decke. Als Arnold sich
inmitten der unabsehbaren, beständig sich erneuernden
Menge befand, glaubte er zuerst, das Geräusch, das
zu ihm floß, sei ein gleichmäßiges, ängstliches Raunen.
Denn es war nicht laut und nicht leise; es war weder
Reden noch Schreien. Oft klang es wie minutenlang
hintereinander ausgehauchte tiefe Seufzer, oft wie
fernes Gelächter; nichts hielt Stand, alles rauschte
gleich einem schwerflüssigen Wasser dahin. Arnold
ging dicht an der Seite der Häuser und kam nur
langsam vorwärts. Er ermüdete nicht, Gesichter zu
betrachten; er wurde nicht satt, den Ausdruck der
Augen zu erhaschen. Einer blickte vorsichtig und
spähend vor sich hin, einer redete gereizt, einer ging
müde. Jeder schien eine Maske zu tragen und zwischen
unsichtbaren Wänden zu gehen.
Verwirrt, ratlos, wie in einem Rausch, blickte Arnold
vor sich hin. Seine Stimme erschien ihm klein, seine
Schritte zu kurz, seine Arme machtlos, seine Verstellungen
kindlich. Er sah Menschen, Menschen,
immer neue Menschen. Doch kein Gesicht war festzuhalten,
alle Gesichter verschwammen im Nebel. Ungewöhnlich
erregt verließ er die taghellen Straßen
und kam in spärlicher beleuchtete, in welchen sein
eigener Schatten matt mit dem Dunkel zusammenfloß,
und immer wieder auftauchte, wenn er unter
der gelben Flamme einer Gaslampe vorüberging. Er
dachte nicht mehr an Zweck und Ursache des Weges;
mit umfangenen Augen und sonderbar gelähmten
Gedanken ging er dahin. Was er sah, schien ihm
unglaubhaft, unbegründet und widersinnig. Warum
stand Haus an Haus so enggepreßt, daß jedem einzelnen
der Atem zu fehlen schien? An der Ecke blieb
Arnold stehen und blickte erstaunt die unbewegliche
Reihe der Laternen entlang. Ihn lockte es, das Ende
kennen zu lernen, und ohne den Gedanken an Rückkehr
folgte er der Flucht jeder Gasse und Straße
und glaubte bei jedem neuen Anfang, nun müsse
sich bald der Wald öffnen oder das Wiesenland dehnen.
Aber jedesmal wurde diese Erwartung zerstört und
sein Erstaunen wurde größer und dumpfer, insbesondere
durch die Wahrnehmung, daß die endlosen
Häusermassen ihn nicht nur in der Richtung seines
Weges begleiteten, sondern auch nach allen Seiten
hin ausströmten. Er betrachtete die Aushängeschilder
von Krämern, Wirtshäusern und den zahllosen Geschäften,
in denen er zufriedene und glückliche Menschen
vermutete, getäuscht durch den Lichterglanz und
die Buntheit der Auslagen. Er blieb vor den erleuchteten
Fenstern der Kaffeehäuser stehen und blickte
ratlos hinein, da ihm ihr Inneres wie zu einem Feste
geschmückt vorkam. Er sah mächtige Gebäude, die
einem unbekannten feierlichen Zweck dienen mußten,
Kirchen, deren eherne Tore geschlossen waren, und
von deren Türmen dennoch Glockengeläute erklang.
Überall hatte er den Eindruck der Ruhe, der Ordnung
und der Gerechtigkeit und hundertmal schüttelte er
über sich selbst den Kopf und war unzufrieden, ohne
zu wissen warum. Noch nie hatte er solch ein Gefühl
lustloser Ermüdung gespürt. Doch er setzte seinen
Weg fort und kam in eine öde Vorstadt mit ausgestorbenen
Gassen. Hier wurden die Häuser niedriger
und der Himmel schien infolgedessen näher. In den
erdgeschössigen Wohnungen sah er Familien beim
Abendessen sitzen, aus den Kneipen drang Lärm und
Geschrei, Dirnen gingen vorüber und lächelten ihm
zu; jeder einzelne Laut und jedes Bild erzeugte in
Arnold die betäubende Empfindung der Vielfältigkeit
und der unübersehbaren Weite. Mit Bitterkeit,
ja fast mit Angst fühlte er seinen gänzlichen Mangel
an Erfahrung. Er glaubte sich verachten zu müssen.
Herrgott, sagte er zu sich selbst, das kann übel enden,
und plötzlich drehte er sich um und trat mit stürmischem
Wesen die Rückkehr an, auf welcher er einige
begegnende Personen höflich und zaghaft nach dem
Weg befragte.
Nach stundenlangem Gehen fand er sich endlich
zurecht und kam gegen zehn Uhr nach Haus. Der
Diener begleitete ihn in sein Zimmer, zündete die
Lampen an und fragte, ob nichts zu besorgen sei.
Arnold schüttelte den Kopf. Er sah seinen Reisekoffer
vor sich stehen und ohne einen der prächtigen
Stühle rings zu benutzen, setzte er sich rittlings darauf
und versuchte nachzudenken. Es war ihm, als hielte
er sein Herz in der Hand, drehe es hin und her, aber
es war stumm. Plötzlich sah er viele Wege; jeder
führte dorthin, wo man mühelos Gerechtigkeit erlangte.
War es denn etwas so Großes, diese Gerechtigkeit?
so vielen Zorns, so vieler Gedanken wert?
Arnold schämte sich und kam sich vor wie jemand,
der mit Pferd und Wagen kommt, um eine Maus
aufzuladen. Sein Vorhaben erschien ihm leicht und
selbstverständlich. Er begann vor sich hinzupfeifen,
als es an der Tür pochte; Friedrich Borromeo trat ein.
»Guten Abend, Arnold,« sagte er in seiner gemessenen
Sprechweise, »hast du dich schon ein wenig
zurechtgefunden?« Vorsichtig hob er mit der äußeren
Seite der Hand seinen Bart empor und legte den
Kopf gegen die Schulter.
Arnold trat vor ihn hin. »Zurechtgefunden? Nein,
Onkel. Zurechtfinden kann ich mich hier nicht. Also
sage mir, was soll ich tun? Wie soll ich’s anfangen?«
»Ei, ei, so ungestüm,« erwiderte Borromeo. Er
gab es endlich auf, seinen Bart zu bestreichen, schritt
zum Tisch, setzte sich auf einen der Polstersessel und
nahm ein elfenbeinernes Papiermesser, das er lose
zwischen den Mittelfingern beider Hände behielt. »Du
willst also dieser eingesperrten Jüdin zur Freiheit verhelfen,«
sagte er mit einem kaum wahrnehmbaren
Lächeln. »Ich verstehe deine Beweggründe. Du
bist jung. Du bist begeistert. Du kannst dich noch
entrüsten. Schön. Aber was willst du allein ausrichten?
Ein Feldherr, der keine Truppen hat, kann
>keine Schlacht gewinnen. Ich will dich ja nicht von
deinem idealen Unternehmen abbringen, ganz im
Gegenteil.«
»Würde dir auch nichts nützen,« warf Arnold
trocken und etwas ungeduldig dazwischen.
»Schön. Aber betrachten wir die Sache einmal
von einem andern Standpunkt, von einem praktischen
sozusagen. Zufällig war es diese Klostergeschichte, die
dich in Aufruhr gebracht hat. Es hätten Millionen
andere sein können. Nehmen wir nur unser Land,
ja nehmen wir nur einmal Galizien. Die Regierung
dort ist verrottet. Alle Gewerbe liegen auf den Tod.
Die Mitglieder der Geburts- und Geld-Aristokratie
verüben die ungeheuerlichsten Diebstähle. Der Wucher
blüht wie anderswo im Mittelalter. Die Länderbank
ist verkracht, weil ein Fürst und ein Graf sie durch
Betrügereien ins Verderben gestürzt haben. Hast
du von den Cziriskawer Gruben gehört? Die hungernden
Arbeiter mußten zusehen, wie die Aktionäre einander
und der Direktor die Aktionäre um Tausende
von Gulden bestahlen. Eine Million Notstandsgelder
für die in Krankheit und Hunger vegetierenden Bauern
werden zurückgehalten; auf den großen Gütern wird
der Arbeitslohn in Pappendeckelstücken statt in Geld
ausgezahlt. Was ist dagegen deine Klostergefangene?
Urteile selbst. Schau dich nur um. Es gibt viel zu
tun. Lerne, damit du siehst, wo du anzufangen hast.
Du darfst dich nicht verwirren. Ich werde niemals
deinem Willen entgegentreten. Ich werde nie fragen,
ob das auch gut ist, was du tust, sondern immer annehmen,
daß es das beste ist. Ich lasse dir freie Verfügung
über dein Vermögen, deine Zeit, deine Person.
Aber lerne erst erkennen, wo du Hand anzulegen
hast. Wir brauchen Menschen, wir brauchen
Männer; aber in dieser Zeit, in diesem heruntergekommenen
Land bedarf es nicht nur eines ganzen Menschen,
einer großen Leidenschaft, einer reinen Seele,
sondern auch eines aufs höchste gebildeten, praktischen
Geistes. Erfahrungen braucht es und Kultur. Das
ist eben die Probe, Arnold, in der du dich bewähren
mußt. Äußerlich mußt du sein wie alle andern, mußt
dich kleiden wie sie, mußt ihre Formen und Gebräuche
annehmen; aber deine Hand muß sauber bleiben,
deine Seele rein. Und trotz alledem mußt du dich
durchkämpfen, hinaufkämpfen. Das ist das Problem.
Dann wird es dir ein Leichtes sein, eine Jutta Elasser
zu befreien. Heute ist es unmöglich für dich wie für
jeden andern. Du hättest keine andern Wege als
jene Leute selbst, du würdest nirgends eine werktätige
Hilfe finden. Und deine Kräfte ins Phantastische
hinein verschwenden, das wäre doch sinnlos.«
Arnold saß weitvorgebeugt auf seinem Koffer und
ein kühler Schauder fuhr ihm über die Haut. Er
fühlte Zorn und Rührung. Er begriff und wollte
sich dennoch verschließen. Er sah ein, daß das alles
seine Richtigkeit hatte und wünschte doch, es nicht gehört
zu haben.
»Wenn ich mir erlauben darf, dir ein Programm
aufzustellen,« fuhr Borromeo fort, »so wäre es dies:
fange an, dich über alles mögliche zu unterrichten.
Belehre dich. Halte dich an die Bücher und an gescheite
Menschen. Bereite dich für ein Amt vor. Eine
Regelmäßigkeit wird sich dir bald von selbst ergeben,
vielleicht auch der Beistand eines Freundes. Du hast
alle Gaben, um zu einem schönen Ziel zu gelangen.
Der unerschütterliche Wille besiegt jedes Hindernis.
Und um mit zwei Worten noch einmal alles zu sagen:
Bleib und werde!«
Es war deutlich zu sehen, wie schwer es Borromeo
ums Reden wurde, denn er schwieg jetzt mit einem
erleichterten und müden Gesicht und ließ den Blick
langsam von dem Elfenbeinmesser aufwärts gegen
das Licht schweifen. Arnold hatte den Kopf auf
beide Hände gestützt und sein Gesicht verborgen. Was
in ihm kämpfte und brauste, das ahnte Borromeo
und das liebte er an ihm. Er stand auf, ging hin
und legte Arnold die Hand auf die Schulter. »Nun?«
fragte er leicht und kurz.
Arnold erhob den Blick und schnellte von seinem
Sitz empor. Seine Wangen glühten. »Man kann
das eine tun und braucht das andre nicht zu lassen«,
sagte er. »Man kann beides tun.«
»O gewiß, man kann beides tun«, antwortete
Borromeo. »Insofern keine Gefahr ist, daß man
sich verzettelt. Gewiß. Die Erfahrung wird darin
dein bester Lehrmeister sein. Wenigstens sehe ich,
daß du nicht verstockt bist. Von den Idealisten ohne
Kopf hab ich nie etwas gehalten. Sie schaden mehr
als sie nützen. Gute Nacht, Arnold.«
Sie gaben einander die Hand.
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Arnold war zu Borromeos Schneider gegangen.
Zwei Tage später war er im Besitz von vier
modischen Anzügen; das Zubehör an Wäsche war
vorher besorgt worden. Zaudernd und umständlich
bekleidete sich Arnold mit den neuen Dingen.
Verlegen stand er vor dem Spiegel und blickte
an seinem Bild herab wie an einem fremden
Mann. Aha, redete er sich selbst an, da wärst du
also, lieber Bruder, siehst immerhin merkwürdig aus,
wie der Gevatter beim Hochzeitsfest. Er verzog das
Gesicht und konnte sich lange nicht entschließen, das
Zimmer zu verlassen, obwohl er noch am Morgen
zur öffentlichen Bibliothek wollte. Als es überwunden
war und er mit ungewohnter Langsamkeit die Treppen
hinunter schritt, sah er im Korridor Anna Borromeo
mit einer andern Dame plaudernd beisammen stehen.
Frau Anna winkte ihm und sagte zugleich zu der
Fremden: »Dies ist mein Neffe, Herr Ansorge.«
Arnold blieb stehen, Anna Borromeo wies auf die
fremde Dame und sagte: »Frau Natalie Osterburg.«
Arnold reichte sofort nach seiner Gewohnheit die Hand
und verspürte eine andere Hand, deren Winzigkeit ihn
verblüffte. Die Frau lachte und schrie vor Schmerz,
er möge sie loslassen; Anna Borromeo lächelte.
»Also das sind Sie!« sagte Natalie Osterburg, und
das neugierige Kindergesichtchen hinter dem schwarzen
Schleier blieb Arnold fragend zugewandt. »Petra
hat mir von ihm erzählt, aber ich finde, er ist ganz
hübsch.« Ein köstliches Aber.
Arnold fühlte sich zu der neuen Bekannten hingezogen,
weshalb er ohne weiteres sein Kommen versprach,
als sie ihn um seinen Besuch bat und Tag
und Stunde bezeichnete. Sie sagte noch einiges zu
Anna Borromeo, was wie das Geplätscher eines
Springbrunnens klang, lachte, fragte mit kindlichem
Ernst nach gleichgültigen Dingen, war unglücklich über
das drohende Regenwetter, sagte, sie habe die größte
Eile nach Hause zu kommen, vergaß es jedoch sogleich
und fragte Arnold, ob er reiten könne. »Ich habe
Sie mir als eine Art wilden Jäger vorgestellt, denken
Sie nur, wie komisch«, meinte sie und lachend beugte
sie den Oberkörper vor. Darauf verabschiedete sie
sich und Frau Borromeo schien sehr erleichtert, als
sie ging; Arnold beobachtete es an dem versteckten
Spiel der Augen und ihn verdroß das liebenswürdige
Lächeln, das Hinabbeugen über die Treppenbrüstung,
das Winken mit der Hand, womit Anna Borromeo
ihrem Gast das Geleit gab.
Natalie Osterburg war trotz ihrer zweiunddreißig
Jahre noch die zierlichste Frau. Sie hatte eine Puppenfigur.
Begeisterung und Neugierde waren die zwei
Gefühle, von denen sie völlig beherrscht wurde. Sie
war lustig, oft auch da, wo niemand es erwartete,
und damit brachte sie manches vernünftige Gespräch
und manchen ernsthaften Mann aus dem Gleise.
Sie war stolz auf ihre kleinen Füße und Hände; sie
war eitel, geschwätzig, naschhaft, vergnügungssüchtig,
aber sie gewann ihren Tadlern einen Vorsprung ab,
indem sie Geständnisse ablegte und sich verspottete.
Wenn sie sprach oder ging oder saß oder lachte, dann
leuchtete es vor Freude in ihren Augen, daß es möglich
war, so sprechen, gehen, sitzen und lachen zu
können wie sie. Für die Ausbrüche ihrer Bewunderung,
ihrer Überraschung gab es kein zu kostbares
Wort und keinen Gesichtsausdruck, der schwärmerisch
genug war; in derselben Minute interessiert sie sich
»rasend« für einen Klatsch und zappelt vor Ungeduld
darüber, daß sie einen Traum, einen Namen, den
Titel eines Buches vergessen hat. Sie hat zwei
Kinder, Mädchen von zehn und acht Jahren, und
sie liebt es mit einem lauten Staunen von ihnen zu
erzählen, als sei das Dasein von Kindern etwas sehr
Seltenes und als seien ihre Kinder die wunderbarsten
auf der Erde.
Als Natalie nach Hause kam, fragte sie das Dienstmädchen,
wo der gnädige Herr sei. Im Salon, wurde
ihr geantwortet. Petra kam auf die Schwester zu
und flüsterte ihr ein paar Worte ins Ohr. Natalie
schloß erblassend die Augen und legte den Kopf gegen
den Nacken. Petra sah sie mitleidig an und wandte
sich zu den Kindern, die ihr gefolgt waren und die
Mutter mit zärtlich verdrehten Ausdrücken begrüßten.
Herr Osterburg war nicht im Salon. Aus dem
Schlafgemach nebenan drang ein ungewöhnlicher
Lärm. Natalie öffnete mit theatralischer Langsamkeit
die Tür und sah ihren Gatten bis zum Nabel nackt.
Er war im Begriff, sich zu waschen und rieb den
Körper mit einer Heftigkeit, als sei die Haut mit
Teer beschmiert; dabei prustete, plätscherte, stöhnte
und zischte er wie eine Maschine, die im Wasser versandet
ist. Natalie betrachtete ihn mit einem maßlosen
Erstaunen und einer zur Hälfte gespielten Verachtung.
Herr Osterburg legte verdrießliche und
eifervolle Falten in sein Gesicht, während er mit
einem Flanelltuch die behaarte Brust trocknete und
ächzend den Rücken rieb.
»Also so weit sind wir wieder, so fallen deine
sichern Geschäfte aus,« sagte Natalie.
Osterburg versah eines seiner neuen Frackhemden
mit Knöpfen, zog es aber nicht an, sondern legte
sich mit nacktem Oberkörper auf die Ottomane. Er
hob das Bein ein wenig in die Höhe und betrachtete
seinen Lackschuh. Dann tat er einen tiefen Seufzer,
warf sich empor, wie von einer Feder geschnellt und
sagte düster und verlegen: »Ja, reich sein, reich sein,
das ist das einzige.«
»Idiot«, murmelte Natalie.
Osterburg verfiel in ein starrkrampfähnliches Besinnen
und betastete mit sorgenvoller Stirn die fette
Gegend seines Magens. Erst als ihn fröstelte, dachte
er daran sich anzukleiden. »Ich bin ruiniert«, sagte
er dumpf. Dann machte er wilde Augen, streckte
die Faust gegen die Decke und schrie. »Meinen
heiligsten Schwur, daß ich in drei Wochen eine halbe
Million haben werde, oder –« Er deutete mit
prophetischem Ausdruck ins Unbestimmte und schwieg
wie ein gescholtener Hund, als ihn Natalie gelassen
und erwartungsvoll anschaute.
Natalie stand auf und eilte mit schnellen Schritten
in das Zimmer ihrer Kinder. »Liebste Petra!« rief
sie, »komm, ich will zur Mutter.«
»Nun?« fragte Petra in ihrer überlegenen Weise.
Natalie blickte sie unsicher an und erwiderte zerstreut:
»Jaja. Aber du weißt, ich habe die Schneiderin
zur Mutter bestellt, damit mein Mann das Kleid nicht
sieht. Rasch, sonst wird es zu spät zum Probieren.«
Sie küßte etwas summarisch ihre Kinder. Petra stand
mit sarkastisch-ergebenem Lächeln abseits.
Kaum hatte Osterburg bemerkt, daß er allein sei,
so erhob er sich, schüttelte unwillig den Kopf und
fletschte die Lippen. Dann verfügte er sich in die
Küche und fragte die Köchin, was sie zu essen habe.
Schwermütig stand er am Herd und stierte in die
Pfanne. Die Köchin zählte ihren Speisezettel an den
Fingern ab, und Osterburg schlurfte anscheinend betrübt
wieder hinaus. Sein Kopf war nur von einer
einzigen Idee erfüllt: Geldquellen zu entdecken, Gold
in Strömen aufzufangen um jeden Preis, durch jedes
Mittel. Ihm schien, das Geld müsse für ihn auf der
Straße liegen und er brauche nur hingehen und sich
bücken.
Als Natalie und Petra bei ihrer Mutter eintraten,
fragte diese, was mit Osterburg vorgegangen sei, er
benehme sich so sonderbar.
»Er ist der größte Narr, den es gibt, Mama«, versetzte
Natalie kalt.
»Du hast ihn doch geheiratet, mein Kind«, meinte
die alte Dame und ging zu ihrem Stuhl zurück.
Eigentlich ging sie nicht, sondern schob sich vorwärts.
Der Oberkörper, weit zurückgeneigt, schien nur lose
mit den Beinen verbunden, wodurch ihre Bewegungen
etwas Automatisches erhielten. Bei jedem Schritt
nickte sie mit dem Kopf wie eine Taube. Ihr Gesicht
war farblos und hatte etwas von einem Sandstein,
der vom Wasser zernagt ist. Sie hatte die Miene
einer abgesetzten Königin. Für die plumpeste Schmeichelei
empfänglich, war sie zugleich harmlos und
boshaft, gebrechlich und zähe, zänkisch und liebevoll.
Diese Frau hatte die Rasse verdorben. Sie
hatte die schlechte Mischung erzeugt, durch welche
die Klarheit und Regelmäßigkeit der Kristalle unmöglich
ist.
»Glaubst du, Mama, daß hellgrün mich zu blaß
macht?« fragte Natalie, die mit Ungeduld auf das
Kleid wartete.
»Mama, du sollst nicht so viel herumgehen«, mahnte
Petra.
»Zu meiner Zeit gab es andere Ehen«, sagte Frau
König mit rasselnder Stimme. »Da war nichts als
Einigkeit, Frieden, Gefälligkeit. Oft sag ich zu Petra
... nicht wahr, Petra –?« ...
»Pottgießer hat eine römische Statue aus Spalato
angekauft«, wandte sich Natalie an Petra. »Einen
Antinous. Es soll ein herrlicher Marmor sein, aus
der besten Zeit, sagt die Borromeo.«
So redete jede der drei Frauen von etwas anderem,
und sie schienen einander trotzdem zu verstehen. Sie
waren beweglich wie die Ringe im Wasser, die, um
denselben Mittelpunkt entstanden, sich nie berühren
können.
Vierundzwanzigstes Kapitel
Am Sonntag, dem Empfangstag bei Osterburgs,
füllten sich schon von fünf Uhr ab die
Zimmer mit Besuchern. Herr Martin Osterburg
stand bei einer Gruppe junger Leute und prahlte
mit dem Sieg eines Rennpferdes, auf welches niemand
gewettet hatte, ausgenommen er selbst. Als
jemand dies bezweifelte, konnte Martin nur noch
zwei Leute zugeben, die ebenfalls auf dieses Pferd
gesetzt hätten. Als aber ein anderer Herr behauptete,
dieser Sieg sei lange vorher ein öffentliches Geheimnis
gewesen, da wurde Osterburg vor Verachtung um
fünf Zentimeter länger, und seine grauen, bürstenartig
emporstehenden Haare erschienen wie lauter
entrüstete Ausrufungszeichen. Gleich darauf aber
war er wieder freundlich, begrüßte Emerich Hyrtl
und Armin Pottgießer, den von allen gefürchteten
Pottgießer. Pottgießer war Börsenmann, Zeitungsbesitzer,
Volksfreund, Regierungsfreund und vor
allem war er unermeßlich reich.
Mit erstauntem Gesicht trat jetzt Arnold Ansorge
ein. Dies war die Stunde, die ihm Natalie bestimmt
hatte und anstatt Natalies sah er eine Menge unbekannter
Menschen. Hinter ihm blieb die Türe geöffnet
und eine alte wie ein Fabeltier aufgeputzte
Dame, welcher zwei junge Mädchen folgten, schob
Arnold beiseite und trat rauschend ein. Natalie gewahrte
Arnold. Sehr verlegen ging sie ihm entgegen;
sie hatte nicht geglaubt, ihn heute schon bei sich zu
sehen. Sie bereute ihre Einladung, denn nach Hyrtls
Bericht fürchtete sie eine Art Ungeheuer in Arnold.
Sie reichte ihm die Hand und war schüchtern vor
lauter Neugierde. Sie bat ihn, ihr zu folgen und
führte ihn zu Petra und Hyrtl, die allein in einem
Winkel saßen. »Verzeiht,« sagte sie, »hier ist ein
Ausnahmsgast.«
Arnold setzte sich schweigend nieder. Die Luft war
heiß. »Ist hier eine Versammlung, Fräulein?« fragte
er, indem er Petra erwartungsvoll anschaute. Das
junge Mädchen errötete, lachte, war verwundert und
wußte nichts zu antworten. Hyrtl, der wie ein Ballon
von Vornehmheit dasaß, verlor den gleichgültig-grämlichen
Ausdruck, der in seinen Zügen vorherrschte und
sagte liebenswürdig: »Lassen Sie sich nicht beirren.
Die Leute sind nur da, weil sie ihre eigene Langeweile
vergessen, wenn sie einen andern sich langweilen
sehen.«
Petra, die durch Arnolds höfliche Aufmerksamkeit,
mit der er den Worten Hyrtls lauschte, gerührt wurde,
lächelte und ihre Augen nahmen plötzlich im Lampenlicht
ein schönes, tiefes Blau an.
Ein junger Mann mit gelber Gesichtsfarbe und
schwarzen, frechen Augen näherte sich. »Freund
Hyrtl sieht heute sehr bedeutungsvoll aus«, sagte er
mit offenbarer Geringschätzung.
»Bei mir hat jedes Härchen seine Bedeutung«, entgegnete
Hyrtl mit unschlüssiger Selbstironie.
»Dann müssen Sie aber mit den Jahren viel an
Bedeutung eingebüßt haben«, sagte der junge Mann.
Hyrtl lachte gutmütig-widerwillig und verzog verächtlich
das Gesicht. Beide verachteten einander aufs
äußerste. Petra spielte mit ihrer Uhrkette.
Was reden sie? dachte Arnold bestürzt. Er blickte
Petra an, sah rückwärts in das Zimmer, dann gegen
das Fenster und dachte abermals: was reden sie?
Natalie kam heran. Sie war rot, belebt, bewegt
von Reden, von Hören, von Lächeln. Mit leichter
Vertraulichkeit legte sie die Hand auf Arnolds Schulter;
er blickte überrascht empor. »Nun was treiben Sie?«
fragte sie, mit den Augen zwinkernd.
Auf einmal, er wußte nicht, wie es kam, begann
er zu erzählen. Vielleicht war es der Trieb, sich
aufzuschließen oder fühlte er das Verlangen, seine
Anwesenheit zu rechtfertigen. Er berichtete von der
Gewalttat, deren Opfer der Jude Elasser geworden
und wie alle Mühe vergebens gewesen war, ihm zu
seinem Recht zu verhelfen. Deswegen habe er sein
Gut verlassen und sei in die Stadt gekommen. Er
blickte jeden der drei Zuhörer leuchtend an, als ob
er überzeugt sei, daß sie sich gleich ihm selbst für
diese Sache entflammen würden. Er war in seiner
Weise beredt, und diese Beredsamkeit verschaffte ihm
den Respekt jener nichtigen Menschen.
»Das ist ja riesig interessant«, rief Natalie aus, als
er geendet.
»Allerdings eine alte Geschichte, das mit dem
Juden«, bemerkte Hyrtl frostig.
»An der Geschichte ist freilich nichts Neues,« erwiderte
Natalie; »aber daß er sich so dafür ins Zeug
legt, ist doch interessant.«
»Man müßte etwas dafür tun«, sagte Petra, die
sich schämte.
»Ich werde mit meinem Freund, dem Minister
Schrott sprechen«, entgegnete Hyrtl, indem er auf
die Uhr blickte.
»Dafür würde ich Ihnen sehr dankbar sein«, sagte
Arnold warm.
»Kommen Sie«, sagte Natalie.
Er stand auf und folgte ihr. Er glaubte, sie wollte
ihm etwas Wichtiges mitteilen, indessen führte sie
ihn zu ihrem Mann und sagte: »Da ist er.« Und als
Martin ein dummes Gesicht machte, fügte sie feierlich
hinzu: »Herr Ansorge, der Neffe von Borromeo.«
Martin schnalzte mit der Zunge, legte seinen Arm
sogleich in den Arnolds, steckte ein Kaviarbrot in den
Mund und sagte kauend: »Ist es wahr, daß Sie bis
jetzt in einer Höhle gelebt haben? Alle Welt erzählt
davon.«
Arnold sah den Mann überrascht an und wußte
nicht, was er aus ihm machen sollte. Er bückte sich,
um eine Nadel aufzuheben, die im Teppich blitzte,
dann ging er zur Türe, verließ den Raum und suchte
draußen seinen Mantel. Im Treppenhaus atmete
er tief die kühle Luft ein. Unten im Flur überholte
er Emerich Hyrtl, der vor ihm gegangen war und
sich nun mit einem gedrehten, mühsam elastischen
Schritt gegen die Straße bewegte, wo sein Wagen
wartete. Die Figur dieses Mannes war auffallend;
es schien, als säße auf künstlichen Beinen ein hölzerner
Rumpf. Auch der Kopf schien mit Kunst in die
Schultern eingedreht, und der allzukurze Hals verschwand
im Pelz des Mantels. In allen Bewegungen,
in jedem Blick lag drückende Langeweile und trostlose
Ruhe.
»Kann ich Sie irgendwohin fahren, Herr Ansorge?«
fragte er höflich und wohlwollend. Er schritt zu den
Pferden, patschte den Tieren auf die Lenden, und die
Eitelkeit eines Knaben zeigte sich auf seinem Gesicht.
Arnold verfolgte das Gebaren Hyrtls mit großen
Augen. Er empfand plötzlich Neugier, den Mann von
innen zu sehen, oder doch ohne Kleider, vielleicht
schlafend, jedenfalls aber wenn er sich allein glaubte.
»Wie kommen Sie eigentlich zu Osterburgs?« fragte
Hyrtl. Er hatte den Wagenschlag geöffnet, stellte
einen Fuß auf das Trittbrett und zündete eine
Zigarette an. »Es ist eine ganz interessante Familie«,
fuhr er fort, ohne sich an Arnolds Schweigen zu
kehren. »Das was Sie oben sehen, ist alles Maskerade.
Die Leute sind verschuldet vom Boden bis
in den Keller. Hinter den Möbeln und Bildern
hängen die Pfändungssiegel. Die Stühle, worauf
sie sitzen, gehören ihnen nicht. Jede Tasse Tee, die
wir oben trinken, ist sozusagen von andrer Leute Geld
gekocht. Natalie betrügt ihren Mann und Osterburg
betrügt seine Frau. Es ist alles Schwindel, was Sie
da sehen, eine Lotterwirtschaft ohnegleichen. Nur
Petra, das ist eine famose Person, ein ganz besondres
Mädchen. Na, adieu, leben Sie wohl.«
Er reichte Arnold die Hand, stieg ein und gab mit
eleganter Bewegung dem Kutscher das Zeichen, zu
fahren.
Arnold war wie vor den Kopf geschlagen. Nach
kurzem Überlegen beschloß er, von neuem hinaufzugehen
und zu sehen. Seltsam! Er wollte sehen,
was dort an den Mauern klebte, womit die Gesichter
getüncht waren; er erschien sich in wichtiger Angelegenheit
hintergangen und wollte sich nun Wahrheit holen.
Er eilte die Stufen empor, läutete, warf seinen
Mantel auf einen Berg von andern Mänteln und
trat mit suchendem Gesicht in die Gesellschaftsräume.
Zwischen Köpfen und Schultern sah er Natalie wie
durch eine Mauerspalte. Sie gewahrte ihn und
lächelte ihm zu wie einem vertrauten Freund. Sein
Gehen und Wiederkommen hatte sie nicht bemerkt.
Arnold suchte näher zu ihr zu gelangen, und plötzlich
vernahm er ihre Stimme hinter sich. »Denken Sie
nur, was ich soeben höre,« sagte sie mit einem vor
Erstaunen jauchzenden Lachen zu einer Dame; »Hanka
hat sich verheiratet ...«
Arnold drehte sich um. Er konnte in ihrem Gesicht
nichts gewahren als Jubel, Liebenswürdigkeit
und Vergnügen. Nein, der Mensch da drunten muß
gelogen haben, dachte er.
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Er wünschte zu wissen, wovon all die Leute
sprachen, die sich hier zusammengefunden hatten.
Mitteilsam glänzten die Augen, voll Geschäftigkeit
öffneten sich die Lippen, um zu schwatzen
und zu lachen. Viele Männer waren feist und ansehnlich;
andere sahen aus, als hätten sie schreckliche
Sorgen. Jemand ergriff Arnold beim Arm. Es
war Baron Drusius, der seine Freude ausdrückte, ihn
zu sehen. Er führte ihn zu einem jungen Mädchen,
das eine Narbe auf der Wange hatte. »Meine
Schwester«, sagte der Alte. Sie grüßte flüchtig,
lächelte flüchtig und wandte sich zu einem Herrn, der
in majestätisch-nachlässiger Haltung dastand und einem
Menschen glich, welcher von dem Bewußtsein unendlicher
Geistesüberlegenheit erfüllt ist, dies aber in
anmaßender Bescheidenheit zu verbergen wünscht.
»Das ist der berühmte Bernay, eine Kapazität«,
flüsterte Drusius Arnold zu. »Er will einen Staat
von freien Menschen gründen, ohne Steuern und
ohne Städte. Er hat eine Aktiengesellschaft gewonnen,
um einen Landstrich in Amerika anzukaufen ...«
Petra trat zu Arnold. Ihre vorgeschobene Oberlippe
gab dem verständigen Gesicht einen altjüngferlichen
Ausdruck. Sie machte Arnold wieder mit
fremden Menschen bekannt. Von neuem das unerklärliche
Namennennen, Verbeugen, Händedrücken.
Wer sind sie? dachte Arnold; was bedeutet das?
Einige waren so freundlich wie gegen jemand, auf
den man große Hoffnungen setzt. Arnold grübelte,
weshalb sie freundlich seien, ohne daß sie ihn kannten;
weshalb sie, zuerst kalt, plötzlich dies überfließende
Betragen annahmen, wenn sie sich verbeugt und die
Hand gereicht hatten. Sie schienen Geheimnisse zu
wissen und oft strahlte es feindselig und angstvoll
aus ihren Augen. Aber ihre Worte klangen freundlich
und leer.
Auf einmal kam Natalie mit Lebhaftigkeit auf ihn
zu und sagte: »Sind Sie nicht aus Podolin, Herr
Ansorge? Haben Sie da nicht Doktor Hanka kennen
gelernt? Anna Borromeo sagte mir, Sie kämen aus
Podolin. Sie kennen Hanka? Und kennen Sie auch
seine Frau, diese Beate? Ja? Erzählen Sie doch, –
bitte!«
Das alles sprudelte Natalie nur so. Sie war ganz
außer sich vor Neugierde und biß sich auf die Lippen
vor Verdruß, daß sie nicht früher den Einfall gehabt,
Arnold zu fragen.
Arnold fühlte sich abgestoßen durch das zudringliche
Wesen. Nachdem er einige Sekunden überlegend
geschwiegen, hob er in jener heitern Weise den Kopf,
die ihn sonderbar auszeichnete und sagte: »Herr
Hanka hätte ein besseres Frauenzimmer finden können,
glaube ich. Die Beate oder wie sie heißt, ist dem
Teufel zu schlecht.«
Natalie erblaßte, sah sich erschreckt um, legte einen
Finger auf den Mund und erwiderte betreten: »Was
machen Sie denn, Sie komischer Mensch! Das dürfen
Sie doch nicht so offen sagen. Geben Sie nur acht,
daß Doktor Hanka nicht so etwas zu Ohren kommt,
sonst können Sie sich schöne Unannehmlichkeiten zuziehen.
Er hat doch diese Beate seit ihrer Kindheit
für sich aufgezogen.«
»Es ist aber doch so, wie ich sage«, beharrte Arnold
kalt. »Von mir aus mag sie treiben, was sie will,
aber ich weiß, was ich weiß.«
Natalies Neugier war aufs äußerste gestiegen.
Ungeduldig nahm sie Arnolds Arm und führte
ihn in ein nebenan gelegenes, kleineres Gemach.
Zwei alte Herren saßen am Fenster und
unterhielten sich leise; sie erhoben sich nun und
gingen hinaus.
»Also was wissen Sie? Erzählen Sie! Erzählen
Sie!« begann Natalie sogleich.
Arnold runzelte die Stirn. »Gar nichts erzähl’ ich
Ihnen«, antwortete er grob.
Natalie sah ihn entsetzt an.
Er aber fuhr fort: »Ist es wahr, daß Sie gar kein
Geld haben, um die ganze Herrlichkeit zu bezahlen,
die Sie da den Leuten vormachen? Ich hab’ auch
noch ganz andre Dinge gehört, davon will ich aber
jetzt nicht reden. Was treiben Sie denn eigentlich?
Warum ist denn das so?«
Natalies Entsetzen war mitleiderregend. Sie zitterte
über den ganzen Körper, trat einen Schritt zurück
und flüsterte: »Was fällt Ihnen denn ein? Sind
Sie toll geworden, Monsieur?«
Ah, Monsieur sagt sie zu mir, dachte Arnold verdrießlich.
Als er jedoch ihre hübschen Kinderaugen
voll Tränen sah, wurde er gerührt. »Wenn es nicht
wahr wäre, würden Sie nicht weinen«, bemerkte er
treuherzig.
Natalie hätte plötzlich lachen mögen. Sie zog das
Taschentuch und verbarg das Gesicht. Sie erstickte
beinahe an dem unterdrückten Lachanfall. Dann kam
ihr ein Einfall, der ihr in den Ernst zurückverhalf.
Er ist reich, dachte sie, man könnte seine Dummheit
benutzen.
»Sie sind ein sonderbarer Mensch«, sagte sie, das
Gesicht erhebend und unter Tränen lächelnd. »Wir
müssen ausführlich miteinander reden, wir würden
uns sicher verstehen. Kommen Sie doch mal, wenn
ich allein bin.«
Arnold verabschiedete sich und ging.
Er aß bei Borromeos zu Abend. »Wie hast du dir
die Zeit vertrieben, Arnold?« fragte Anna Borromeo.
Er dachte einige Sekunden lang nach und erwiderte:
»Ich will nicht die Zeit vertreiben. Ich will die Zeit
halten.«
Frau Anna lachte.
Borromeo liebkoste seinen Bart. »Er hat ganz
recht«, sagte er. »Man sollte diese Redensarten immer
beim Schwanz packen und sie nicht lassen, bis sie zertreten
sind.«
Arnold betrachtete Borromeo und die Frau und
lauschte ihrem spärlichen Gespräch. Sie sprachen wie
durch eine Wand. Sie sahen einander nie an, ohne
daß in ihren Blicken etwas wie Unmut oder Feigheit
lag. Noch gestern hätte Arnold das nicht gespürt.
Einen Augenblick lang wollte er das rätselhafte Dunkel,
das zwischen den zwei Personen herrschte, durch eine
ehrliche Frage ergründen. Daß er dies nicht vermochte,
daß er einsah, das dürfe nicht geschehen, war
die Ursache zu tieferem Nachdenken. Wo er stand,
wo er saß, wohin sein Herz sich wandte, überall wuchs
ein Anderssein-Müssen aus dem Boden.
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Hankas Verheiratung hatte in aller Stille stattgefunden.
Er blieb mit seiner jungen Frau vorläufig
in der Stadt und im Herbst wollten sie nach
Paris. Beate träumte von Italien wie die kleinen
Bürgermädchen, die in der Überlieferung der Hochzeitsreise
aufgewachsen sind und sich darin vergnügen,
ihr gesellschaftlich anerkanntes Glück spazieren zu führen.
Einstweilen gab sie sich in der schönen Wohnung zufrieden,
welche Hanka in einer Villa in Döbling eingerichtet
hatte. Aber in heimlichen Augenblicken gestand
sie sich, daß sie das Leben im abseits gelegenen
Häuschen eigentlich kenne, daß sie der Einsamkeit
müde sei und daß sie endlich Menschen, Straßen,
Bälle und Theater haben wolle. Sie stellte sich trotzdem,
als sei Hankas Glück auch das ihre. Sie stellte
sich, als läse sie in den Büchern, die er ihr empfahl,
als freue sie sich mit den Büsten, Stichen und Kunstdingen,
mit denen sein Geschmack und sein Verständnis
sie umgeben hatte. Sie stellte sich, als habe sie die
Welt vergessen.
Hanka befand sich wohl. Er kam sich im stillen
wie ein Pudel vor, der in der Sonne liegt und nach
Fliegen schnappt, denn er gehörte zu den Leuten,
die sich im Glück possierlich finden. Er betrieb historische
und nationalökonomische Studien, gedachte
seines früheren Lebens mit Abscheu und sah die Zukunft
klar.
Beates Züge wurden kräftiger und energischer. Ihr
Kinn ründete sich und um den bogenförmigen Mund
legte sich das Lächeln der Gewißheit. Ihr Körper
zeigte meist eine Ruhelosigkeit der Bewegung, die
unter beobachtenden Blicken ins Krankhafte ging. Oft
war es, als schäme sie sich ihrer Füße, ihrer Hände,
ihres Halses, und sinnlich schamvoll wurde ihr Lächeln
auf der Straße. Dann redete sie Dinge, unter deren
Schutz ein hartnäckiger und boshafter Gedanke zu
schlummern schien. Hanka blieb für sie ein großes,
ernsthaftes Tier, belustigend in seiner Gravität. Sie
glaubte sich ihm überlegen, denn seine Bildung
schätzte sie gering und die Art seines Geistes war ihr
unbekannt.
Unter allen Bekannten, die für Hanka in einem
feindlichen Land hausten, suchte er sich doch Natalie
als eine Ausnahme heraus. Für sie bewahrte er die
Zuneigung eines Großvaters, nach ihrem bunten Geschwätz
konnte er sich zuweilen wünschen. Er hatte
Beate diesen Besuch versprochen, aber zuerst wollte
er allein gehen, die lästigen Fragen allein schlucken.
Er fand Natalie und Petra zu Hause. Natalie
begrüßte ihn mit erkünstelter Entrüstung. Ihr Gaumen
schien von tausend Fragen zu springen. Hanka lehnte
sich in den Sessel zurück, schlug schmunzelnd die Beine
übereinander und machte ein heiteres und geduldiges
Gesicht. Natalie konnte nicht länger an sich halten.
»Doktor!« rief sie, »ist das eine Art, sich zu verheiraten?
Und ist das eine Art, zu mir zu kommen?
Wo ist Ihre Frau?«
»Erst muß ich auskundschaften, meine Teure«, erwiderte
Hanka humoristisch. Ȇbrigens freue ich mich,
Sie wiederzusehen.«
Petra lachte, wie so oft, wenn nichts zu lachen
war. Es geschah meist, wenn sie ihre stillen Vorstellungen
über das Benehmen eines Menschen bestätigt
fand.
Das Zimmermädchen trat ein und sagte, ein Herr
Ansorge sei da. Natalie nickte überrascht und verlegen
und gleich darauf kam Arnold. Hankas Verwunderung
war außerordentlich. Er blickte von einem
zum andern und das ergötzte Natalie. Sie kam sich
wichtig vor und sah nun selbst etwas Geheimnisvolles
in Arnolds Besuch. Während sie ihn begrüßte, klärte
Petra den erstaunten Hanka auf.
Arnold nahm Platz; er war schweigsam und antwortete
nur spärlich auf Fragen. Er hatte geglaubt,
Natalie allein zu finden und es schien ihm nun,
als ob sie überhaupt nie allein sei. Natalie
spürte auch so etwas heraus, denn sie war ziemlich
kleinlaut geworden. Sie hatte Angst vor diesem
Menschen.
»Sie haben sich rasch zurechtgefunden«, sagte Hanka
zu Arnold. »Ich dachte nicht, Sie schon im Mittelpunkt
der Gesellschaft zu finden.« Trotzdem er nun
wußte, wie es zugegangen war, hatte Arnolds Anwesenheit
für ihn immer noch etwas Unerklärliches.
Er war gewohnt, sich Natalie gegenüber in einer unveränderlich
trockenen und spaßhaften Weise zu betragen;
Natalie hatte sich diese Manier zurechtgelegt
und beide konnten stets hinter den Worten, womit
sie einander spielerisch betrogen, etwas anderes suchen.
Dies reizte heute Hanka nicht. Schließlich schwiegen
sie alle drei. Natalie war ratlos. In heller Verzweiflung
studierte sie Arnolds Gesicht, fand die Nase
zu klein, den Mund häßlich, das Haar zu glatt und
lachte endlich vor Zorn und Verlegenheit gerade hinaus.
Das ärgerte Arnold.
Hanka erhob sich und Arnold entschloß sich, mit
ihm zu gehen. Natalie bat ihn, noch zu bleiben,
aber er schüttelte den Kopf.
»Ich habe etwas Wichtiges mit Ihnen zu sprechen,«
sagte sie; »wenn Sie heute keine Zeit haben, kommen
Sie nächsten Donnerstag um fünf Uhr.«
Er versprach es. Ihre Worte verwunderten ihn
immerhin, und er wäre nun am liebsten gleich dageblieben,
doch wollte er mit Hanka reden, denn der
stille Mann fing an, ihm zu gefallen.
»Was machen Sie eigentlich in Wien?« fragte
Hanka auf der Straße.
Mit wenigen Worten, fast mit denselben, die er
neulich gegen Natalie, Petra und Hyrtl gebraucht,
setzte Arnold sein Vorhaben auseinander.
Hanka machte große Augen. »Um Himmelswillen,«
sagte er, »das ist doch eine Donquichoterie.«
»Was heißt das?«
»Na, wissen Sie, der Junker Don Quichote, der
zog aus, um gegen Windmühlen zu kämpfen. Lesen
Sie doch die famose Geschichte. Übrigens, ich will
Ihnen nicht zu nahe treten.« Er sah Arnold verstohlen
von der Seite an und wußte nicht, ob er ihn
närrisch oder bewundernswert finden sollte.
Arnold verdroß jedoch diese Art zu reden, die ihm
nun schon wohlbekannt war, und die ihm etwas
Niedriges zu enthalten schien. An der nächsten
Straßenecke verabschiedete er sich daher kurz und
brüsk.
Hanka spazierte nachdenklich nach Hause. Beate
lag auf einem Langstuhl und blickte regungslos an
die Decke.
»Schläfst du, Beate?« fragte Hanka väterlich.
Sie verdrehte die Augen und erwiderte, mit den
Füßen unter dem Kleid strampelnd: »Ich langweile
mich, ich langweile mich.«
Hanka schwieg betroffen. Beate erhob sich, reckte
gähnend die Arme und hielt sie dann vor sich, wie
zu einer nachlässigen Umarmung. Auf den ruhigen
Vorschlag Hankas, mit ihm eine Spazierfahrt zu
machen, kleidete sie sich um und saß bald darauf mit
festlichem Gesicht an seiner Seite im Wagen. Er
sollte ihr erzählen, und berichtete von Natalie. Während
er umständlich und etwas grübelnd seine Gedanken
ausdrückte, verschlang Beate mit den Blicken
die Leute der Straße und bemerkte nicht, daß Hanka
mit spöttischem Schmunzeln abbrach. Sie ist jung,
lebendig und hungrig, sagte er sich, legte ein Bein
über das andere und blies den Rauch seiner Zigarre
mit der Versöhnlichkeit eines alten Landpfarrers in
die frische Frühlingsluft. Beate schmiegte sich näher
an ihn, als läge ihr daran, sich dankbar zu erweisen
und sann in unergründlicher Schlauheit nach Mitteln,
um Versprechungen zu erhalten. Aber was sie begehrte,
war formlos, denn sie hatte mehr Wünsche
als Gedanken. Alle Wege ihrer Phantasie waren
mit Begierden belagert, deren Schatten ihr Gesicht
selbst im Schlaf überzogen. Um Beschäftigung zu
haben, spann sie Ränke gegen die Dienstboten, schrieb
sie Briefe an eingebildete Personen, erzählte sie erfundene
Träume, streute sie Verleumdungen über
Personen aus, mit denen sie kaum gesprochen hatte.
Es kam heraus, daß sie im Gartenhäuschen eine
Katze an den Beinen aufgehängt hatte. Hanka machte
ihr Vorwürfe. Während er dann ein Buch nahm und
zu lesen begann, umarmte sie ihn und biß ihn ins
Ohr. Hanka riß die Augen auf, ertappte ihren von
Ungeduld, ja von Haß glühenden Blick und starrte
sie sprachlos an. Sie wurde finster und nahm eine
Moden-Zeitschrift, in der sie wahllos blätterte. Sich
ein Bild des Mannes zu entwerfen, mit dem sie
lebte, lag ihr fern. Ihr war alles in solcher Nähe,
daß ihr Geist nicht zum Schauen, sondern nur zum Betasten
kam. Sie wollte Leidenschaften um sich sehen.
Hanka freilich fühlte sich als den Herrn. Anders
zu leben war ihm nicht möglich. Glücklich sein hieß
für ihn, unabhängig sein und jeden Zustand des Behagens
mit freiem Urteil abmessen zu können. Da
er so nach Sicherheit im Innern strebte, gab er nach
außen Verläßlichkeit, eine Eigenschaft, worauf die
Unverläßlichsten am meisten bauen und die sie am
schnellsten entdecken.
In der Nacht konnte Hanka nicht schlafen. Er
drehte die elektrische Lampe auf und versuchte zu
lesen. Aber die Worte entglitten ihm. Dann stützte
er sich auf den Arm und betrachtete Beates Gesicht.
Es erschien ihm so fremd in seinem Schlaf, daß er
einen leichten Schrecken verspürte. Die krampfhaft
verschlossenen Lider ließen die dunkeln Streifen der
Wimpern kaum bemerkbar erzittern. Die gewölbte
Stirn war feucht, die weißen Schläfen bebten unter
dem Lauf des Blutes. Die Lippen bewegten sich in
unhörbaren Worten, welche vielleicht den Zügen ihren
verschlossenen und rohen Ausdruck gaben. Hanka berührte
ihre Schulter, um sie von dem quälenden
Schlaf zu befreien. Kaum war sie erwacht und hatte
ihn mit einem feuchten Blick angesehen, als sie ihre
Arme um ihn preßte und ihren Körper fest an ihn
schmiegte. »Ach Alexander,« flüsterte sie mit gebrochener
Stimme, »du mußt mir etwas kaufen. Willst du?«
Sie wünschte sich eine Perlen-Halskette, die sie bei
einem Juwelier gesehen. »Nie wieder will ich etwas,
wenn du mir den Schmuck kaufst«, sagte sie.
Hanka versprach es. Aber darauf schwieg er bedachtsam.
Unzufriedenheit entstand in ihm. Gründe
der Leidenschaft konnten ihn nachgiebig stimmen, aber
sie sickerten durch bis in seine Vernunft, wo eine ernsthafte
Prüfung ihrer harrte. Dennoch schloß er Beate
in alle Betrachtungen als das wertvollste Besitztum
seines Lebens. Er sah in ihr das reine Kind, das sich
ihm aufbewahrt. Daß er selbst es gewesen, der in
einer Handlung von dunkler Kraft schon so frühe ihre
Zukunft mit der seinen verknüpft, das erschien ihm
als ein besonders trostvoller Wink des Schicksals.
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Als Arnold am folgenden Nachmittag in das
Speisezimmer trat, waren Hyrtl und Pottgießer
bei Anna Borromeo.
Kurz darauf wurde Frau Borromeo aus dem Zimmer
gerufen. Ein Börsen-Agent war draußen, der
sie zu sprechen wünschte. Pottgießer sprach von einer
großen Gesellschaft, die demnächst in seinem Hause
stattfinden sollte und lud Arnold ein.
Anna Borromeo kam zurück. Sie war sehr bleich,
sagte aber mit heuchlerischer Lebhaftigkeit: »Ich höre
eben, daß es im Parlament morgen eine Interpellation
über den Fall Elasser gibt. Das ist doch was
für dich, Arnold.«
»Ich weiß es«, erwiderte Arnold. »Ich habe den
Abgeordneten unseres Bezirks dazu veranlaßt.«
Hyrtl und Pottgießer sahen ihn mit sonderbaren
Blicken an.
»Da können Sie einen netten Skandal erleben«,
bemerkte Pottgießer, indem sich sein Gesicht verfinsterte.
»Wozu mischen Sie sich eigentlich da hinein?«
wandte er sich an Arnold. »Die Juden sollen
ihre Geschäfte selber austragen.«
»Sie sind doch auch ein Jude,« entgegnete Arnold
verwundert und maß ihn von oben bis unten. »Gestern
erst hat mir’s jemand erzählt, zufällig.«
Anna Borromeo war sichtlich erschrocken, Hyrtl
spitzte moquant die Lippen.
»Ich war ein Jude,« versetzte Pottgießer scharf,
»und ich hatte innerlich nie etwas mit Juden gemein.
Aber lassen wir das.« Er lachte halb spöttisch, halb
verlegen.
Hyrtl verabschiedete sich. Da Arnold sich ebenfalls
erhoben hatte und in der Nähe der Türe stand, drückte
ihm Hyrtl mit befremdlicher Herzlichkeit die Hand
und sagte: »Kommen Sie doch einmal auf eine
Stunde zu mir. Ich langweile mich so.« Nichts
konnte ehrlicher klingen als diese wenigen Worte.
Arnold schaute ihn groß an und lächelte freundschaftlich.
Er versprach, zu kommen.
Er erwartete mit Ungeduld den nächsten Morgen.
Als er im Zuhörerraum des Parlaments saß, war
es unten noch leer. Langsam füllten sich die Reihen,
auch rings um ihn nahmen Leute Platz. Wenn dies
anfangs den Schein der Feierlichkeit besessen hatte,
sehr verursacht durch die Schönheit des Raums, war
es doch nur so lange, bis sich dem Auge viele von
den Gestalten hier oben und dort unten besonders
darboten. Denn diese Gesichter waren wie von einem
Folterinstrument zu dem Ausdruck des Hohns, der
Habsucht, der Niedrigkeit, der Geistesertötung, des
Übelwollens, der Unwissenheit, der Langeweile und
des fanatischen Hasses verzerrt. Indessen begnügte
sich Arnold mit dem Bewußtsein, daß sich die Gesetzgeber
des Landes hier versammelten und ein Teilchen
des Volkes, das seine Richter und Väter kennen
zu lernen wünschte; es sei also besser zu hören, als
zu sehen und nützlicher zu warten als zu urteilen.
Erst muß man sehen und lernen, dachte er, indem
er dem Beginn der Verhandlungen lauschte und auf
ein erschreckendes Geschrei aufmerksam wurde, wie
unter den Streitenden in einem Bauernwirtshaus.
Sobald nämlich der Name Elasser gefallen war, erhob
sich ein betäubender Lärm, der in Schimpf- und
Hohnreden bestand; viele erhoben sich, gestikulierten
und brüllten; auch die Leute um Arnold fingen an
zu lachen und zu brüllen, stiegen auf die Bänke und
schmähten gegen die Juden und dergleichen. Die
Parteigänger gaben ihre Sache natürlich nicht auf;
auch ihrerseits erprobten sie die Kraft der Lunge.
Dann kam einer zu Wort; er redete aber schlecht,
stieß mit der Zunge an und ging um die eigentliche
Sache feig herum. Niemand kümmerte sich um das,
was er sagte. Mitten in seinem hudelnden Gewäsch
erhob sich johlendes Gelächter, viele begannen wiederum
zu schreien, zu pfeifen, zu zetern und das dauerte
mindestens eine Viertelstunde lang, so daß ein richtiges
Wort gar nicht mehr herausdrang.
Plötzlich läutete der Präsident, verkündigte den
Schluß der Debatte, und es wurde von etwas anderm
gesprochen.
Arnold schaute sich um, als ob er träume. Er
hatte Lust, hinunterzuschreien und erhob unwillkürlich
die Faust. »Das ist ja heillos, was die da treiben«,
sagte er voll Wut zu seinem Nachbar, einem ungeheuerlichen
Fettwanst, der ihn höhnisch anstarrte.
Er sprang auf, verließ die Tribüne, lief durch
Treppen und Gänge hinunter, kam in eine prächtige,
mit Säulen geschmückte Halle, wo plötzlich ein junger,
gewählt gekleideter Mensch auf ihn zukam und mit
gestreckten Händen und dem Ausdruck höchster Überraschung
»Arnold!« rief. Arnold blickte empor und
erkannte Maxim Specht. Doch seine Sinne waren
so sehr von dem Vorgefallenen benommen, daß er
leer nachdenkend in das Gesicht des ehemaligen
Lehrers starrte. Specht war von dieser Kälte unangenehm
berührt, ließ sich aber nichts merken, stellte
Fragen über Fragen, schien voll Nachrichten, Neuigkeiten,
Neugier, aber auch voll Behagen, Lebenslust
und Lebenskenntnis. Arnold teilte ihm auf sein Verlangen
mit, wo er wohnte, darauf trennten sie sich.
Auf der Straße dachte Arnold nicht mehr an die
Begegnung.
Er saß zu Hause eine Stunde lang in seinem Zimmer,
als ihn Anna Borromeo rufen ließ. Er ging
hinunter. Anna lag auf der Ottomane. Sie trug
ein weißes, loses Gewand, welches über die Füße
hinweg seitlich zur Erde fiel. Den Kopf hatte sie
hintübergesenkt und die Augen geschlossen. Langsam
öffnete sie die Lider, als Arnold eintrat und winkte
ihm mit dem Arm, näher zu kommen. »Du siehst
mich in Angst und Sorge, Arnold«, begann sie mit
ruhiger Stimme. »Willst du mir aus einer großen
Verlegenheit helfen?« Sie stützte sich auf den Ellbogen,
hob sich empor und sah ihn erwartungsvoll an.
»Was ist es?« fragte Arnold.
Frau Borromeo schob ihre Kleidschleppe gegen sich
heran und setzte sich aufrecht mit untergeschlagenen
Armen. »Ich brauche nicht allein einen Helfer, sondern
auch einen verschwiegenen Helfer«, sagte sie.
»Nun das bist du, verschwiegen bist du, du bist ja
ein Mann. Warum nimmst du nicht Platz?«
Arnold setzte sich auf einen der niedrigen Polstersessel.
»Erst muß ich wissen, was es ist«, sagte er
kühl.
»Ich brauche zehntausend Gulden, heute noch«,
sagte die Frau und sah ihm starr in die Augen.
»Zehntausend Gulden! Donnerwetter, das ist viel«,
rief er aus. »So viel hab ich in meinem ganzen Leben
nicht gebraucht.«
»Ich habe eine drückende Börsenschuld. Ich habe
unglücklich spekuliert. Dein Onkel darf nichts davon
erfahren. Ich verlange natürlich kein Geschenk von
dir. In drei bis vier Wochen werde ich dir’s zurückgeben.«
»Ah so!« sagte Arnold.
»In gewissem Sinn hast du mein Schicksal in der
Hand«, fuhr Anna fort. Sie erhob sich und schritt,
immer noch mit verschränkten Armen, auf und ab.
Dann blieb sie neben ihm stehen. Er blickte empor
und sah das weiße Kinn, den roten Mund und einen
feindseligen Blick ihrer Augen. Da erhob er sich,
trat zum Tisch, riß ein Blatt aus dem Anweisungsbuch
für die Bank, das er in der Tasche trug, nahm
die Feder und schrieb.
Er reichte Anna Borromeo den Scheck; sie dankte
und er ging. In seinem Zimmer angelangt, öffnete
er die Fenster, setzte sich rittlings auf einen Stuhl
und schaute nachdenklich in die Luft.
Achtundzwanzigstes Kapitel
Von den Büchern, mit denen sich Arnold neuerdings
beschäftigte, machten die juristischen einen
großen Teil aus. Er las sie mit Scharfsinn und
Aufmerksamkeit. Aber dabei Wissenschaft zu gewinnen,
war nicht leicht und von einer glatten
Straße sah er sich bisweilen in eine Wildnis verschlagen.
Er erkannte dann stets, daß es gefährlich
sei, den Weg fortzusetzen und fing wieder am Anfang
an. Damit war eine gewisse Ermüdung verknüpft,
und er griff zu etwas Neuem, um nach einer andern
Richtung, auf einer andern Bahn alsbald von neuem
unberaten im fremdesten Gebiet sich zu finden. Allmählich
wurde es ihm schwer, die Ordnung zu bewahren,
nach außen und nach innen. Er wußte nicht,
ob das Leere wirklich leer sei und das Unverständliche
nur ihm allein unverständlich. Nicht selten
tauchte er in ein finsteres Wasser hinab, um mit Geringschätzung
wahrzunehmen, wie leicht der Schein
von Tiefe zu vernichten sei. Aber vergebens suchte
er Grenzen zu ziehen. Wie in dunklen Nächten
manchmal die Gegend eine schreckliche Weite zu haben
scheint und zugleich eine undurchdringliche Abgeschlossenheit,
so geschah es hier. Er griff dahin und
dorthin; Schwieriges erschien leicht, das Leichte unüberwindlich.
Jeden Gedanken an Beistand schloß
er vorläufig mit sonderbarem Starrsinn aus; er war
der Meinung, daß keine fremde Weisung ihm die
Dienste des eigenen Instinktes leisten konnte.
Manchmal nahm er zu Dichtungen seine Zuflucht.
Aber das Farbig-Täuschende, ja sogar das Bildhafte
erregte sein Mißtrauen, auch wo ein Meister schuf.
Was mit Kunst zusammenhing, nahm er nicht sehr
ernst, schon weil er das Element der Gestaltung nicht
zu würdigen vermochte und er den Werken des Geistes
naiv ihren unmittelbaren Nutzen abfragte.
Er griff nach Zeitungen, um auf solche Art das
Wirkliche an sich zu pressen. Torheit, Verbrechen,
Wahnsinn und Verzweiflung boten sich nun in kalter
Nähe und Trockenheit. Was Geschwätz und Schiefheit
war, mußte abgestreift werden. Vom Politischen
blieb nur Lüge, Hader und Täuschung; oder Namen:
Gott, Vaterland, Kirche, Freiheit, Güterverteilung.
Eine Zeitlang irrte Arnold zwischen Phrasen wie
ein Gefangener umher. Er wollte das Festeste ergreifen,
das ihm erreichbar war, und so kam er zur
Zahl und ihrer Wissenschaft. In seinem Sinn schien
es heller zu werden. Pforten, denen Licht entstrahlte,
öffneten sich, durch eine Formel gesprengt. Wie die
Sehne des Bogens nach jeder Spannung in ihre
natürliche Lage zurückkehrt, so erschlaffte weder, noch
überspannte sich sein Geist bei solcher Arbeit. Aber
er überschätzte das Licht; er überschätzte die Klarheit,
in welcher die Dinge demjenigen sich zeigen, der seine
innere Flamme zur Beleuchtung nach außen verwendet.
Es war ein regnerischer Tag; am Abend sollte die
Gesellschaft bei Pottgießer sein, zu der Arnold geladen
war. Gegen vier Uhr brachte der Diener eine
Karte mit dem Namen Maxim Spechts.
Specht trat ein, noch eleganter gekleidet als neulich,
sorgfältig rasiert und frisiert, lächelnd und liebenswürdig.
Er schilderte alsbald das Leben, das er jetzt
führte, und mit innerer Unsicherheit versuchte er es,
die Vergangenheit mit der Gegenwart in einen
geistigen Einklang zu bringen. Aber wenn jemand
einen allzu vollen Becher trägt, kann er nicht gut verbergen,
daß seine Hand von der überquellenden
Flüssigkeit benetzt worden ist. Arnold war nachdenklich.
Er fragte sich umsonst, weshalb Specht gekommen
sei; er fragte sich, was aus dem sozialistischen
Schullehrer geworden sei, der so großen Jammer mit
dem Elend des Volkes empfunden hatte.
»Sie scheinen viel zu lesen«, bemerkte Specht, auf
die zahlreichen Bücher blickend, die auf dem Tisch
lagen. Ȇbrigens kann ich Ihnen einen Roman
empfehlen, den ich jetzt gelesen habe. Ich will Ihnen
das Buch leihen. Es ist eine geistreiche Satire auf
unsre heutige Gesellschaft.«
Arnold schüttelte den Kopf. »Ich brauch’ das
nicht,« erwiderte er abwehrend. »Das Geistreiche
schmeckt mir nicht. Romane les’ ich nicht. In den
Romanen erbleichen die Leute zu oft.«
Specht meckerte. »Köstlich«, sagte er.
»Wie geht es Ihnen bei Ihrer Zeitung?« fragte
Arnold.
»O, ausgezeichnet. Ich habe mir eine angesehene
Stellung gemacht. Ich sage Ihnen, Arnold, ich
habe Dinge gesehen und Menschen kennen gelernt,
von denen ich mir früher in meiner Schullehrerweisheit
nichts habe träumen lassen. Es ist doch
was Herrliches um so eine Großstadt.«
»Ja, das haben Sie immer behauptet.«
»Und finden Sie das nicht?«
»Es ist mir zu viel, vorläufig. Ich muß mich
erst hineinleben.«
»Was mich betrifft, so tanze ich von einem Vergnügen
ins andere. Kostet aber auch teuflisches Geld;
besonders die Weiber. Weiber gibt es hier, Arnold!«
Er schnalzte mit der Zunge. »Ich brauchte nur einen
reichen Verwandten oder Freund,« fuhr er fort, »und
ich würde es bis zum Minister bringen.«
Der Zusammenhang der Argumente entging Arnold.
Specht verabschiedete sich mit dem Versprechen,
bald wieder zu kommen; er habe was auf dem Herzen,
fügte er hastig hinzu.
Arnold stand am Fenster und sah ihn auf der Straße
in einen eleganten Wagen steigen, der vor dem Haus
gewartet hatte. Ei, dachte er, dem muß es gut gehen.
Der Diener kam mit einer Anfrage von Doktor
Borromeo herauf, ob Arnold am Pottgießerschen
Abend teilnehmen würde. Arnold bejahte. Dieser
Abend stellte sich ihm nicht als Vergnügen dar, sondern
er betrachtete ihn ernsthaft als einen Teil seiner
Aufgaben.
Als Borromeo Arnolds Antwort erhalten hatte,
ging er in das Zimmer seiner Frau. Leise trat er
ein, als ginge er auf den Fußspitzen. Anna saß lesend
am Fenster. Ein blasses, sommerfleckiges Fräulein
kämmte ihr das Haar. Der Doktor stutzte und wollte
sich wieder entfernen.
»Hast du mir etwas zu sagen, Friedrich?« fragte
Frau Borromeo sanft. »Geben Sie acht, Lina,
Sie tun mir weh,« wandte sie sich an das Fräulein
und klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den
Boden.
»Ich wollte dich nur verständigen, Anna, daß es
mir unmöglich ist, zu Pottgießer zu gehen,« sagte der
Doktor.
»Berufspflichten?« spottete Anna Borromeo, ohne
den geringsten Verdruß zu zeigen. »Dann wird mir
nichts übrig bleiben als ohne dich zu gehen,« fügte
sie kalt hinzu.
Borromeo zuckte die Achseln und sah einer umhersummenden
Biene nach. Er stand wie ein untertäniger
Auftragnehmer an der Türe.
»Dein Neffe wird mich führen, denke ich,« sagte
Anna stirnrunzelnd.
Der Doktor bejahte.
»Er zeigt überhaupt glänzende Talente zum Gesellschaftsmenschen,«
fuhr sie fort. »Ich muß gestehen,
daß ich nach deiner Schilderung etwas anderes
erwartet habe. Ich habe einen Himmelsstürmer erwartet
und sehe nichts als einen stillen, jungen Mann,
der sich ganz artig anzupassen versteht.«
Das Frisierfräulein war fertig und empfahl sich.
Doktor Borromeo begann langsam auf und ab zu
gehen und sich den Bart zu streichen. »Ich habe
keinerlei Verantwortung dafür übernommen, bis zu
welchem Grade du dich an Arnold amüsieren kannst,«
sagte er endlich. »Wenn du an ihm nicht mehr findest,
als er dir zeigt, so kann es dir gehen wie dem reichen
Mann mit Jesus Christus. Wir sind nie erbärmlicher,
als wenn wir auf etwas herunterzublicken glauben,
was hoch über uns steht.«
Anna Borromeo senkte den Kopf. Sie war verständig
genug, um einzusehen, daß sie einen falschen
Ton angeschlagen habe. Ihr Wesen war anteilvoller,
als sie rasch erwiderte: »Ganz gut; nehmen wir an,
er ist das, was du in ihm siehst. Warum scheint
er dann so dumpf, so erstaunt, so simpel? Wenn so
ein Mensch, wie du ihn glaubst, in unsere Kreise versetzt
wird, müßte er doch wie Dynamit wirken. Aber
es macht den Eindruck, als ob ihn alles kalt ließe.
Er lächelt und schaut und schweigt. Er hat sogar gelernt,
sich in unserer Manier zu verbeugen. Warum
höre ich nichts von ihm, was mir Aufschluß gibt?
Warum tut er nichts, was mir imponiert?«
Anna Borromeo hatte ihr Gesicht erhoben. Ihre
Wangen waren blaß, der Ausdruck ihrer Augen
leidenschaftlich und drohend. Sie leugnete, um zu
leugnen. Sie haßte, weil sie zu lieben sich fürchtete.
»Lassen wir es,« sagte Borromeo verdrießlich und
wehrte mit der Hand ab.
»Du hast schlechte Gewohnheiten mir gegenüber
angenommen,« sagte Anna. »Es ist leicht, ein Thema
abzubrechen, das einem über den Kopf wächst.«
Friedrich Borromeo blieb vor ihr stehen. »Du
hast recht,« begann er sachlich, »aber würde es dich
denn bekehren, wenn ich dir sagen würde, worin du
irrst? Keine Wahrheit gilt als die erlebte. Ein
Charakter von nicht so hoher Bedeutung würde das
tun, was du von Arnold erwartest. Er würde um
sich werfen, Funken schlagen, sich geberden, fruchtlose
Unternehmungen anstellen. Dieser Mensch aber hat
die Ruhe, das zu erwarten, was die Natur in ihm
erschafft –«
Er hielt inne, als er das ungläubige Lächeln Annas
bemerkte, schob mit einem wunderlichen Ausdruck
seinen Kragen zurecht und verließ das Zimmer.
Anna Borromeo läutete dem Zimmermädchen,
welches über eine Stunde um sie beschäftigt war.
Als sie fertig war und in das Speisezimmer trat,
kam auch schon Arnold herab. Der Wagen wartete
unten.
Das Haus, welches Pottgießer bewohnte, war eine
Sehenswürdigkeit. Marmorbelegte Fluren führten
zu den Empfangsräumen. Die Säle waren so hochgebaut
und luftvoll, daß auch die gedrängteste Versammlung
ihnen nichts von ihrer Weite zu rauben
schien. Kostbare Kunstgegenstände, Bilder, Statuen,
Teppiche, Nippes, Vasen boten sich dem Auge in
Fülle.
Arnold gewahrte Natalie und begrüßte sie. Sie
war in hellgrünem Moireekleid, trug Perlen um den
Hals und Diamanten im Haar. Es war bezaubernd,
sie lächeln zu sehen, als ob sie sich selbst beneide und
bewundere. Während sie an Arnolds Seite ging,
grüßte sie die Grüßenden, schelmisch beschämt oder
mit kindlichem Triumph. Jeden kannte sie, jedermanns
Erlebnisse wußte sie zu erzählen. Da war
eine junge Frau, sechs Jahre verheiratet und noch
kinderlos. Und warum? Weil sie es für unvornehm
gehalten hatte, im ersten Ehejahr ein Kind zu bekommen,
wurde der Storch abbestellt. Aber im
zweiten Jahr kam auch keines, im dritten und im
vierten auch nicht. Großer Familienrat; aber
der Storch ist beleidigt und der Sprößling hält
es jetzt nicht mehr für vornehm, geboren zu
werden.
Arnold machte ein dummes Gesicht zu dieser Erzählung.
Und dort unter dem Kandelaber stand eine magere
Person, – ist es nicht unappetitlich, so mager zu
sein? Ihr Mann hat sich aus einem Fenster gestürzt,
weil sein eigener Freund diese Magerkeit appetitlich
gefunden. Schlecht ist die Welt, nicht wahr? Dieser
rotbärtige und vollbackige Herr hat große Unterschlagungen
verübt und nur seine herzlichen Beziehungen
zur Gräfin Palansky haben ihn vor dem
Kerker geschützt. »Keine von diesen Frauen ist ihrem
Manne treu,« flüsterte Natalie, und Vergnügen und
Wohlwollen färbte ihr Gesicht. »Sie naschen von
jedem Tisch und sind überall gleich satt. Tausend
Geschichten kann ich Ihnen erzählen. Es ist sehr
hübsch hier, nicht wahr?« So plauderte Natalie.
Petra kam den beiden entgegen, und zum zweitenmal
versicherte Natalie mit ihrer jauchzenden Kinderstimme,
daß sie sich göttlich unterhalte. Petra senkte
in ihrer schweigenden Weise den Kopf und als Arnold
und Natalie ihr wieder entschwanden, seufzte sie. Ihr
Wesen irrte in sich selbst. Sie fand sich nur abgesondert,
sie konnte nicht abstoßen; sie genoß mit, wo
sie sich schwächlich in die Hoffnung wiegte, vielleicht
einmal entbehren zu können, wenn das Bessere zu
ihr herabwuchs, so daß sie nur die Lippen öffnen
brauchte.
Arnold blieb in Natalies Kreis gebannt, saß auch
bei Tisch neben ihr. Eine merkwürdige Heiterkeit
umfing ihn, die oft nur in dem Vorsatz bestand, die
Dinge von der günstigen Seite betrachten zu wollen.
Er sah Anna Borromeos Blick auf sich gerichtet und
machte die Beobachtung, daß sie vor allen Frauen
sich hervorhebe, nicht allein durch Schönheit, sondern
auch durch etwas Verschwiegenes, das sich nicht jedem
Auge biete. Indessen scherzte er mit Natalie, lachte,
fühlte sich über seine Nachdenklichkeit erhoben, strengte
sich an, im Harmlosen die versteckte Andeutung zu
finden, doch blieb ihm immer das sonderbare Gefühl,
mit so vielen Menschen an einem Tisch zu sitzen,
lediglich zum Zweck gemeinschaftlichen Essens. Die
endlose Reihe der Speisen wunderte ihn, und er besah
sich abermals die Leute, die mit einer Kette aneinander
gefesselt schienen, welche durch keine Kraftanstrengung
zu durchreißen war und deren helles
Klirren durch vielfaches Plaudern übertönt werden
mußte.
Neunundzwanzigstes Kapitel
Natalies halb entblößte Brust, ihre entblößten Schultern
zogen seinen Blick von ihrem listigen Gesichtchen
ab. Oft schlossen sich ihre Augen für eine
Sekunde, und sie wiegte den Kopf nach dem Takte
der Musik.
»Petra ist kopfhängerisch,« sagte sie und zerlegte
dabei das Fasanstück auf ihrem Teller. »Soll ich
Ihnen etwas anvertrauen?« Doch sofort wandte sie
sich zu ihrem linken Nachbar, um auf eine Frage zu
antworten.
Arnold sah zwischen zwei Blumenbüschen ein sehr
schönes Frauengesicht. Er schaute unbeweglich lächelnd
hin. Dumpfes Besitzenwollen erwachte in ihm. »Was
wollen Sie mir anvertrauen?« fragte er Natalie.
Natalie drehte sich wieder zu ihm. »Richtig,« sagte
sie leise und mit einer heiteren Wendung des Kopfes.
»Petra ist mit Emerich Hyrtl verlobt. Aber schweigen
Sie darüber. Es ist nicht alles in Ordnung. Petra
ist jedenfalls nicht mit dem Herzen dabei. Wissen
Sie, was ich glaube?« sagte sie dann in verändertem
Ton. »Ich glaube, daß nicht leicht zwei Menschen
so gut geschaffen sind, Freunde zu werden wie wir
beide.«
Arnold nahm vorsichtig und ungeschickt von dem
Eis, welches umhergereicht wurde. Dann erst blickte
er Natalie an und legte unbekümmert seine Hand
auf ihren Arm. Er erwiderte mit einer Freiheit, die
ihm sonst keineswegs eigen war: »Freundschaft muß
man sich erwerben.«
Natalie zuckte unter seiner Berührung zusammen.
Dann lachte sie und antwortete: »Es gehört auch
Talent zur Freundschaft. Man muß Opfer bringen
können. Welches Opfer könnten Sie mir zum Beispiel
bringen?« Und da er etwas verblüfft schwieg,
fuhr sie scheinbar ganz treuherzig fort: »Würden Sie
mir die Hälfte Ihres Vermögens schenken? Nein?
Oder hunderttausend Gulden? Nein? Oder fünftausend?
Sie sehen, ich lasse mit mir handeln. Ach,«
schloß sie wehleidig, »was hängt alles am Gelde!
Wenn Sie ahnten, was ich für Kummer habe, lieber
Freund.«
Sie wartete umsonst auf seine Antwort. Man
muß deutlicher mit ihm sein, dachte sie; er ist
einfältig wie eine Köchin. Wahrhaftig, mit ein
paar tausend Gulden wäre mir gedient und ich
brauchte morgen meinen Schmuck nicht wieder zu
versetzen.
»Ach, ich bin so froh gelaunt heute,« rief Natalie
laut, indem sie sich ein wenig dehnte, »ich könnte
die ganze Welt küssen.«
Betroffen, mit langsam forschendem Blick schaute
Arnold sie an, als wolle er sich jede ihrer Bewegungen
einprägen. »Sie sind wie ein Kind,« sagte er. »In
der einen Hand haben Sie Spielzeug, in der andern
aber ...«
»Was?« Natalie war sehr gespannt. Jedes Urteil
über sie selbst, auch das vernichtendste, setzte sie in
einen Zustand wohliger Aufregung. »Nun, und in
der andern?«
»Etwas Giftiges.«
Man hörte die Stimme des Doktor Bernay: »Gebt
uns reinen Boden, Luft, Wald, Acker und wir werden
edle Menschen hervorbringen.«
Alle erhoben sich. »Der alte Rousseau-Schwindel,«
sagte ein Herr mit langen, weißen Haaren.
Bernay trat vor den würdigen Herrn; »Rousseau!
Was für ein Mißverständnis!« rief er. »Wir wollen
die Rasse erneuern. Kein phantastisches Zukunftsideal.
Wir wollen Männer. Immer hört man von
der Frauenfrage schwatzen. Es ist endlich einmal
Zeit, von der Männerfrage zu reden.«
Ein verdrießliches Schweigen entstand. Gleichgültig
wandte Arnold der Gruppe den Rücken. Seine
Gedanken suchten ein Ziel, ein Echo, ein Empor.
Von allen Seiten hörte er nichts weiter als Geschwätz.
»Haben Sie die Antinous-Statue gesehen, die Pottgießer
in Spalato gekauft hat?« hörte er einen jungen
Mann zu einem andern jungen Mann sagen. »Fabelhaft?
was?«
»Halten Sie sie für echt?« antwortete der zweite.
»Pottgießer soll bei der Ausgrabung zugegen gewesen
sein. Hat sechzehntausend Gulden gekostet, der
Spaß.«
Osterburg eilte auf Arnold zu. Er hatte gehört,
wie Hyrtl von diesem Herrn Ansorge als von einem
Elementarereignis gesprochen hatte. Dies wurmte
ihn, und er nahm sich vor, dem Elementarereignis
»auf den Zahn zu fühlen«, wie er sich ausdrückte,
denn was sich nicht unter seine Begriffe von Welt
und Leben bringen ließ, das bekläffte er in aller
Stille und Hinterlist. Er fragte Arnold aus über
Aktien, Kaltwasserkuren, Leberkrankheiten und erzählte
schließlich Geschichten eigenen Fabrikats. Je geduldiger
Arnold zuhörte, je abenteuerlicher wurden
die Vorfälle und je höher stieg er in Osterburgs
Achtung.
Pottgießer hatte einige Herren zu verschiedenen
Kartenspielen verteilt. Im Musikzimmer wurde eine
Dame aufgefordert, zu spielen. Arnold stellte sich
neben den Flügel, als die ersten Takte ertönten. Zuerst
beobachtete er nur die Finger der Spielerin, dann
ließ er einen prüfenden, immer mehr erstaunten Blick
umherschweifen. Etwas Dämmeriges, Verblasenes
ging von der Musik wie von der Spielenden aus.
Die ganze willenlose Seele dieser Menschen war es,
die aus ihr erklang. Die Geldgeschäfte und Geldgedanken
schienen vergessen, ebenso wie die nutzlosen
Aufregungen eines eifersüchtigen Beisammenseins.
In den Gesichtern der Frauen lag eine süßliche Verlorenheit,
um den Mund ein zerstreutes Lächeln, in den
Augen schwüle Träumerei und ein ungesunder Glanz.
Während die Spielerin nach langem Beifall ein
neues Stück begann, verließ Arnold das Musikzimmer.
Er überschritt einen gepflasterten Vorraum; in einem
Winkel versteckt sah er einen jungen Mann und ein
junges Mädchen in friedlichem Gespräch. Er ging
weiter und kam alsbald in ein kleines, rondellförmiges
Gemach. Hier stand als einzige Zierde die
Antinous-Statue. Beim Anblick der Marmorfigur
blieb er ergriffen stehen. Im ersten Augenblick
glaubte er, ein Geschöpf aus einer Märchenwelt
vor sich zu sehen, märchenhaft belebt, in märchenhafter
Nacktheit. Aber als er sich überzeugt hatte,
daß es ein Stein war, der in feierlicher Unbeweglichkeit
vor ihm aufragte, wich sein kühles Befremden.
Unwillkürlich ahmte er die heroisch-ruhige Bewegung
im linken Arm der Statue nach, die göttlich-kalte und
ungerührte Neigung des Hauptes. Der Ausdruck der
dicken und leidenschaftlichen Lippen wurde geklärt
durch den Blick der Augen, welche alles Seiende mild
beschauten und erst das Werk zum Wirkenden werden
ließen. Das ist schön, dachte Arnold, das gefällt mir.
Er kehrte zur Gesellschaft zurück. Anna Borromeo,
die nach Hause wollte, hatte ihn gesucht. Schweigend
saß er neben ihr im Wagen. Sie beugte sich vor
und drückte beide Hände an die Augen.
»Hüte dich vor dieser Natalie,« sagte sie plötzlich.
»Es ist kein wahrer Blutstropfen in der Person. Sie
spielt mit sich und mit den Menschen.«
»Sie ist nicht schlechter als andere,« gab Arnold
kühl zurück. »Ihr seid alle so. Ihr spielt nur mit
den Menschen.«
Frau Borromeo richtete sich auf und sah ihm durch
die Dunkelheit forschend ins Gesicht.
Dreißigstes Kapitel
Maxim Specht hatte die Partei und die Zeitung
verlassen, die ihm seinen ersten Wirkungskreis
eröffnet hatte. Er war Redakteur eines Blattes
geworden, welches von der Regierung unterhalten
wurde. Er verdiente durch seine Arbeit etwa zweihundert
Gulden im Monat. Er verbrauchte ungefähr
fünfhundert. Dabei wurden seine Bedürfnisse mit
jeder Woche größer und die Hoffnung, das Schuldennetz
zu zerreißen, in welchem er verstrickt war, täglich
geringer. Er geriet in schwierige Verhältnisse und
war der Sklave einer Genossenschaft von Menschen,
in deren Mitte er den Herrn zu spielen dachte. Der
Boden schwankte unter ihm. Abenteuerlichkeiten aller
Art mußten vorhalten, um ein im Grunde erbärmliches
Dasein fortzuführen.
Da dachte er an Arnold. Zu gleichen Teilen
wollte er der Harmlosigkeit und der Menschlichkeit
Arnold Ansorges seinen Vorteil abgewinnen, dieses
Arnolds freilich, den er unter dem Verkleinerungsglas
sah, das sein jetziges Leben für alle Ereignisse
und Gestalten der Vergangenheit bildete. Sein erster
Besuch sollte nur als ein Freundschaftszeichen gelten,
auch wagte er noch nicht zu bitten. Als er zum
zweitenmal kam, hatten ihn die Überlegungen der
dazwischen liegenden Tage gestärkt, und er forderte
von Arnold mit dringender Herzlichkeit achthundert
Gulden als Darlehen.
Arnold blickte ihn still und verwundert an. Er goß
ein Glas Wasser aus der Karaffe, ohne jedoch zu trinken.
Irgend eine Stimme gebot ihm Vorsicht.
Specht beobachtete ihn mit hin und her zitternden
Augen. »Es ist ein Freundschaftsdienst,« sagte er
lächelnd.
Arnold nickte. »Ich habe nicht so viel zu Hause,«
erwiderte er. »Morgen will ich es Ihnen schicken.«
Er betrachtete das Gesicht Spechts und es erschien
ihm neu und fremd, völlig verändert gegen früher.
Wangen und Kinn waren aufgeschwemmt, breiter,
behäbiger, trotzdem die modische Kleidung ungünstige
Linien verwischte. Indem er den Lehrer Specht aus
Podolin mit dem geschmeidigen, wünschevollen, verstörten,
kühlen und trunkenen Mann verglich, der vor
ihm saß, suchte er nach den Ursachen einer so unheilvollen
Verwandlung. Irgend welche Kräfte
schienen zerstört in Specht; er war wie ein Mensch,
der wider seine Absicht an einem Tanz teilnimmt,
teilnehmen muß, und der mit allen Zeichen der Hitze,
der Benommenheit, der Atemlosigkeit eigentlich nicht
weiß, was mit ihm vorgeht.
Specht lud ihn ein, mit ins Theater zu
gehen, er habe zwei Sitze von der Zeitung;
Arnold nahm das Anerbieten an. Er war vor
einem Monat zum erstenmal bei einem Shakespeareschen
Stück gewesen und hatte einen tiefen Eindruck
gewonnen.
Es wurde ein neues Stück aufgeführt, welches in
andern Städten schon großen Beifall erlangt hatte.
Specht saß als überlegener Mann da. Die zwei
ersten Akte waren vorüber, und brausendes Händeklatschen
begann. »Ein glänzendes Stück«, sagte
Specht befriedigt, erhob sich und grüßte einige Personen
mit einem Winken seiner Hand. Dann forderte
er Arnold auf, ihn zu begleiten, und sie schritten
draußen im teppichbelegten Wandelgang auf und ab.
»Wie gefällt es Ihnen?« fragte Specht etwas gönnerhaft.
»Ich finde es vollkommen sinnlos,« erwiderte
Arnold.
»Sind Sie toll?« rief Maxim Specht verdutzt.
»Muß er sich denn verlieben? Warum verliebt er
sich, wenn er dadurch zugrunde geht?« fuhr Arnold
unbeirrt fort. »Oder vielmehr, warum geht er durch
Verlieben zugrunde? Kein Mann geht dadurch zugrunde,
das ist nicht wahr, ist lauter verlogenes
Zeug.«
»Aber begreifen Sie denn nicht,« entgegnete Specht
ironisch und nachsichtig, »der Verfasser will zeigen,
wie ein Mann gerade durch eine ideale Liebe zugrunde
gehen muß, wenn einmal das Innere seiner
Seele krank oder angefault ist.«
»Gewiß versteh ich das,« sagte Arnold ruhig. »Aber
an einem solchen Schwachkopf war doch nichts mehr
zu verderben. Und heißt denn das zugrunde gehen,
wenn man sein Geld verliert?«
Spechts Gesicht wurde immer länger. Der Mann
ist gar nicht so dumm, schien er sagen zu wollen.
Beide schickten sich an, auf ihre Plätze zurückzukehren,
als Beate und Hanka aus einer Logentüre traten
und die vier, einander betrachtend, sich gegenüberstanden.
Beate verlor nur eine Sekunde lang die
Fassung, dann reichte sie gleich Hanka den jungen
Männern die Hand. Specht ließ kein Auge von ihr.
Sie trug ein Kleid, welches wie von tausend Schuppen
fischhaft schillerte und das Schultern, Arme und die
Wölbung der Brüste freiließ. Gelangweilt vorbeischleichende
Männer hefteten den frech-studierenden
Blick auf sie, die sich dessen zu freuen schien, denn
ihre Augen liefen unruhig funkelnd von Wand zu
Wand, von Gesicht zu Gesicht.
»Mich langweilt dieses schlechte Stück,« sagte Hanka
humoristisch gelaunt. Er hatte sich auf Beates Wunsch
den Schnurrbart rasieren lassen und sah nun aus halb
wie Napoleon, halb wie ein Jesuitenpater.
»Wir müssen uns sputen, es fängt an,« drängte
Beate. »Weißt du was, Alexander,« rief sie plötzlich,
»wir wollen vor unserer Abreise noch einen Podoliner
Abend geben. Specht und Herr Ansorge sollen bei
uns essen ...«
»Sehr gut; aber Sie können auch sonst einmal zu
einem Plauderstündchen kommen,« sagte Hanka zu
Arnold, dessen Hand er in der seinen hielt.
Arnold nickte. Er fühlte auf einmal eine große
Zuneigung zu Hanka.
Die Leute waren im dunkeln Theater wie in einer
Höhle verschwunden. Specht blickte auf die Tür,
durch die Beate gegangen war. »Haben Sie die
Schultern gesehen?« murmelte er Arnold zu; »und
das Gesicht? Sie sieht aus wie eine Prinzessin.«
Noch ein letzter Gast kam aus einem der Außenräume,
Hyrtl. Specht stellte sich vor, und es wurde
ausgemacht, daß alle drei nach dem Theater bei Hyrtl
zu Abend essen sollten.
Einunddreißigstes Kapitel
Seitdem Hyrtl den eigentlichen Beweggrund
von Arnolds Aufenthalt in der Stadt kannte
und ihm die Erzählung Arnolds von Anna Borromeo
wenn auch widerwillig, so doch ohne Entstellung,
bestätigt worden war, hatte er nicht nur
Respekt vor dem jungen Menschen (er achtete und
bewunderte das Vortreffliche wie ein Leser von
Kriegsgeschichten den Feldherrn, welcher Schlachten
gewinnt), sondern er benutzte auch jeden Anlaß,
Arnold vor andern zu erheben, und was er wußte,
andern mitzuteilen, verschönt durch edle Einzelheiten,
welche seine eigene Phantasie geboren hatte. Hyrtl
schmückte sich mit den besten Eigenschaften seiner
Freunde, indem er sie anerkannte, und er liebte seine
Freunde leidenschaftlich, das will sagen, alle Menschen,
die ihm Gesellschaft leisteten.
Als der Diener die Tür von Hyrtls Wohnung
öffnete, sprang ein kleiner gelber Hund zur Begrüßung
heraus. Die Ausstattung der Zimmer zeigte
alle Arten und Größen von Sofas und gepolsterten
Sesseln. Auf Glastischen standen in roten, grünen,
blauen und gelben Fläschchen Essenzen und Wohlgerüche,
auf dem Schreibtisch lagen in gewählter
Ordentlichkeit Siegel, Uhren, Brieftaschen, Anhängsel,
Ringe, Dosen, Ketten und aus allen Ecken und von
jeder Wand starrten Photographien von Herren und
Damen mit liebevollen Unterschriften. Dem Bücherkasten
gegenüber stand eine kleine, uralte Zimmerorgel.
In Hyrtls blassen Zügen zitterte schon jetzt die Angst,
daß die Gäste ihn zu früh verlassen könnten, denn
wie sehr fürchtete er die einsamen Stunden der Nacht!
Durch diese Furcht wurde er witzig; etwas Berückendes
und Liebenswertes trat aus seinem Wesen hervor,
je mehr die Stunde vorrückte. Hilfsbedürftig klammerte
er sich an jedes Lächeln seiner Gäste.
Specht setzte sich an die Orgel und trat den Windbalg.
Aus seinen Schulmeistertagen war er noch mit
einigen Griffen vertraut, und er spielte eine choralähnliche
Folge von Akkorden.
Hyrtl lobte sein Spiel, dann wandte er sich zu
Arnold und sagte: »Ich möchte Sie nächstens mit
einer Freundin von mir bekannt machen, einer russischen
Studentin.«
»Aus welchem Grund?«
»Ihr beide würdet wunderbar zusammenpassen.
Es macht mir manchmal Freude, Menschen zueinander
zu führen, Schicksale zu erzeugen.«
»Die reine Alchimisterei,« spottete Specht.
»Nein wirklich,« beharrte Hyrtl, »Verena Hoffmann
würde Ihnen gefallen.«
»Verena Hoffmann?« rief Specht. »Die kenn’ ich
ja. Lebt die nicht mit einem gewissen Tetzner?«
»Ja. Aber es ist ein ganz einwandfreies Verhältnis.«
Specht lachte. »Hat sie’s Ihnen schriftlich gegeben?
Einwandfrei! Was heißt denn das? Soll übrigens
sehr reich sein, dieser Tetzner.«
»Jawohl. Es ist ein reicher Gutsbesitzer, der Nihilist
geworden ist. Wenn Sie erlauben, Herr Ansorge,
werd’ ich Sie morgen mit dem Wagen abholen und
wir fahren zu Verena.«
Arnold nickte.
»Gehen Sie schon?« fragte Hyrtl traurig, da die
jungen Leute Anstalt machten, aufzubrechen, und indem
er Arnold die Hand reichte, fügte er hinzu:
»Alleinsein ist bitter. Lieber einen Raubmörder zur
Gesellschaft haben als allein sein.«
»Warum arbeiten Sie nicht?« fragte Arnold hart.
Hyrtl zuckte die Achseln. »Ich kann nichts,« antwortete
er. »Ich war Kaufmann, aber ich hätte
ebensogut Strümpfe stopfen können. Ich würde ja
nur irgend einem Berufenen den Platz wegnehmen,
wozu? Mein Vater hat mir genug hinterlassen, daß
ich die paar Jahre, die ich noch zu leben habe, in
Gemütsruhe erledige.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, daß ich sehr krank bin. Mein Herz
ist kaput.«
Als seine Gäste gegangen waren, gab sich Hyrtl
eine Zeitlang seinen trostlosen Betrachtungen hin.
Dann versuchte er zu lesen. Die Buchstaben tanzten.
Wie albern und schrecklich das Gedichtete der Dichter
in den einen Ruf zusammenklang: wir können dir
nicht helfen. Er griff zu medizinischen Werken, zu
philosophischen Schriften, zu alphabetischen Lexika,
zu alten Zeitungen; schließlich öffnete er ein Fach
seines Schreibtischs, nahm ein schwarzes Heft heraus
und schrieb. Es war eine Art Tagebuch, das die
oberflächlichen Dienste eines Spiegels verrichtete und
einen Widerklang der eitlen, leeren, ärmlichen und
empfindsamen Dinge bildete, die sich im Kopf dieses
Menschen wie eine Schar von Insekten herumtrieben.
Doch Hyrtl prahlte mit diesem Heft vor seinen Freunden
und hielt es geheim. Das Schloß, hinter dem
es lag, zeigte dreifachen Verschluß und gab zuletzt
erst dem Druck einer verborgenen Feder nach.
Hyrtls Gesicht war müd und welk geworden. Er
kleidete sich aus, wälzte sich noch lange unter der
himmelblauen Atlasdecke umher, und erst als das
Tageslicht auf die Dielen fiel, sank er in Schlaf.
Verena
Zweiunddreißigstes Kapitel
Am folgenden Tag war Arnold mit Hyrtl wirklich
in die Wohnung Verena Hoffmanns gefahren.
Das Fräulein hatte sie ziemlich kühl empfangen
und Arnold merkte gleich, daß es mit der
Freundschaft, deren sich Hyrtl gerühmt, nicht so recht
stimmte. Er selbst verhielt sich schweigsam und
beobachtend. Nach einer Viertelstunde gingen sie
wieder.
Durch einen scheinbar unerklärlichen Anstoß begann
Arnold sich plötzlich abzuschließen. Er folgte keiner
Einladung mehr und war unzugänglich für jeden
Besucher. Er nahm auch an den Mahlzeiten bei
Borromeos nicht mehr teil, sondern versorgte sich
entweder zu Hause mit Schinken und Wurst oder
suchte irgend eine nahegelegene billige Wirtschaft auf.
Trotz des Alleinseins wimmelte es um ihn her von
Bildern und Gesichtern, die seinen Geist in unaufhörliche
Beschäftigung versetzten und den Stunden
der Arbeit die Leichtigkeit raubten. Wohin mit all
der Mühe? dachte er bisweilen in Zweifeln, die wie
schwarze Vögel am Horizont flogen, – wohin? zu
welchem Ufer, du Segler? Er arbeitete, ohne die
Anerkennung eines Freundes zu genießen.
Eine Stimme klang in seinem Ohr, die ihm diese
Anerkennung zu versprechen schien und deren Widerhall
nicht erlöschen wollte.
Eines Nachmittags entschloß er sich plötzlich, Verena
Hoffmann aufzusuchen. Als er vor der Wohnungstür
stand, zögerte er eine Weile, bevor er auf den elektrischen
Knopf drückte. Als es läutete, hatte er das
Gefühl, über seine Zukunft entschieden zu haben.
Verena selbst öffnete. Sie war sichtlich verwundert,
ihn zu sehen, hieß ihn jedoch eintreten. Er kam in
ein ziemlich großes Zimmer; es schien ihm, als sähe
er es zum erstenmal. Überall lagen Bücher umher,
an den Wänden, auf dem Tisch, auf Bett und Stühlen
und auf dem Boden. In einem Winkel stand ein
menschliches Skelett, in einem anderen Winkel ein
kleiner Sparherd, auf welchem Wasser kochte. Daneben
befand sich eine Art Anricht, worauf ein Hohlspiegel
stand, ein Mikroskop, eine Retorte, Flaschen,
zwei Krautköpfe und ein Laib Brot. Arnold betrachtete
all dieses mit Verwunderung und mußte
schließlich lächeln. Das junge Mädchen schaute halb
gespannt, halb verdrießlich in sein Gesicht, das auf
sie einen Eindruck von Vierschrötigkeit und Hausbackenheit
machte. »Womit kann ich dienen?« fragte
sie mit einer hellen deutlichen Stimme und etwas
ausländischer Betonung.
»Erinnern Sie sich nicht, ich war ja mit Herrn
Hyrtl neulich bei Ihnen,« antwortete Arnold unbefangen.
»Ich heiße Ansorge, Arnold Ansorge.«
Verena machte große Augen. Der seltsame Besucher
fing an, sie zu belustigen. Sie forderte ihn
durch eine Geberde auf, Platz zu nehmen und setzte
sich ebenfalls.
»Ich dachte mir gleich,« begann Arnold zutraulich,
»daß Sie fragen würden, warum ich käme und daß
ich nicht antworten könnte. Ich will einen Vorschlag
machen. Denken Sie doch, daß wir schon lange
bekannt wären und daß Sie mich heute erwartet
hätten.«
Das junge Mädchen wendete mechanisch die Blätter
eines Buches um, das auf dem Tisch lag. »Wenn
ich Ihnen jetzt antworten würde, wie Sie es wünschen,«
sagte sie, ohne den Kopf zu bewegen, der zu
dem offenen Buch geneigt war, »dann würde ich
Sie belügen. Ich weiß nicht, was Sie gerade hierher
treibt; vielleicht ein Straßeninteresse. Ich habe
wenig Zeit, sehen Sie, und ich will wenig Zeit haben.
Nur was mir nützt, kann ich in mein Leben aufnehmen.«
Arnolds Gesicht rötete sich. »Da führen Sie aber
ein trauriges Leben,« entgegnete er schnell.
Verena Hoffmann zuckte die Achseln und machte
eine unbestimmte Geberde gegen die überall verstreuten
Bücher. Sie schien nicht aufgelegt, sich in
Erörterungen einzulassen. Langsam, mit wiegendem,
gedankenvollem Schritt ging sie hinter dem Tisch auf
und ab, berührte zerstreut einige Gegenstände mit
der Hand und schielte bisweilen mit Erstaunen auf
den Besucher, der keine Anstalten machte, sich zu entfernen.
»Was studieren Sie eigentlich?« fragte Arnold.
»Medizin.«
»Medizin,« wiederholte er. »Ja, das ist etwas
Festes, danach kann man greifen.« Er machte eine
Bewegung, als nähme er die ganze Medizin in die
Hand. »Da gibt es Arbeit,« fuhr er fort, »man
weiß, wo man anfangen und aufhören soll. Es hat
einen Sinn und einen Zweck.«
Als sie ihn so nachdenklich sprechen sah, änderte
sich der Ausdruck von Verenas Gesicht. »Das allein
genügt nicht,« antwortete sie mit Wärme. »Die
Arbeit genügt nicht und das Ziel genügt nicht. Was
ist Arbeit ohne innere Freude und Ziel ohne Persönlichkeit!
Darum handelt sich’s.«
Das Geräusch eines auf den Steinfließen der
Treppe Schlürfenden wurde hörbar, erst entfernt,
dann ein Scharren und Aussetzen, vermischt mit
Seufzen und Schnauben, dann klopfte es draußen
und Verena ging, um zu öffnen.
Ein wunderlich aussehender Mann trat ein. Verena
stellte vor: »Herr Tetzner, Herr Ansorge.«
Tetzner trug eine blaue Brille, einen Schlapphut,
einen Wettermantel und außerordentlich große Stiefel.
Unter dem Arm hatte er einen dicken Folianten. Sein
Gesicht war schwammig und aufgedunsen; die Lippen
schwollen förmlich aus dem Bart heraus, der in der
Dämmerbeleuchtung schier eine kanariengelbe Farbe
zeigte.
Verena sagte leise ein paar russische Worte. Tetzner
blickte Arnold an und lachte gutmütig.
Fragend schaute Arnold von einem zum andern.
Verena reichte ihm die Hand und sagte mit freundlich-ernstem
Lächeln: »Ich hoffe, Sie wiederzusehen.«
In ihren Augen lag auf einmal etwas Kameradschaftliches.
Dreiunddreißigstes Kapitel
Von nun an ging Arnold mit ganz anderm Sinn
an eine Tätigkeit, deren bloße Grenzen zu bestimmen
er bisher mit bedenklicher Leidenschaft bemüht
gewesen war. Er begriff endlich, daß die
Fülle ihn verwirrt, die Vielfältigkeit zerstreut hatte,
und er beschloß, dem nächsten, praktisch ausnutzbaren
Ziel zuzusteuern.
Es war, als ob Wolken aus seinem Gehirn fortgeblasen
seien.
Er verschaffte sich ein genaues Verzeichnis der
Fächer, deren Kenntnis zur Abiturialprüfung erfordert
wurde. Nicht so leicht wurde es ihm zu erfahren,
bis zu welchem Grade diese Kenntnisse reichen
mußten. In der Universität wies man ihn da- und
dorthin. Schließlich nahm er einen Wagen und fuhr
in die Wohnung eines Professors der Jurisprudenz,
den er hatte nennen hören. Der Mann war mürrisch
und kalt. Doch Arnolds bestimmtes Auftreten und
Fragen schüchterten ihn ein; er gab Auskunft wie ein
aus dem Schlaf geweckter Schüler. Arnold notierte;
seine heitere Liebenswürdigkeit verwunderte endlich
den Gelehrten und nahm ihn für den Besucher ein.
Er glaubte den Eifrigen warnen zu sollen: dies Brot
mache keinen fett, der Andrang sei groß und die
Brüste der Alma mater seien schlaff geworden. Arnold
verstand den Schmälenden nicht. »Ich bin nicht
hungrig,« sagte er kurz, dankte und entfernte sich.
Er suchte nun einen Studenten, mit dessen Hilfe
er Lateinisch und Griechisch treiben konnte; von beiden
Sprachen waren nur Anfangsregeln in seinem Kopf.
Er folgte dem Rat des Professors und hinterlegte
seine Adresse beim Pedell der Universität. Am
nächsten Morgen schon ging es treppauf, treppab im
Borromeoschen Haus. Junge Männer mit leidenden
und düstern Gesichtern kamen. Sie trugen meist eine
angenommene Demut zur Schau, eine Unterwürfigkeit,
die schlecht zu den Vorstellungen Arnolds paßte.
Was aber viel entmutigender und schrecklicher auf ihn
wirkte, war die große Menge dieser nahrungslosen
Studenten. Im Korridor, wo oft zehn oder fünfzehn
auf einmal warteten, hatte der Diener Mühe,
ihre Eifersucht und Vordringlichkeit zu zähmen. Jeder
wollte der erste sein, und nicht durch seine Person
oder sein Wesen glaubte er den andern verdrängen
zu können, sondern durch die größere Niedrigkeit des
Preises seiner Dienste. Von Einem zum Nächsten
wurde Arnold unentschlossener. Manches Gesicht war
ihm sympathisch, da stieß ihn wieder ein gewisser
dunkler Schmerz darin ab. Blutlos und kraftlos
tauchten ihre Züge vor ihm auf, redeten nicht, sondern
lispelten und verschwanden wieder troglodytisch-fahl.
Arnold fragte oft nach ihren Lebensumständen,
ihrer Heimat, ihren Absichten, aber jeder betrachtete
sein Geschäft als abgetan, sobald seine Erwartungen
durch ein Interesse getäuscht wurden, das ihm frivol
erschien. »Ich bin nicht da, um Sozialpolitik zu
treiben,« meinte einer höhnisch, »dafür bleibt mir
Zeit, wenn andere bei der Tafel sitzen.« Arnold
schwieg, überlegte, dann sagte er, daß er eben jemand
suche, der darauf Antwort zu geben verstünde, »und
das muß ihm ebenso natürlich sein, wie mir, zu
fragen.«
Der Student entfernte sich mit einem kurzen Auflachen,
und Arnold, der keinen mit leeren Versprechungen
hingehalten, wollte nun auch die übrigen
nicht mehr sehen. Seiner Natur widerstrebte es, sich
in ein ungesundes Mitleid einzubohren und betrübende
Verhältnisse entweder als etwas Unabwendbares hinzunehmen
oder durch unreife Handlungen noch mehr
zu verwirren. Ihm war es klar geworden, daß
eine geregelte Tätigkeit, die auf Taten zielt, mehr
ist als eine verfrühte Tat.
Er beschloß sich an Verena zu wenden, welche
ihm vielleicht eine geeignete Person empfehlen konnte.
Zu seiner Arbeit hatte er nun die schönste Muße;
Frau Anna war auf dem Land, Borromeo war in
Prozeßangelegenheiten nach Ungarn gefahren. Der
Sommer und Sonnenschein zog Arnold nicht ab. Tag
und Nacht waren seine Fenster offen, und er begnügte
sich mit dem kleinen Himmelsstück zwischen den
Dächern und mit den kurzen Vogelschreien, die über
die Straße hallten.
Verena Hoffmann antwortete ihm unverzüglich, sie
wisse einen geeigneten Menschen und werde ihn bald
schicken. Sie sei indessen wieder mit Herrn Hyrtl
zusammen gewesen, fügte sie hinzu; »er erzählte mir,
da die Rede darauf kam, Interessantes von Ihnen.
Er scheint in bezug auf seine Freunde ein sehr ruhmrednerischer
Mann zu sein, aber dennoch möchte ich
Sie bald wiedersehen. Ein Punkt vor allem gibt
mir zu denken. Sollte es Geschwätz sein, so hätte
ich den Mann unterschätzt, der so etwas für ein kurzes
Gespräch erfindet.« Die Schrift war fein und rundlich,
genau wie Verenas Hals und Hände.
Was bedeutet das? dachte Arnold. Was will sie
wissen? und was könnte Hyrtl von mir wissen? Er
hatte kaum Zeit, den Brief auszulesen, da hinter dem
meldenden Diener ziemlich aufgeregt Specht ins
Zimmer trat. Ohne seinen Hut abzunehmen, warf
er sich in einen Sessel, spannte die Knie zwischen
seine Arme und das vorgehaltene Spazierstöckchen
und sagte, indem er die kleinen, unruhigen Augen
aufriß: »Gott sei Dank, daß Sie zu Hause sind. Ich
wäre verzweifelt, wenn ich Sie nicht angetroffen
hätte. Sie müssen mir helfen, lieber Freund. Ich
habe gestern abend an Hyrtl vierhundert Gulden auf
Ehrenwort verloren. Wir haben Macao gespielt, ich,
Hyrtl, ein gewisser Herr Osterburg und noch ein Herr.
Es ging ziemlich hoch. Bis heute abend muß ich –
Sie begreifen, Arnold, – meine Ehre –« Er stotterte,
denn Arnolds verwundertes und verletztes Gesicht ließ
ihn nicht das Beste hoffen.
Arnold schüttelte den Kopf. »Nein, lieber Specht,«
sagte er, »nein.«
Maxim Specht nahm langsam den Hut vom Kopf,
griff nach seinem seidenen Taschentuch und wischte
die feuchte, runde Stirn. »Sie wollen grausam sein,
Liebster,« flüsterte er mit gezwungenem Lächeln und
einem Versuch, liebenswürdig-beredt zu erscheinen,
»aber man straft sich selbst, wenn man seine Freunde
verläßt. Sie sind reich genug, um dieses Sümmchen
durch die Finger zu blasen, ich aber –,« er wollte
nach der Uhr sehen, zog aber die Hand zurück –
»wenn ich bis Abend nicht zahle, kann mir nur noch
eine Pistole kaufen.« Er schob den Zeigefinger hinter
den Kragen und fuhr damit um den Hals.
»Das sind nichtswürdige Dinge, die Sie da vorbringen,«
antwortete Arnold. »Es ist so wenig Verstand
darin, daß ich gar nicht anfangen mag, Ihnen
Widerspruch zu halten. Wenn man spielt, kann man
doch nicht mehr verspielen, als man hat. Das wäre
nicht ehrenhaft und könnte keine Ehrenschuld sein.
Ich, lieber Specht, das sage ich Ihnen, will nicht
Geld an Ihre Stiefelsohlen hängen, damit es auf
der Straße liegt. Ich glaube nämlich, mit Geld muß
man Edles beginnen, damit es edel wird.«
»Ach Liebster, machen Sie doch nicht in meiner
kleinen Misere den Reformator,« klagte Specht mit
einer müden Kopfbewegung, während seine Augen
halb gehässig, halb verzweifelt blitzten. »Ich muß
nun doch für das Geschehene einstehen. Theorien
sind gut für das Kommende. Sie sollen mir nichts
schenken. Ich lasse mir nichts schenken. Warten Sie
nur, bis meine Zeit anbricht; ich habe Wurzel gefaßt,
ich werde auch Früchte tragen.«
Arnold schämte sich für Specht, denn sein praktischer
Sinn nahm diese Reden mit Verachtung auf.
Ein spöttisches Lächeln lag um Spechts Lippen,
offenbar nur durch den Wunsch erzeugt, nicht allzu
klein zu werden und nicht gar zu mürbe zu erscheinen.
»Gut,« sagte Arnold endlich mit einer freundlichen,
jedoch nachdenklichen Miene, »ich darf Sie nicht belehren,
und wenn Sie auf mich rechnen, muß ich
vielleicht die Rechnung anerkennen. Gut, ich will
Ihnen also das Geld geben.«
Spechts Gesicht wurde erst glühend rot, dann blaß.
»Sind Sie nicht ein wenig ungerecht gegen mich?«
fragte er mit einem fast sichtbaren Aufatmen der
Erleichterung. »Hätten wir nicht Grund und Fähigkeit
genug, uns gegenseitig anzuschließen, statt uns
abzuwetzen? Wo Süßigkeit sein sollte, ist immer
Schärfe.« Aufstehend und sich verabschiedend, fügte
er hinzu: »Wir beide sind übermorgen abend bei
Hankas eingeladen. Hankas reisen noch in dieser
Woche ab. Ich hoffe, wir werden uns draußen
sehen.«
Arnold machte sich wieder an die Arbeit. Er ging
bald zu Bett und stand in der frühesten Frühe auf.
Auch dieser Tag ging mit Arbeit hin. Eine wunderbare
Unermüdlichkeit war in ihm entstanden, denn
wer täglich frische Klarheit über das Notwendige erwirbt,
muß täglich über seine frischen Kräfte verfügen.
Am Abend trieb ihn die Begierde nach guter Luft
aus dem Haus. Kaum war er um die nächste Straßenecke
gebogen, so sah er vor sich eine große Ansammlung
von Wagen, die sich gestaut hatten, da der Weg
durch ein umgestürztes Frachtfuhrwerk gesperrt war.
Plötzlich gewahrte er in einem der eleganten Fiaker
Beate Hanka. Ihr lachendes Gesicht war von der
Abendröte beschienen, und ihre mutwillige Hand hatte
den Vorhang des Wagens zurückgeschoben. Mit aufgeregter
Neugier spähte sie nach dem Hindernis, und
Arnold war sehr überrascht, als er an ihrer Seite
nicht Hanka, sondern Maxim Specht gewahrte. Er
hatte nicht Zeit, näher hinzuschauen, denn schnell fiel
der Vorhang wieder über das Fenster.
Vierunddreißigstes Kapitel
Indem Arnold weiterging, fiel ihm dieses Zusammentreffen
schwer aufs Herz.
Ihm wäre es durchaus nicht auffallend erschienen,
Specht und Beate so vertraut beisammen
zu sehen, hätte er nicht gewußt, wie die beiden auseinandergegangen
waren. Es beschlich ihn etwas
Dunkles, und er mußte stehen bleiben, um seine
Überlegungen zu sammeln. Hankas trockene und
gerade Art wurde ihm gegenwärtig, ebenso wie
Beates schlüpfriges Wesen. Er fand sich aufs wunderlichste
für eine Sache verantwortlich, die ihn mit
Ahnungen von Trug und Geheimnis beschäftigte;
mit schmerzlichem Zorn dachte er an Hanka, wenn
er in ihm einen Mann sehen sollte, in dessen Leben
keine Wahrheit floß. Wie er sich auch stellen mochte,
nichts konnte ihn seiner Unruhe entreißen. Die
Furcht des Irrtums ließ ihm seinen Zweifel ungeheuerlich
erscheinen, und er beschloß irgendwie zu
handeln.
Als er nach Hause kam, fand er einen Brief von
Natalie, worin sie ihn bat, er möge gleich zu ihr
kommen, sie wünsche ihn dringend zu sprechen.
Er ging hin.
Natalie war aufs eifrigste mit dem Packen von
Koffern beschäftigt. »Wir ziehen morgen aufs Land,«
sagte sie und sah sich mit lachender Verzweiflung
nach einem Stuhl um; überall lagen Kleider und
Wäsche. »Es ist schon ein wenig spät im Jahr, aber
ich freu’ mich riesig auf Wälder, Wiesen und Luft.
Petra ist heut bei Mama. Mama ist krank, wird
aber jedenfalls reisen, denk’ ich. Werden Sie uns
nicht besuchen im Gebirg? Das wäre märchenhaft.
Hier, setzen Sie sich auf den Hutkoffer. Die Kinder
sind schon zu Bett. Denken Sie nur, was Helenchen
heute zu ihrem Vater sagte. Papa, sagte sie, ich
kann gar nicht begreifen, daß du dich bei Mama langweilst.
Wie finden Sie das? Herrlich, nicht? Nun,
wenn die Väter so klug wären wie ihre Kinder,
würden sie keine haben.«
Arnold nahm Platz und fragte Natalie, weshalb
sie ihn gerufen.
Natalie erblaßte, griff sich an die Stirn und murmelte:
»Ach so! richtig!« Dann legte sie ihre Hand
auf seine Schulter und fragte mit tragischer Betonung:
»Sind Sie ein Freund? Sind Sie ein
wahrer Freund?«
Arnold blickte sie mißtrauisch an und schwieg. Auf
einmal begann sie zu schluchzen. Arnold rührte sich
nicht. Eine schöne Geschichte, dachte er und runzelte
die Stirn.
»Nein, ich kann nicht, ich kann nicht,« stöhnte Natalie,
schlug die Hand vor das Gesicht und schielte
durch die gespreizten Finger nach Arnold.
»Also was ist denn los?« fuhr Arnold ärgerlich heraus.
»Ich kann nicht,« wiederholte Natalie mit herzbrechendem
Ton, fuhr aber sogleich fort: »Es handelt
sich um eine Bürgschaft, lieber Freund. Mein Mann
hat wieder einmal eine kolossale Dummheit gemacht.
Wir sollen morgen dreitausend Gulden bezahlen und
haben nicht hundert im Haus. Nächste Woche erwartet
Osterburg große Summen aus Amerika.
Helfen Sie mir. Ich will es Ihnen ewig danken.
Ich schwöre Ihnen beim Leben meiner Kinder, daß
Sie alles zurückerhalten sollen. Zeigen Sie mir, daß
ich einen Menschen in Ihnen gefunden habe. Ich
bin ja so unglücklich!« Und sie schluchzte weiter.
Herrgott, dachte Arnold, für die Leute ist man ja
der reine Geldsack. Er war nicht im mindesten ergriffen,
im Gegenteil, alles das erschien ihm sinnlos
und widerwärtig.
»Ich werde Ihnen morgen früh eine Anweisung
schicken,« sagte er kalt. »Aber schwören Sie nicht
solche dumme Schwüre.«
Es fehlte nicht viel, und Natalie hätte ihn umarmt.
Sie hatte eigentlich nicht daran geglaubt und vergoß
nun echte Tränen. Dennoch bereute sie, daß sie nicht
um tausend Gulden mehr verlangt hatte.
Ihre verworrenen und überschwenglichen Danksagungen
waren Arnold unbequem. »Hören Sie einmal
zu, Frau Natalie,« unterbrach er sie, »warum
glauben Sie eigentlich, daß zwischen Hanka und Beate
keine Ehrlichkeit besteht?«
Natalie starrte ihm erstaunt ins Gesicht, dann schlug
sie die Hände zusammen und setzte sich ihm gegenüber
auf einen aufgerollten Teppich. »Ich?« erwiderte
sie halb bestürzt, halb belustigt, »ich hätte so
etwas gesagt? Wann denn?«
»Sie haben es gesagt,« beharrte Arnold. »Wie
ich das erstemal bei Ihnen war und wir von der
Verheiratung Hankas gesprochen haben –«
»Ach so! Das meinen Sie! Warum? was ist denn
geschehen?«
»Ich möchte nicht mehr darüber sagen,« antwortete
Arnold. »Aber weil wir so darüber sprechen und
denken, gerade so und nicht anders und weil wahrscheinlich
auch andere Menschen glauben, daß der
Doktor Hanka nicht weiß, wie es die Beate seinerzeit
in Podolin getrieben hat, so fragt es sich, ob
man dem Mann nicht reinen Wein einschenken muß.«
Natalies Stirn legte sich in bedächtige Falten und
mit niedergeschlagenen Augen drehte sie ihren Ring
am Finger rundum. »Ich verstehe nicht,« sagte sie
aufgeregt. »Was wissen Sie denn? Erzählen Sie
doch.«
»Erzählt wird nichts. Ich frage nur: soll man
dem Doktor Hanka sagen, mit deiner Frau steht es
so und so, du scheinst nichts davon zu wissen –«
»Was für verdrehte Ideen!« rief Natalie aus. »Und
wenn er Sie dann vor die Tür setzt? Was dann?
Wer sagt Ihnen denn, daß er nichts weiß?«
»Das ist klar. Weil die Beate nicht so wäre wie
sie ist, wenn er was wüßte. Und weil sie überhaupt
ein Lügenbeutel ist.«
»Aber das alles ist mir ja riesig interessant,« flüsterte
Natalie und sah Arnold mit naivem Entsetzen an.
»Machen Sie nur keine Dummheiten, ich bitte Sie.
Glauben Sie denn, daß die Welt auf Wahrheit gestellt
ist? Das ist ja Unsinn. Wenn das wäre, müßten
wir ja allesamt ins Gefängnis oder Gott weiß wohin
wandern.«
In diesem Augenblick kam Osterburg, erhitzt und
wichtig, wie von großen Erlebnissen strahlend. Mit
einer Mischung von Vertraulichkeit und Leutseligkeit
schüttelte er Arnolds Hand und sagte sofort, als ob
er sich seit Wochen mit diesem Plan beschäftigt hätte:
»Herr Ansorge, Sie müssen heiraten. Ich habe ein
wunderbares Mädchen für Sie, ohne Spaß, mein
Ehrenwort. Nicht reich, nicht arm, aber was man
so sagt, intelligent. Unter uns, eine famose Person.
Grundsätze, Ideale, wie das heute so üblich ist.«
Breitbeinig stand er da, sah verständnisinnig aus,
schmatzte mit den Lippen und fächelte sich mit dem
Taschentuch Kühlung zu. Natalie sah ihn voll Schrecken
und Staunen an.
»Das einzige Hindernis wäre,« fuhr er fort, »daß
sie eine Jüdin ist. Aber Sie sind ja sozusagen ein
aufgeklärter Geist.« Er ging mit großartigen Schritten
herum und fuchtelte mit den Armen. »Was geht
uns überhaupt diese Geschichte an, die da vor
zweitausend Jahren passiert sein soll? Wir sind
alle Menschen, alle sind wir Brüder. Wenn wir
auch Christen sind, Gott ist der Herr. Mein Ehrenwort,
das ist meine Meinung, Herr Ansorge.«
Diese letzten Worte schrie er beinahe zum Fenster
hinaus.
»Bist du betrunken?« fragte Natalie mit eisiger
Ruhe.
Osterburg wurde plötzlich kleinlaut. »Ach, ach,«
seufzte er, »früher war ich so geistreich; erst seit zwei
Jahren bin ich so stupid geworden.«
Arnold verabschiedete sich. In diesem Hause umfing
ihn stets eine Luft von seltsamer Wesenlosigkeit,
ein Gewebe abenteuerlicher und zweckloser Reden, ein
grundloses Auf und Ab von Lachen und Trauer, von
Eifer und Leerheit, von Wichtigkeit und Bodenlosigkeit.
Am nächsten Tag fand sich der junge Mann ein,
den Verena zu schicken versprochen hatte. Er hieß
Wolmut und war ein zarter Mensch von bürschchenhaftem
Ansehen, mit rosigem Kindergesicht und
ernsten, klugen Augen. Seine Redeweise hatte etwas
Nüchtern-Belehrendes, sein Betragen war gewandt
und kühl, aber Arnold spürte sofort, daß dies der
ihm notwendige Helfer sei. Was er vor allem aus
dem kleinen blonden Mann dunkel herausfand, war
eine gewisse Ehrlichkeit und Zartheit; er fühlte die
Gegenwart einer tüchtigen und klaren Natur. So
sah er sich mit Vergnügen am Eingang einer arbeitsreichen
Epoche, und als von Hankas eine schriftliche
Ermahnung kam, er möge den heutigen Abend nicht
vergessen, da war für ihn beschlossen, nicht hinzugehen.
Wozu das Trübe suchen? dachte er; im
schlammigen Wasser steckt kein Fisch. Als er sich
nachmittags hinsetzte, um durch eine Karte sein Nichtkommen
zu melden, ward es jedoch anders. Mit
seinen groben Federzügen schrieb er Anrede und Anfangsworte
und legte langsam den Halter auf den
Tisch zurück. Ernst und fragend tauchte Alexander
Hankas Gesicht vor ihm empor.
Es war ein heißer Tag, Arnold wurde gelähmt
durch die brütende, staubige Stadthitze. Die Sonne
leuchtete nicht, sondern glomm in einem Dunstnest.
Nach Tisch ging Arnold aus, aber auf der Straße
war es noch übler als im Zimmer, und er wollte
schon umkehren, da zog es ihn plötzlich nach einer
ganz andern Richtung, und er beschloß, Verena Hoffmann
aufzusuchen.
Er läutete einige Male an der Tür und niemand
rührte sich drinnen. Als er sich enttäuscht zur Treppe
wandte, kam Verena von unten herauf. Am Fuß
der letzten Stiege gewahrte sie ihn schon, blieb einen
Augenblick stehen und lächelte empor. Sie trug ein
weißes Leinwandkleid mit schwarzem Band um den
Hals und um die Taille. Sie reichte ihm die Hand,
deren festen Druck er fest erwiderte, dann schloß sie
auf, ging voran, warf ohne sonderliche Verlegenheit
eine Wolldecke über das noch ungemachte Bett, brachte
Streuzucker und eine Art Sodawasser bei und beide
nahmen an einem Tisch beim Fenster Platz. Von
hier war ein weiter Blick in die Nachbarhöfe und
Verena sagte, indem sie hinausdeutete: »Zweihundertfünfzig
Fenster.«
Arnold nickte. »Auf wie viele Menschen kommt da
ein Fenster?« erwiderte er.
Verena sagte, sie freue sich, daß er gekommen sei.
»Was hat Ihnen denn Hyrtl eigentlich von mir
erzählt?« fragte Arnold neugierig.
»Es ist die Geschichte mit dem Judenmädchen. Ist
es wahr, war das wirklich der Anlaß für Sie, Ihre
Heimat zu verlassen?«
»Ja, das ist wahr,« murmelte er. »Aber ich habe
bis jetzt nichts erreicht, gar nichts. Es ist schändlich.«
»Kennen Sie das Mädchen näher?«
»Die Jutta Elasser? Ich habe sie einmal im Leben
gesehen. Ein häßliches kleines Ding.«
Verena sah ihn aufmerksam an. Es schien als ob
diese Antwort erst ein tieferes Interesse für ihn erweckt
hätte. Doch sprach sie nicht weiter von der
Sache und dafür war Arnold ihr dankbar.
Sie saßen nun mindestens eine Viertelstunde
schweigend beisammen. Arnold staunte vor sich hin.
Eine wunderbare Bewegung war in seiner Brust,
und er hatte das Gefühl, als überströmten ihn Wohlgerüche.
»Ist Wolmut zu Ihnen gekommen?« fragte Verena
endlich.
»Ja, er ist gekommen.«
»Finden Sie ihn sympathisch?«
»Sehr sympathisch.«
»Er ist einer der nützlichsten Menschen, die ich kenne;
er wird es sicher noch sehr weit bringen, das heißt,
soweit man es in diesem korrumpierten Land eben
bringen kann.«
»Weit bringen, das heißt, ein großes Amt bekommen?«
»Ja, ungefähr.«
»So weit werd’ ich’s wohl nie bringen.«
»Kaum. Idealisten bringen es nicht zu hohen
Ämtern.«
»Idealisten? Das ist ein dummes Wort. Ich bin
doch kein Schiller.«
Verena lachte. »Aber die Idealisten können es
noch weiter bringen als zu hohen Ämtern.«
»Ach, dann bin ich versöhnt.«
»Ja, aber es gibt Gefahren.«
»Gefahren?«
»Die Idealisten dürfen sich nicht verpflichten. Sie
dürfen keine anspruchsvollen Freundschaften haben.«
»Wieso? Sie meinen, daß man sparsam mit seinem
Herzen sein muß.«
»Vielleicht. Oder doch, daß man das Herz nicht
verschwenden soll.«
»Das scheint mir aber unmoralisch. Meiner Ansicht
nach kann das Herz nicht arm werden, soviel
es auch gibt.«
»Glauben Sie? Da sind Sie aber sehr auf dem
Holzweg. Das Herz kann sich nämlich auch irren
und sogar verirren. Und wenn es sich einmal verirrt
hat, dann wird es aufgebraucht.«
»Na na, und wenn? Dazu sind wir ja da. Man
kann doch nicht eine Rechenmaschine in die Brust
hineinstellen.«
»Aber wenn einer ein Ziel hat, dann muß er sein
Herz bewahren, sonst ist er nichts wert.«
Plötzlich erhob sich Verena und sagte: »Ich muß
gehen. Ich muß zu Tetzner.«
»Wie stehen Sie eigentlich zu Herrn Tetzner?«
fragte Arnold rasch.
Sie stutzte, runzelte die Stirn, antwortete aber
nicht.
Kaum hatten sie auf der Straße ein paar Schritte
gemacht, als Tetzners Kopf an einem ebenerdigen
Fenster sichtbar wurde. »Wo steckst du, Verena?«
rief er; »nimm doch den Herrn mit herein. Junger
Freund, hier gibt es die seltensten Schnäpse der
Welt und vieles andere, was sich sonst nur auf der
Tafel des Großkhans der Bucharei findet. Kommen
Sie.«
Arnold blickte hinauf und machte eine Grimasse.
»Man hat schon wo anders für mich gesorgt,« entgegnete
er lachend, »aber vielleicht heben Sie mir
etwas auf.«
»Bravo,« rief Tetzner und klatschte in die Hände.
Verena warf einen teilnehmenden, tiefen Blick auf
Arnold, dessen Heiterkeit ihr sehr gefiel. Fast ungestüm
streckte sie ihm die Hand hin, als er ging.
Fünfunddreißigstes Kapitel
In dem Zimmer, welches gegen den Garten
hinausging, saß Hanka am Klavier und spielte
eine Haydnsche Sonate. Beate saß in der Ecke
des mäßig großen, noch von der untergehenden
Sonne beleuchteten Raumes, blätterte in einem
Photographiealbum und gähnte von Zeit zu Zeit.
»Diese Einladung war ganz unnötig,« sagte sie in
der Pause zwischen einem Andante und einem Allegro,
»besonders da Specht nicht kommt. Was tun
wir denn mit Ansorge allein und was geht er uns
an? Dazu ist er noch unhöflich und läßt auf sich
warten.«
Hanka wandte sich langsam mit dem Drehstuhl um.
Er blickte auf die Uhr, schmatzte mit den Lippen und
erwiderte: »Wir wollten doch die beiden Podoliner
einmal beisammen haben, vielmehr du wolltest es.
Daß dein Freund Specht absagen würde, konnte man
ja nicht vermuten. Übrigens interessiert mich Ansorge
viel mehr.«
Beate pendelte ungeduldig mit den Füßen. »Mich
langweilt er,« sagte sie. »Ich langweile mich überhaupt.
Wenn wir nur schon fort wären. Wie lang
ist es noch bis morgen früh! Ich will jeden Tag
wo anders sein, und du, du schläfst bei Tag und
Nacht.«
Und zwischen einem Lächeln und einem Zähneknirschen
fuhr sie fort: »Hast du denn die Fahrkarten
bestellt?«
Mit dem ihm eigenen, schlenkernden Schritt spazierte
Hanka über die Breitseite des Zimmers. Er antwortete
nichts. Seit einer Reihe von Tagen war
er von unnennbaren, wechselnden Empfindungen
bewegt. Mit der Kraft seines ganzen Wesens hing
er an Beate, doch erspähte er fortwährend Auflehnung
in ihrem Innern. Für eine Person wie
Hanka ist die Äußerung einer Empfindung nicht das
Mittel, um Glauben an sie zu erwecken; für ihn war
es wichtig, den Weg einer scheinbaren Trockenheit
einschlagen zu können. Wer dies, ihn verstehend,
ermöglichte, konnte ihn ganz besitzen. Es war ihm
unwidersprechlich geworden, daß Beate nicht sah, was
sie hätte sehen, nicht fühlte, was sie hätte fühlen
müssen, daß ihre immerwährende Beweglichkeit nichts
anderes war als eine Flucht vor ihm. Verdruß machte
oft die Ruhe seines Nachdenkens düster. Die Anziehungskraft
wächst mit dem Quadrat der Entfernungen,
pflegte er sich ironisch zu sagen, und mit
seiner pedantischen Gründlichkeit wünschte er genau
zu erkennen, durch welche Eigenschaften ihm Beate
so unentbehrlich geworden. Doch hier machten seine
Gedanken Halt, und in einer Zärtlichkeit, wie sie nur
sein von allen Seiten verschlossenes Herz kannte, erblickte
er immer wieder das kräftige und kapriziöse
Kind der Natur in ihr, dem sein eigener, schwachgewordener
Wille sich mit ebenbürtiger Laune unterwerfen
mußte.
»Trabst schon wieder herum wie ein Bär,« sagte
Beate, sprang aber gleichzeitig auf, da es geläutet
hatte. Bald darauf trat Arnold ein und wurde von
Hanka mit herzlichem Händedruck, von Beate mit
etwas ungeschickter Kälte begrüßt. Alle drei setzten
sich sogleich zu Tisch. Draußen hatte sich der Himmel
verfinstert, und Gewitterwind wehte durch den Garten.
Hanka erhob sich wieder, drehte die elektrischen Flammen
auf und fragte Arnold, weshalb er so spät komme.
»Zur Strafe sollten Sie eigentlich nichts zu essen
bekommen,« sagte Beate ärgerlich. Arnold entschuldigte
sich nicht. »Ich habe bis zuletzt gezögert, ob
ich kommen soll,« sagte er. »Das ist nicht höflich,
Frau Beate, aber es hat seinen Grund.«
Beate stutzte. »Er hat immer Gründe,« erwiderte
sie bissig.
»Als alte Bekannte seid ihr zu spitz,« bemerkte
Hanka gutmütig. Er freute sich eigentlich, daß Arnold
Ansorge ihm nun gegenüber saß, es erschien ihm fast
wichtig, diesen Menschen zu sehen und zu beobachten.
Aus solchem Holz schnitzt man Freunde, dachte er.
Unter dem heranrollenden Donner begannen sie
zu essen. Beate legte aber bald Messer und Gabel
hin, und ihr Gesicht veränderte sich zusehends vor
Angst.
»Ja, mit den Gewittern,« meinte Hanka stirnrunzelnd.
»Für eine Frau, die auf dem Land aufgewachsen
ist, ist das beschämend.«
Ein außerordentlicher Blitz ließ die Lichter des
Zimmers erblassen. Nach dem langen Donner erhob
sich Beate und murmelte verstört vor sich hin.
Auch Hanka stand auf. Er faßte Beate bei den
Händen und suchte sie zu beruhigen. Ein zweiter
Blitzstrahl erzeugte ein krampfhaftes Zittern in ihrem
Körper. Voll Heftigkeit stieß sie Hanka von sich; mit
einem hexenartigen Ausdruck schrie sie in den Donner
hinein: »Ich will nicht, ich will euch nicht,« und lief
aus dem Zimmer.
Hanka folgte ihr sogleich. Nach einer Weile kam
er zurück, rief das Stubenmädchen, und Arnold fand
sich abermals allein an dem gedeckten Tisch. Er nahm
weniger Anteil an diesem Auftritt, als es in seinem
interessevollen Wesen lag. Was von Beate kam, glitt
ihm vorüber und mischte sich so wenig mit seinem
Geist wie Öl mit dem Wasser. Vielleicht aber war
das Spiel der Elemente draußen für ihn anziehender
und ergreifender als die selbstsüchtige Bangnis einer
kleinen Seele. Er trat langsam an das Gartenfenster,
und beim Schein der Blitze fühlte er sich aufgefordert,
Wahrheit in dies Haus zu tragen. Und das Benehmen
Beates, anstatt ihn mitleidig zu stimmen, machte ihm
ihre ganze Person geradezu verdächtig.
Unbefangen und fast humoristisch aufgelegt, kam
Hanka zurück. »Sie hat sich in Betttücher eingehüllt
und die Ohren verstopft,« sagte er. »Ich habe ihr
versprechen müssen, daß Sie bald gehen werden.
Haben Sie je etwas mit ihr gehabt? Es ist mir
unbegreiflich. Kommen Sie, lieber Freund, essen
wir weiter. Ich freue mich, daß Sie da sind und
werde Sie nicht so geschwind wieder loslassen.«
»Frau Beate fürchtet vielleicht, mich mit Ihnen
allein zu lassen,« erwiderte Arnold ruhig und folgte
Hanka zum Tisch.
»Warum? Warum fürchten? Sie wollte ja selbst,
daß Sie einmal bei uns wären.« Vergnügt und
voll Appetit legte sich Hanka Fleisch und Gemüse
auf den Teller.
»Das kann ich mir erklären,« sagte Arnold. »Vielleicht
wollte sie es nur darum, um zu sehen, wie
sie sich gegen mich verhalten muß.«
»Ei, was Sie für ein Psycholog geworden sind!
Allerdings, was Sie da sagen, hat etwas für sich.
Gerade die Frauen wollen oft das Verhaßte nahe
haben. Darin steckt ein kindlicher Instinkt, sich zu
schützen. Aber es ist lächerlich, wenn Sie das bei
Beate annehmen. Beate ist viel zu naiv dazu.«
Arnold schwieg. Unschlüssigkeit überkam ihn. Und
er spürte nun aus Hankas Worten deutlich eine vollständige
Ahnungslosigkeit. Dies erregte in ihm einen
stummen Zorn gegen das lügnerische Weib.
»Es berührt uns doch, ich möchte sagen ästhetisch,
wenn Frauen sich vor dem Gewitter fürchten,« fuhr
Hanka angeregt zu plaudern fort. »In einer Frau
liegt etwas ebenso Elementares wie in einer elektrischen
Wolke, und fast möchte man glauben, daß
die Natur sich einen Spaß daraus macht, ihre latenten
Instinkte gegeneinander platzen zu lassen. Dergleichen
ist für mich eher angenehm als verstimmend.«
Ein bläulicher Blitz fuhr durch den Raum, schnitt
Hankas Rede ab und vom fast gleichzeitigen Donnerkrach
zitterten die Wände und rasselten die Teller.
»Warum ist eigentlich Specht nicht gekommen?«
fragte Arnold, indem er gegen das Fenster sah, an
welches der Regen gepeitscht wurde. »Er erzählte
mir zuerst, daß er hier sein würde. Es fällt mir
nur deshalb auf, weil ich ihn gestern mit Frau Beate
in einem verschlossenen Wagen sah.«
Hanka schaute rasch empor und machte ein sehr erstauntes
Gesicht. »So?« fragte er kurz. Er erinnerte
sich plötzlich, daß ihm die Stunden lang und ungewöhnlich
erschienen waren, die Beate gestern bei der
Schneiderin zugebracht haben wollte. Er schüttelte
den Kopf und sagte mit einem unsichern und wohlwollenden
Lächeln: »Darin täuschen Sie sich vielleicht.«
»Ich täusche mich nicht,« erwiderte Arnold, »obwohl
die Vorhänge des Wagens nur einen Augenblick
zurückgeschoben wurden.«
Hanka hörte auf zu essen. Warum erzählte sie
mir davon nichts? dachte er, wie um sich noch einmal
gewaltsam zu betrügen. Er lehnte sich in den Stuhl
zurück, öffnete den Mund, schloß ihn aber wieder,
ohne gesprochen zu haben. Zu beiden Seiten der
Nasenflügel trat eine seltsame gelbliche Blässe hervor.
»Ich dachte mir, Sie wüßten um alles was zwischen
Specht und Ihrer Frau war,« fuhr Arnold mit unerbittlichem
Ernst fort. Er hatte den Ellenbogen auf
den Tisch und den Kopf in die Hand gestützt und
schaute Hanka unverrückt an. »Beide waren in Podolin
wie Mann und Frau, bei Tag und bei Nacht. Das
weiß ich und würde es Ihnen nicht sagen, wenn ich’s
nicht wüßte. Darum hören Sie alles auf einmal,
damit ich Sie nicht quäle. Nach Specht hatte sie
ein Verhältnis mit dem Oberknecht auf dem Randomirschen
Gut, das heißt, im Anfang betrog sie den
einen mit dem andern, bis der Knecht sie durch
Schläge gehorsam machte. Davon wußten die Mägde
bei uns jeden Tag zu erzählen. Mir hat von jeher
eine Stimme gesagt, daß Sie dabei im Finstern sind,
denn Sie sahen eine andere Beate, hätten vielleicht
nicht einmal die gewollt, die es ehrlich gestanden
hätte. So trieb es mich also her, wie schwer es auch
ist; ich denke mir, die einen leben von Lüge, die
andern von Wahrheit, die beiden muß man voneinander
halten. Das ist alles.«
Während dieser Worte hatten die gelblichen Flecke
auf Hankas Gesicht beständig zugenommen. Auch
er sah unverrückt in das Gesicht seines Gegenübers;
und allmählich verlor er das Bewußtsein davon, daß
da ein Mensch sitze; er gewahrte nur einen weißlichen
Kreis; ihm war, als sei es der Mond, der
vom Himmel heruntergeglitten war, um zu sprechen.
Jedoch er hörte, hörte. Er verspürte einen ungeheuren,
verschlungenen Schmerz im Kopf, und als
Arnold geendigt hatte, glitt ein dünnes, geistloses
Lächeln über seine Lippen. Arnold schwieg und
Hanka schwieg, und so saßen sie lange schweigend,
während das Gewitter sich verlor. Endlich rückte
Hanka seinen Stuhl, beugte sich vor, als mache er
ein Kompliment und sagte mit heiserer Stimme und
richterlicher Schärfe, wobei er die schwarzen Augen
weit aufriß: »Beweise –?«
Arnold erwiderte nichts; er heftete stumm seine
Blicke in diejenigen Hankas. Es war ein überlegener,
strenger und vornehmer Ausdruck in seinen Augen
wie in seinem Gesicht und Hanka beugte sich wieder
zurück, als ob er sein Wort vergessen haben wolle.
Er legte eine Hand glatt auf den Kopf, Farbe kehrte
in seine Wangen zurück und verschwand wieder
daraus. Er gab einen unbestimmten kurzen Laut
von sich, stand auf und wie zum Zeichen seiner
Fassung zündete er langsam eine Zigarre an. Darauf
ging er schweigend mit großen Schritten auf und
ab. Auch Arnold verließ seinen Platz. »Adieu,
Doktor Hanka,« sagte er; »Freund oder Feind; wie
Sie mich nennen wollen, das steht bei Ihnen.«
Hanka kehrte ihm den Rücken, verschränkte die
Arme und blickte gegen die Fenster. Doch als Arnold
sich zur Tür wandte, schritt er ihm nach, sah ihn mit
einem unbeschreiblichen Blick an und reichte ihm die
feuchte kalte Hand.
Sechsunddreißigstes Kapitel
Hanka setzte seinen Spaziergang durch das Zimmer
fort. Er dachte nun weder an sich selbst, noch
an Beate, sondern er richtete seine Gedanken zunächst
auf die Person Arnolds. Er vergegenwärtigte
sich den Arnold, den er in Podolin kennen gelernt
und hielt den dawider, der heute zu ihm gesprochen.
Er warf gleichsam ein Senkblei aus, um
die Tiefe des Vertrauens zu diesem Mann zu ermessen.
Das Lot sank weit. Er mußte einen Verstand
anerkennen, der die Aufrichtigkeit über alles
liebte. Und schließlich mußte er sich gestehen, daß
dieser Mensch von Sympathie geführt wurde, um
ihn, Hanka, sehen zu lehren. Folglich war ich blind,
dachte Hanka. Gewaltsam suchte er ein haßartiges
Gefühl von Kälte gegen Arnold von sich abzuwehren.
Wie er sich auch stellen mochte, er konnte noch nicht
glauben. Es erschien ihm einen Augenblick lang
phantastisch, sich einem Zweifel an Beate zu ergeben.
Was führt ihn her? dachte er trüb und trotzig. Mitleid?
Dann wäre selbst seine Wahrheit nicht wahr.
Wie konnte er annehmen, daß zwischen uns kein
gegenseitiges Wissen bestand? Hankas Eigenliebe begann
sich zu bäumen. Vielleicht wurde er selbst verschmäht
und spielt den Verräter, grübelte er voll
Verzweiflung, doch ein Schauer fuhr ihm über die
Haut, als ob ihn Ekel berührt hätte. Hundert Erwägungen
verbrannten sein Gehirn, durch hundert
Kunstgriffe suchte er das Gesicht des Anklägers zu
entstellen, immer schüttelte er den Kopf und kehrte
zu sich selbst zurück: war ich also blind! Und abermals
ging er auf und ab. Er stellte um sich her lauter
Beates mit allen ihren Gesichtern, ihren Geberden,
ließ all ihre Worte nachklingen, die ihm erinnerlich
waren, begann an ihrem Schweigen zu studieren,
und endlich schien es ihm, als ob von einzelnen dieser
Bilder eine Maskenhaut abfiele, und er sah Lieblosigkeit,
in kindisches Gewand verhüllt, Verlogenheit
unter tausendfach täuschendem Lächeln. Was soll
ich tun? entfuhr es ihm endlich und ihm war, als
müsse er sich auf den Boden legen, um Jahre lang
nur darüber nachzudenken. Erst jetzt dachte er daran,
daß er ja zu Beate gehen könne und daß dann alles
entschieden sein müsse. Mit grausamer Logik überzeugte
er sich, daß er diese Entscheidung nur verschieben
wolle. Ist es denn schließlich so schlimm?
murmelte er. Ein Weib weniger für mich, gut. Das
Vergehen ist gering von ihrer Seite, da sie doch nicht
die ist, die ich glaubte. Man darf die Einfachheit
der Sachlage nicht verwickeln. Betrug oder Nichtbetrug,
das ist schließlich Angelegenheit des Geschmacks
und der Reinlichkeit. Für mich handelt es sich um
mehr. Einen Weg, der nicht da ist, kann man nicht
gehen, mit jemand, der nicht existiert, kann ich nicht
zusammenleben.
Er zündete eine Kerze an, verließ das Zimmer,
ging durch einen Salon, in welchem die Sessel schon
mit staubschützenden Überzügen versehen waren und
betrat das Schlafgemach. Beate lag im Schlafrock
auf dem Bett und schlief. Er zögerte, stellte dann
die Kerze vorsätzlich geräuschvoll auf ein Marmortischchen
und Beate schreckte empor. »Hast du ihn
fortgeschickt?« fragte sie schlaftrunken. »Lösch doch
die Kerze aus, Alexander, sonst verbrennt der Vorhang«,
fuhr sie munter werdend fort. »Es ist ja Licht
genug, siehst du denn das nicht?« Da er nicht antwortete,
sondern auf- und abzugehen begann, verfolgte
sie ihn mit ungeduldigen Blicken. »Du könntest
jetzt zu Bett gehen«, sagte sie verdrießlich. »Wir
müssen ausschlafen, ich muß morgen früh noch meine
Handtasche packen.«
»Die magst du wohl packen«, entgegnete Hanka
mit Ruhe. »Du kannst auch reisen, wenn es dir gefällt,
aber es wird ohne mich sein.«
Beate riß erstaunt die Augen auf. »Ja, bist du
denn toll?« schrie sie endlich, starrte wieder und lachte
darauf laut. Sie hob sich empor, brachte die Füße
auf die Erde und indem sie auf dem Rand des Bettes
sitzen blieb, zeigte ihr Gesicht einen Ausdruck von
Angst, Sorge und Haß.
Es schien, als ob Hanka von alledem nichts sähe.
Er begann in gleichmütigem Tonfall wieder zu sprechen.
»Ich frage dich nicht, in welchem Verhältnis
du zu Maxim Specht stehst; weder was dich veranlaßt,
im Wagen geheimnisvoll mit ihm durch die
Stadt zu fahren, noch was zwischen euch schon in
Podolin vorgegangen ist. Ich frage auch nicht, was
es mit dem Knecht beim Grafen Randomir auf sich
hatte. Ich will nur wissen, was du mir jetzt zu sagen
hast, da dir bekannt ist, daß ich alles weiß.«
Beates Gesicht war erdfahl geworden. Ihr Rücken
krümmte sich, und ihr Kopf sank ein wenig herab.
Langsam öffneten sich die Lippen und ließen die fest
zusammengepreßten Zähne sehen. Es schien, als ob
sie gleichzeitig lachen und schreien wolle. Ihre Finger
bewegten sich, ihre Zehen rührten sich in den dünnen
Strümpfen, ihre Knie drückten sich gegeneinander,
ihre Arme zuckten, dann stand sie jählings auf und
sagte mit grenzenloser Verachtung: »Der Hund also!
der Schwätzer! der gemeine Denunziant!« Mit einer
blitzartigen Bewegung nahm sie das Umhangtuch, das
auf dem Bett lag, schlug es um den Kopf, ging auf
Strümpfen stolz zur Tür und schlug sie knallend hinter
sich zu.
Ein verblasenes Lächeln glitt über Hankas Mund.
Er blieb stehen und drückte die Augen zu, als wollte
er sagen: Genug, übergenug. Doch keine Minute
war verflossen, als Beate wieder zurückkam. Sie
weinte; sie setzte sich auf einen Stuhl und drückte
die Hände vor die Augen. »Es liegt nun an dir«,
sagte Hanka, »dein Leben in Zukunft so gut wie
möglich einzurichten. Ein öffentlicher Skandal widerstrebt
mir ganz und gar. Es ist also gut, wenn du
in aller Stille die Stadt verläßt. Ich lasse dir Zeit,
ich will für einige Wochen weg, damit kein Aufsehen
entsteht. Was ich dir zu einer anständigen
Lebensführung materiell biete, werde ich morgen
schriftlich feststellen lassen. Hast du noch etwas zu
sagen?«
Als Beate merkte, daß es so bitterer Ernst war,
ging eine neue Veränderung mit ihr vor. »Ich bin
unschuldig, Alexander!« rief sie aus, »sie haben mich
verführt, bei Gott. Sie haben mich unglücklich gemacht.«
Sie fiel vor dem Bett auf die Knie und
legte ihr Gesicht in die Kissen.
»Das mag wahr sein«, sagte Hanka freundlich, der
vor dem Spiegel stand und so nach ihr hinschaute.
Beate erhob rasch den Kopf und in ihrem Gesicht
war ein naiv hoffender Ausdruck.
Hanka lächelte schmerzlich. Er begriff, daß seine
Sprache nicht zu den Ohren dieser Frau dringen
konnte, daß seine Welt in andern Sphären rollte,
daß sein Blut anders beschaffen war und daß Beate
dies nicht einmal zu ahnen vermochte. »Richte dich
nach dem, was ich gesagt habe«, bemerkte er kühl
und wandte sich zum Gehen. Als er den Raum
schon verlassen hatte, hörte er Beates aufschreiendes
Lachen.
Er kehrte in das Eßzimmer zurück, setzte sich ans
Klavier, schlug irgend ein Notenheft auf und präludierte.
Aber es war, als ob sich zwischen ihm und
dem Instrument eine Wand befinde; die Töne blieben
dumpf und fern. Er stand auf, öffnete die Fenster
und die Glastür, die in den Garten führte. Er ging
hinaus. Von Bäumen und Sträuchern tropfte das
Regenwasser, und über den Beeten lag schwärzestes
Dunkel. Am weißlichgrauen Himmel schoben sich Wolken
hin, und das Gewitter leuchtete noch in der Ferne.
Ich war ein andrer Mensch, als jene Blitze noch auf
der andern Seite des Horizonts standen, dachte Hanka;
zwischen zwei Windstößen hat sich das Schicksal gewandt.
Er verfolgte die geschlungenen Gartenwege,
und das unveränderliche Tropfen des Wassers klang
ihm wie die Hämmer des Klaviers, das an diesem
Abend nicht hatte tönen wollen. Es war spät, als
er wieder in das Zimmer zurückkehrte, das er nach
allen Seiten abschloß. Er nahm in einer Ecke Platz
und griff zu einem Buch, zu einem zweiten und
dritten. Hanka hatte ein Gefühl der Müdigkeit und
Schwere, als ob er zwei Nächte durchzecht hätte.
Er streckte sich im Sessel aus, und in seinem Kopfe
begann ein hohles Denken, welches in einen hohlen
Schlummer überging, als die Blätter im Garten von
der Morgenröte zu erglühen anfingen.
Siebenunddreißigstes Kapitel
Nachdem Arnold Hankas Haus verlassen hatte,
stand er eine Weile unschlüssig vor dem Tor.
Dann schritt er die unbekannte Gasse entlang, kehrte
aber wieder zurück. Schweigend standen die Villen
und Landhäuser zu beiden Seiten der Straße, und
sein Ohr vernahm keinen andern Laut als den des
Regens. Er gelangte vor eine Bank, die unter dem
Schutze eines alten Kastanienbaumes leidlich trocken
geblieben war und setzte sich nieder.
Der letzte Blick und Händedruck Alexander Hankas
wollten ihm nicht aus dem Kopf. Arnold fühlte
wohl, daß darin mehr und anderes enthalten war
als die dankbare Quittung für einen wohlgemeinten
Dienst, anderes jedenfalls, als was Arnold erwartet
hatte. Er hatte erwartet, daß ein Mann, der behäbig
im Finstern gesessen, sich überrascht, tätig und
entschlossen dem Licht zuwenden würde, das ihm ein
Freund ins Haus getragen. Statt dessen, das verrieten
ihm Empfindung und Beobachtung, hatte er
einen Gedemütigten hinter sich gelassen. Arnold hatte
geglaubt, eine Wahrheitsschuld abzutragen, und er
hatte ein Gericht abgehalten. Hankas Blick war deutlich:
du hast gerichtet, aber wer hat dich gerufen?
War dies nun die Schwäche Hankas oder war es die
menschliche Schwäche oder war es Arnolds Irrtum?
Ist es Hankas Schwäche, dachte Arnold, dann beruht
sein Glück darauf, nicht zu sehen, wie das meine,
sehen zu wollen. Und so wenig ich die Macht habe,
ihm mein Gehirn und mein Auge zu geben, so wenig
steht bei mir das Recht, ihm meine Wahrheit aufzureden.
Hier ist kein Ausweg, obwohl ich sehe, daß
jedes Ding, gutes Ding und böses Ding zwei Seiten
hat. War es eine menschliche Schwäche, dann kann
es ja auch meine Schwäche sein, und es wird für
mich um so vielmal schwerer, Recht zu haben, als es
außer mir noch Menschen gibt. Was Hanka besitzt,
das ist sein Eigentum: Kleid, Haus und Weib. Ich
nehme an, Hanka käme zu mir und sagte: deines
Vaters Geld, von dem du zehrst, ist durch List, fremden
Schweiß und fremde Not zusammengehäuft. Ich
müßte es prüfen und richtig finden und müßte von
mir werfen, was ich durch Lüge besitze, weil ich doch
behauptet habe, daß jeder seine Lüge von sich werfen
soll. Aber wie ist es mit Beate? Vielleicht war es
der beste Weg, den sie erkannt hat, zu schweigen?
Vielleicht war es ihre Kraft, nicht zu bekennen, und
sie liebte Hanka am besten, wenn sie sein Nichtwissen
liebte? Vielleicht war hier die Lüge das Bessere.
Lüge, das ist doch nur ein Wort. Aber wie? wenn
er es auf rohe und niederträchtige Art erfahren hätte?
ist ein Wille, der etwas vollbringt, nicht ebenso gut
wie das Ungefähr? und gilt es darum nicht als Wahrheit,
weil ich es gewollt?
Und wenn Lüge nur ein Wort ist, bald so, bald
so zu nehmen, dann ist ja auch Ungerechtigkeit nur
ein Wort. Wenn man eine Wahrheit nicht schaffen
kann, dann kann man ja auch eine Gerechtigkeit
nicht schaffen. Vielleicht ist es irgendwo bestimmt,
daß die Jüdin ins Kloster kam, vielleicht hat das
irgendwo sein Gutes, nur weiß ichs nicht. Aber das
wäre ja eine verzweifelte, eine höchst verzweifelte
Geschichte, wenn der Mensch nicht mehr imstande ist,
zu wissen, was er soll und darf.
Sehr verwirrt erhob sich unser Held und ging wie
in einem trübseligen Rausch nach Hause.
Achtunddreißigstes Kapitel
Ende August kehrte Anna Borromeo vom Landaufenthalt
zurück. Sie machte sofort Besuche,
empfing Besuche, abonnierte für Konzerte und
Theater und bereitete sich auf das gewohnte Herbst-
und Winterleben vor. Stöße von Romanen kamen
von der Buchhandlung und vom Leihgeschäft und
keiner konnte sie länger als einen Vormittag festhalten.
Sie jagte hierhin und dorthin, klagte über
Schlaflosigkeit, schien bald entkräftet, bald überreizt,
bald geschwätzig und bald allzu still. Arnold verfolgte
aufmerksam ihr Treiben, und ihn beklemmte
es, sie und den Oheim in einem so engen und ewigen
Verhältnis zu denken, als welches ihm die Ehe erschien.
Friedrich Borromeo war tief in sich gekehrt. Nichts
kam der Müdigkeit und Gelassenheit gleich, mit welcher
er Messer und Gabel führte, die Speisen auf
seinen Teller legte, nichts der Appetitlosigkeit, mit
der er aß oder ein Gespräch zu einem vorläufigen
Endpunkt schleppte.
Es verdroß und kränkte Arnold, dies zu beobachten.
Noch brannte in ihm der Wunsch, sich um Menschen
zu bemühen. Als er an einem Morgen mit Borromeo
allein beim Frühstück saß, begann er offen: »Könntest
du mir nicht sagen, was dich so niederdrückt? Muß
denn alles so sein, wie es ist?«
Borromeo zog die Brauen langsam empor. Seine
beiden Augensterne rollten erlöschend in die Winkel.
»Du fragst wie ein Jüngling«, sagte er, »aber ich
kann dir nicht antworten wie ein Mann. Lassen
wir das. Auch die Sterbenden haben ein nil nisi
bene.«
Als sie sich voneinander trennten, war Borromeos
Händedruck voll Wärme. Nichts konnte deutlicher
ausdrücken, wie zufrieden er mit ihm war und wie
sehr er ihm vertraute.
Mit seinem jungen Lehrer Wolmut hatte Arnold
ein gutes Verständnis erreicht. Er erkannte sofort
dessen glückliche und gesunde Veranlagung, allen
Kräften seines Wesens gleichmäßig zur Entwicklung
zu verhelfen und beobachtete ihn so scharf, als ob er
durch die fremde Natur seine eigene ohne weiteres
vervollkommnen könne.
Völlig das Kind eines wissenschaftlichen Zeitalters,
gehörte Wolmut zu jenen Menschen, welche sich eine
Weltanschauung aufbauen, um damit das Leben zu
kommandieren. Seine kleinsten Geschäfte verrichtete
er mit unermüdlichem Eifer und strenger Gewissenhaftigkeit,
und seine Armut trug er mit selbstverständlichem
Stolz. Er liebte um jeden Preis zu
lernen und suchte stets zu helfen. Sein klares Urteil
befähigte ihn, jede schadhafte Stelle in der Lebensführung
des Andern sofort zu übersehen. Die neugierige
Frage tauchte in Arnold auf, wie sich Wolmut
gegenüber Elasser und der Gewalttat des Klosters
benommen hätte. Seit jener Nacht, die unter dem
Kastanienbaum in Regen verflossen war, hatte er
nicht aufgehört, sich zur Rechenschaft zu ziehen, mit
sich und der Welt zu hadern. Allmählich war sein
leidenschaftliches Wollen einem dumpfen Zwiespalt
gewichen. Er glich einem Mann, der kampf- und
rechtbegeistert vom Schlachtfeld reitet, um Verstärkungen
gegen den Feind zu holen; er eilt anfangs
und seine Botschaft benimmt ihm noch den Atem.
Dann wird seine Stirne kühler. Er beginnt Gefallen
an der Landschaft zu finden, läßt allmählich das Pferd
im Tritt gehen und an geschützter Stelle grasen; aus
der Nacht wird Morgen, aus dem Morgen Mittag.
Der drängende Ruf, der seine Schritte beflügelt hatte,
verklingt, die schreckensbleichen Gesichter, die ihre
flehenden Blicke dem Abgesandten in die Seele bohrten,
entrücken unter dem Horizont, und aus dem Geschehenen
wird sozusagen eine Vorstellung.
Dazu war Arnold in den letzten Tagen sehr bemüht
gewesen, eine ihm neue Weichheit der Stimmung
abzuschütteln von der er kaum wußte, woher
sie kam. Er stellte also eine Frage an Wolmut, die
harmlos schien. Er gedachte zu ersehen, welches Echo
die Podoliner Ereignisse in einem so Fern-, doch
wahrhaft Mit-Lebenden gefunden hätten.
»Soviel ich weiß, steht die Geschichte auf dem alten
Fleck«, erwiderte der Student. »Ich hörte, die Regierung
habe jemand zum Papst gesandt, aber dadurch
wird nichts geändert werden. Wenn die Justiz
ihre unmittelbaren Handhaben verloren hat, ist für
den Einzelnen keine Möglichkeit mehr, sich zu widersetzen.
Der Rechtsbegriff wird nicht erzwungen und
gemacht, sondern bildet sich wie die Sprache.«
Arnold sah ziemlich betroffen vor sich nieder. »Das
hört sich gut an«, erwiderte er schroff, »so lange, bis
Sie selber dabei den Hieb bekommen. Wollen Sie
verzichten, an dem Unrecht teilzunehmen, das nicht
an Ihnen selbst ausgeübt wird?«
Wolmut lächelte. »Das müßte man auch. Es
handelt sich nur um eine Ausschaltung unzweckmäßiger
Triebe. Was soll platonische Teilnahme?
Sich selbst in Betrieb setzen, eine Maschine sein, die
möglichst viel Räder in Bewegung setzt, mit der
Feuerung haushalten und bei der größten Arbeitsleistung
den kleinsten Kräfteverbrauch erzielen, ist das
nicht Teilnahme genug?« Der kleine, schmale, hübsche
Mensch mit dem rosenroten Gesicht sprach ruhig und
überlegen, mit einer Verhaltenheit, als wolle er Meinung
und Gebahren sogleich in Einklang bringen.
»Das ist wahr, weil es wahr sein kann«, gab Arnold
gereizt zurück. »Ich will nicht sagen, daß ich
anders denke, aber wenn ich gar nicht denke, wird
alles anders.«
»Gefühl zerstört«, behauptete Wolmut mit seiner
unerschütterlichen Lehrsamkeit. »Ziehen Sie Ihren
Kreis; verbieten Sie Ihrer Fußspitze, ihn auch nur
um einen Millimeter zu überschreiten. Glück ist Positivität.
Die Welt ändern wollen heißt, sich selbst vernichten.«
Arnolds Gesicht rötete sich. »Das ist Streberweisheit«,
rief er zornig aus. »Das Judenmädchen ist
also nur deshalb nicht zu retten, damit wir, ich und
Sie, glücklich werden?«
Wolmut zuckte die Achseln. »Warum denn nicht?
Jede Kultur schleppt noch einen Rest von Finsternis
hinter sich her, der von selbst kleiner wird wie ein
Schatten, je höher die Sonne steigt. Ich predige
nicht Apathie oder banalen Egoismus. Aber jeder
Mensch muß unbedingt seine Handlungen nach dem
Maß seiner Hilfskräfte modeln. Ebenso wie er zu
jeder Minute sich darüber klar sein muß, daß nichts
in seinem eigenen Charakter ihn überraschen und daß
kein Vorfall der Welt ihn verführen kann, die Arme
statt des Kopfes oder das Herz statt der Füße zu gebrauchen.«
Arnold hatte das Gefühl, als ob ein schädlicher
Doppelgänger auf ihn zugetreten wäre, um die Gedanken
der Entschuldigung und entfremdeten Kälte,
die er gehegt, in ein System zu pressen. Dieser feste
und ehrliche Mensch, weit entfernt, ihn zu überzeugen,
verdunkelte ihn nur vor sich selbst und vermehrte seine
Unsicherheit.
Er klagte im stillen seine Jugend und erste Erziehung
an, die ihm vorenthalten hätten, wozu andere
so mühelos und planvoll kämen: Sichbescheiden.
Darüber erhob sich die Gestalt der Mutter, und mit
einem Gemisch von Schrecken und Scham kehrte er
wieder zu jener weichen Stimmung und Verstimmung
zurück, aus deren Wolken sich das Gesicht Verenas
erhob. Aber nicht mit Innigkeit stand er vor der
Erscheinung, sondern mit Trotz und Wachsamkeit, als
ob sich neuerdings eine Sache der Gewalt und der
unbefugten Eingriffe zu entscheiden habe.
Eines nachmittags machte er sich auf, um Verena
zu besuchen. Er fand in ihrem Zimmer eine kleine
Gesellschaft fremder und halbfremder Menschen beim
Tee, unter ihnen Wolmut und Tetzner. Verena war
zurückhaltend wie sonst, doch heiterer. Tetzner saß
schweigsam beim Fenster, und Wolmut setzte seine
Ansicht über Askese auseinander.
Verena stand auf und trat zu Arnold. »Ich habe
für morgen Abend zwei Billette zum Konzert«, sagte
sie freundlich. »Vielleicht kommen Sie mit?«
Arnold lächelte ohne zu antworten. Verena war
etwas verwundert; dann preßte sie die Lippen zusammen,
erblaßte und warf einen flüchtigen Blick auf
Tetzner, der schweigend und abgekehrt saß. Hierauf
sahen sie sich zum erstenmal von solcher Nähe in die
Augen, Arnold mit großem, etwas knabenhaftem
Blick, Verena mit einem zugleich bösen und flehenden
Ausdruck. »Kommen Sie nur«, wiederholte sie
schließlich mit der vorigen Freundlichkeit, »man spielt
Beethoven.«
Am nächsten Abend holte er sie gegen sieben Uhr
ab, und sie fuhren zum Konzertsaal.
Wunderbare Klänge hörte Arnold in diesen Stunden.
Er sah eine Säule langsam und zart bis in den
höchsten Himmel wachsen, und oben erst sprühten die
erdgeborenen Blitze. Es war, als würden ihm zwei
neue Ohren aufgerissen, und er lauschte mit einem
Zustimmen seines tiefsten Herzens.
Aus einer hastigen Äußerung entnahm Verena,
daß er ganz und gar nicht zerflossen war. Das hatte
sie wohl erwartet, allein sein bestimmtes und heiteres
Wesen erfüllte sie mit seltsamer Furcht.
Als es aus war, gingen sie lange schweigend auf
der Straße nebeneinander. »Ich habe Hunger«, sagte
Arnold endlich. »Wollen wir nicht in das Gasthaus
da?« Er deutete auf die erleuchteten Fenster eines
vornehmen Restaurants.
Verena schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich bin
keine Millionärin«, sagte sie. »Überdies habe ich
Tetzner versprochen, nach Haus zu kommen.«
Sie gingen weiter. »Ich lebe nämlich von Tetzners
Geld«, sagte sie auf einmal mit veränderter
Stimme.
Arnold hatte Mühe, einer rätselhaften Freude Herr
zu werden, die ihn von der Stirn bis zu den Sohlen
einhüllte.
»Aber ich will nicht sprechen,« fuhr Verena fort.
»Wozu auch. Man kann doch nichts aus sich herausbringen.
Ich bin auch kaum mehr fähig, mich zu verständigen.
Ach, das Leben, das elende Leben!«
»Das elende Leben? Nein, das schöne Leben«,
versetzte Arnold. »Das schöne, herrliche, gute glückliche
Leben! Jeden Tag bin ich froh, daß ich lebe.«
Bei diesem unerwarteten Ausbruch sah ihm Verena
mit einem forschenden und ergebenen Blick in die
Augen.
Sie waren im Haus. Verena zündete eine Kerze
an und ging gedankenvoll voraus, den Arm mit der
Kerze hochhaltend und Arnolds Gegenwart lebhaft
und dankbar fühlend.
Oben angelangt, klopfte sie dreimal an die Türe
und sah mit dem breiten schwarzen Hut, dem langen
glatten Mantel und dem vorgebeugten Kopf, der von
dem Licht magisch bestrahlt wurde, wie eine Zauberin
aus.
Tetzner kochte Wasser zum Tee. Als der Tee fertig
war, nahm er sein Buch und setzte sich abseits. Verena
legte Brot, Butter und kaltes Fleisch auf einige Teller.
Ihre niedere Stirn leuchtete über den blauen stillen
Augen wie ein weißes Blatt. Während sie aß, nahm
sie ein Stückchen Kreide und zeichnete auf der Tischplatte
herum, dabei lächelnd und verstohlen einigemal
nach Arnold schielend. Er beugte sich über die Ecke
und erkannte verwundert sein übertriebenes Profil:
ein rundes, ausladendes Kinn, dessen Linie gegen
den Mund abenteuerlich weit einbog und so mit dem
vorstehenden Lippenpaar einen wahren Hafen bildete,
eine griechisch kurze Oberlippe, das Stück eines
kümmerlichen Schnurrbarts, eine lange, gerade und
unbescheiden in die Luft stechende Nase und über der
ungewölbten Stirn anständig und gleichmäßig gestrichenes
Haar. Arnold nahm nun seinerseits die
Kreide und begann damit, Verenas Frisur zu zeichnen.
Mit diesem schwierigen Stück verging aber so
geraume Zeit, daß Verena belustigt ausrief: »Sehen
Sie, auch dazu braucht es Talent.«
Tetzner hatte die Brille abgenommen und sie auf
das offene Buch gelegt. Mit großen, weit offenen
Augen blickte er herüber.
»Was liest du?« fragte Verena.
»Ein Buch über die Liebe«, antwortete Tetzner.
Arnold blickte Verena an. Es gibt Augenblicke, wo
ein einziges Wort genügt, um die Seele zu entflammen.
Sein berücktes Herz sammelte sich plötzlich zu
aller Sehnsucht und Leidenschaft, deren es fähig war.
»Wenn ich so das Leben überblicke«, fuhr Tetzner
versonnen plaudernd fort, und sein Blick richtete sich
düster gegen die Wand, »so ist nichts als Irrtum.
Was man hat und rechtmäßig in sich trägt, wird verschleudert,
und das Schlechte, das trügerisch glänzt,
kauft man um teuren Preis. Auch die Liebe ist eigentlich
ein Irrtum, und sie trübt das Bild der Welt.«
Gegen den Ofen gelehnt, flüsterte Verena nervös:
»Was soll das ewige Reden! Ich bin satt von Worten.
Ich bin überdrüssig, alles zu wissen, was ich empfinde
und empfinden soll.«
Tetzner ging auf und ab und seufzte. »So lange
es Tee und Schinken auf Erden gibt, soll man nicht
über Liebe reden, das ist richtig«, sagte er in seiner
wiederkehrenden kaustischen Manier. Breitbeinig
stellte er sich vor den Tisch, starrte ins Licht der
Lampe und trällerte mit veränderter, heiserer Stimme:
»Wenn er bei einer Hochzeit ist,
Da sollt ihr sehen, wie er frißt;
Was er nicht frißt, das steckt er ein,
Das arme Dorfschulmeisterlein.
Wenn er einmal gestorben ist,
Legt man ihn sicher auf den Mist.
Ach wer setzt einen Leichenstein
Dem armen Dorfschulmeisterlein.«
Dann warf er den Wettermantel um, nahm den
Schlapphut und sein Buch und entfernte sich, ohne
irgend Abschied genommen zu haben. Bald hörte
man ihn die Außentüre zuschlagen.
Die Stirn an die Scheibe gedrückt, stand Verena
am Fenster. »Es ist finster draußen«, murmelte sie
mit erzwungener Gelassenheit. Als sie sich umdrehte
und Arnold gewahrte, entfärbte sich ihr Gesicht. Er
ging auf sie zu und packte mit Heftigkeit ihre Hände.
Sie schwieg, atmete jedoch wie eine Gehetzte. Er
drückte ihre Hände nur um so fester, als umschlösse
er alles, was er im Leben an sich reißen wollen.
Vergeblich war sie bemüht, sich ihm zu entwinden.
»Sind Sie denn glücklich, Verena?« fragte Arnold
endlich flüsternd, im innigsten Ton, mit einem Ausdruck
von Treuherzigkeit und Selbstanerbietung.
Ihr Gesicht wurde kalt, verschlossen und todesruhig,
und er gab ihre Hände frei. Während sie sich an den
Tisch setzte und den Kopf in die Hand stützte, stand
Arnold ratlos, wie niemals durchwühlt, gekränkt und
geängstigt. »Sie müssen jetzt gehen, Arnold«, sagte
Verena plötzlich weich.
Mit der Lampe leuchtete sie ihm in den dunklen
Flur und wartete, weit über das Geländer gebeugt,
bis er unten war. Dort blieb er noch einmal stehen
und schaute nun in Wirklichkeit zu ihr empor, wie er
es sonst in seinen Gedanken zu tun pflegte. So begegneten
sich ihre Augen durch eine nächtige Ferne,
einander grüßend, doch ohne Versprechen, ohne Begehren.
Neununddreißigstes Kapitel
Eine andere Sprache redeten jetzt die Stunden für
Arnold, andere Laute hatte der Tag, andere
Strahlen das Licht. Sein zurückliegendes Leben
erschien ihm als ein einziger Schritt vom Nichts in
eine süße, gesammelte Welt. Jetzt erst glaubte er,
sehen zu können; sein eigenes Spiegelbild kam ihm
näher und wesensvoller vor. Er war mit allen
Sinnen bei der Arbeit, aber zur selben Zeit konnte
er sich mit ganzer Seele an einem verlorenen Punkt
seiner Träume finden. Nichts löste sich in Weichheit
auf, keine Ader seines Körpers wurde schlaff,
aber alles, was er unternahm, hatte einen bestrickenden
Reiz von allgemeiner Liebe und Erkenntnis des
Besseren. Jede Schwierigkeit versank unter der Wucht
günstiger Notwendigkeiten; die Gefahren tauchten
schon von ferne in die Flut des Glückes.
Abends war er mit Verena beisammen; sie trafen
einander täglich und gingen, wenn das Wetter es erlaubte,
stundenlang in den Straßen spazieren. Sonst
saßen sie im Zimmer oder in einem kleinen Vorstadtkaffeehaus.
Verena war es, die den Aufenthalt bestimmte,
die Zeit begrenzte. Sie war es, welche die
Schranken zog, und Arnold, der gehorsam davor stehen
blieb. Sie erstaunte, wie er unter der Berührung
ihres Blickes weicher, wärmer, empfindlicher zu werden
schien. Allmählich erschütterte es sie sogar, dies
zu sehen. Sie fürchtete für ihn, denn je schärfer der
Stahl, je tiefer die Scharte, dachte sie. Sie fürchtete
auch für sich; sie hatte nicht geglaubt, einen solchen
Menschen ohne Anstrengung zu gewinnen. Nach
allen Seiten suchte sie zu entweichen, um immer
stärker und glühender den Hauch seiner Nähe zu
spüren. Sie sah sich verfallen.
Ihre Gespräche bedeckten gleichmäßig Tiefen und
Untiefen des Beisammenseins. Verena wartete stets
ab, was von ihr gefordert wurde, und da es wenig
genug war, so konnte sie sich großmütig erweisen und
dort schenken, wo sie nur ein bescheidenes Verlangen
zu übertreffen brauchte. Ihre eingeschränkte Lebensweise
machte Arnold mehr und mehr stutzig; es betrübte
und beleidigte ihn, sie in einer Lage zu wissen,
die von der seinigen so sehr verschieden war. Einmal
kam er zu ihr; Tetzner stand mit gekrümmtem Rücken
und gebeugtem Kopf nahe der Tür. Als Arnold
Verena begrüßt hatte und sich nach ihm umschaute,
war er schon verschwunden. Verena blieb einsilbig
und abgekehrt. Erst am Abend sagte sie: »Nun ist
es entschieden. Ich bin frei.«
Erst nach sorgenvoller Überlegung verstand Arnold,
was sie meinte. »Wovon wollen Sie leben?«
fragte er.
Sie zuckte die Achseln. »Man verhungert nur an
seinem Unvermögen«, entgegnete sie. Sie wandte
sich ab, seufzte lächelnd und breitete in ihrer sinnlich-müden
Weise die Arme aus. »Ich werde Stunden
geben, Schreibarbeiten machen, Holz hacken, was sich
bietet. Übrigens bin ich nicht ganz entblößt.«
In ungreifbarer Betrübnis verbrachte Arnold die
nächsten Tage. Eine Verachtung alles Glänzenden,
Reichen, Geputzten erfaßte ihn; er selbst in seiner
Unbekümmertheit und Sattheit erschien sich verwerflich.
Aber eines Morgens erwachte er, förmlich erhitzt
von einem wie im Traum gefaßten Entschluß.
Er machte sich auf den Weg zu Verena. Sie war
nicht zu Hause; auf der Straße auf und ab gehend,
wartete er anderthalb Stunden. Sie kam. Morgendlich
hell, freudig bewegt, ihn zu sehen, den Widerglanz
ihrer Tätigkeit und ihrer Besonnenheit in den
weichen Gesichtszügen und in der robusten Gestalt,
reif und anziehend wie selten. Sogleich begann
Arnold. »Ich bin ein Esel, Verena; wie schlecht
müssen Sie von mir denken. Ich habe einen Sack
voll Geld und wenn ich nur ein Loch hineinschneide,
rollt es aufs Pflaster. Sie brauchen nur nehmen,
Verena, und nicht einmal das, Sie brauchen nur
darauf zu treten und alles gehört Ihnen.«
Kalt und stolz sah ihn Verena an. »Das hieße
einen Strick mit einem Messer vertauschen«, antwortete
sie schroff und ließ ihn vor dem Haus stehen.
Nicht imstande, ihr zu folgen, blieb Arnold wie geschlagen
auf der Schwelle. Mit schleichenden Schritten
ging er endlich langsam heim. Gegen Abend empfing
er einen wunderlichen Brief von Verena. Mit einem
fast widerwilligen Anschmiegen ließ sie dunkle Leiden
vor ihn hinströmen, malte Schatten, deren Körper er
nicht zu sehen vermochte. Zum erstenmal tönte ihr
Wesen in einer weiblichen Klage vor ihm; getröstet und
aufatmend machte er sich das tote Papier zum Freund
und erblickte in ihm einen Anker, der das ratlos schweifende
Schifflein seiner Gefühle auf festem Grunde hielt.
Aber die wunderliche Scham über seinen Besitz
wollte ihn nicht verlassen. Er faßte plötzlich den
Plan zu einer Art von Wohltätigkeitsinstitut. Dies
erschien ihm wie ein Opfer für Verena. Wolmut,
der diesen Einfall zuerst verwarf, war ihm schließlich
behilflich, da er doch wenigstens etwas Zweckmäßiges
getan wissen wollte. Das Gerücht trug den Namen
des Helfers rasch genug herum. Bald füllte sich das
Vorzimmer von Arnolds Wohnung täglich mit den
buntesten Figuren: Frauen und Greise, Jünglinge,
Familienväter, Kinder; Kranke, Vorsteher von Vereinen,
Unternehmer von Sammlungen, verarmte
Kaufleute und Handwerker, mittellose Schauspieler,
Beamte, Adlige, Arbeiter, alle warteten auf ihre
Viertelstunde und zogen befriedigt oder enttäuscht,
jeder nach seiner Veranlagung wieder davon. Es
kam so weit, daß sich Leute einfanden, welche durchaus
nicht nach Geld trachteten, sondern nur in einer
schwierigen Lebensverwickelung Rat einholen wollten,
zum Beispiel, wenn sie amtliche Scherereien hatten,
in Heirats- und Erbschaftsangelegenheiten, ja sogar
in Fragen ihres Berufs. Oft gab es Stoff zum
Lachen, oft seltsame Einblicke in das Treiben der
Leute, und aus mancher geheimnisvollen Not sprach
das Leiden und der Irrtum von Geschlechtern. Und
wie wenn die schlaffe Haut von einem zu Tod verwundeten
Tier sich löst, so daß das in Krämpfen
zuckende Muskelwerk ans Licht tritt, so konnte Arnold
in das kranke Fleisch des Landes und der Gesellschaft
blicken. Unduldung und Willkür, gelassenes Hinnehmen
der Rechtlosigkeit, grausamstes Ränkespiel und hartnäckiges
Strebertum, – aus ebensovielen Wunden
rieselte die Lebenskraft des Staates. Aber Arnold
litt nicht so sehr darunter, als er sich glauben machen
wollte, daß er litt. Es war, als ob Leidenschaft ein
Gitter um ihn gewoben hätte. Wohl sah er Pfeile
fliegen und Getroffene niederstürzen, aber ihn beschlich
eine frevelhafte Sicherheit.
Wolmut, wie ein uneigennütziger und gewandter
Minister, behandelte jeden Fall mit trockener Sachlichkeit
und stand in dem kleinen Tatengewebe aufmerksam
da, vielleicht mit Wissen die größere Rolle
einstudierend, die er der Welt einst vorzuspielen gedachte.
Arnold lernte von ihm, sich auf das Einfache
und Zweckdienliche zu beschränken, alles Gebauschte
und Überflüssige zu vermeiden. Auch äußerlich lebte
er so einfach und mit so ängstlicher Sparsamkeit, daß
er zum Spott seiner näheren Umgebung wurde.
Anna Borromeo beobachtete sein Tun mit Verdruß
und Entrüstung. Sie hatte jetzt selten Gelegenheit,
ihn zu sehen, aber wenn sie ihm begegnete, erbleichte
sie vor Zorn. Sie beklagte sich bei ihrem Gatten
lebhaft über das Gesindel, welches nun täglich Flur
und Treppen stürme. »Gut«, erwiderte der Doktor
mit niedergeschlagenen Augen, »ich werde Arnold ersuchen,
vor dem Haustor Fräcke und seidene Kleider
austeilen zu lassen. Dann kannst du die Herrschaften
getrost auch bei dir empfangen.«
»Du hast recht«, gab Anna zurück; »und wir beide
werden bei ihm um ein Versorgungsstübchen in Podolin
betteln.«
Man meldete Besuch, den Baron Valescott, einen
jungen Leutnant, der seit kurzem zu Anna Borromeos
eifrigen Verehrern gehörte.
Borromeo begegnete Arnold im Stiegenhaus.
»Willst du mich ein Stück begleiten?« fragte er in
seiner zurückhaltenden und bescheidenen Art. Arnold
erklärte sich bereit; er war auf dem Wege, Natalie
Osterburg zu besuchen. Sie hatte ihm geschrieben,
einen langen Brief mit hundert Entschuldigungen, er
möge nicht böse sein, sie werde auf Ehrenwort das
geliehene Geld am ersten Januar zurückerstatten, er
solle sie doch besuchen und damit zeigen, daß er ihr
noch freundlich gesinnt sei.
Sie gingen ein Stück Wegs, ohne daß Borromeo,
was ihn beschäftigte, in Worte zu fassen vermochte.
Er war redensmüde; immer schwerer wurde es für
ihn, sich mit der realen Teilnahme des Lebenden vor
ein Geschehnis zu stellen, da all und jedes Ding für
ihn in ein unermeßliches Meer der Nutzlosigkeit floß.
Trotzdem sagte er schließlich mit einem Anflug von
kränklicher Ironie: »Du ziehst das lebhafte Mißfallen
der besseren Kreise auf dich. Die besseren Kreise
wollen nicht, daß man ihre Privilegien, die sie ja
freilich nicht ausüben, zu wörtlich nimmt. Du solltest
dir ein Sammetpolster kaufen und darauf sitzenbleiben.
Tust du es nicht, so werden die besseren Kreise dafür
sorgen, daß dein bisheriger Sitz mit Nadeln gepolstert
wird. Du siehst, es ist kein schöner Kampf, man kann
ihn nicht auf ehrliche Weise führen. Stecknadelschlacht
ist es.« Er reichte Arnold die Hand und zog schwermütig
die Brauen empor. Arnold sah ihm sinnend
nach.
Bei Osterburgs wurde er in das große Wohnzimmer
geführt. Im Ofen brannte Feuer. Es war eine
ordentliche Versammlung da: Petra, die alte Frau
König, Natalie, ihr Mann, ihre beiden Kinder und
Hyrtl. Als Arnold eintrat, herrschte die größte Stille,
und er gewahrte mit Erstaunen, daß alle Sieben in
der gleichen Weise beschäftigt waren. Frau König
legte Patiencen mit zierlichen Elfenbeinkärtchen, dasselbe
tat Natalie; Petra spielte mit Herrn Osterburg
Beziques. Selbst die beiden Kinder beschäftigten sich
mit einem Kartenspiel und Hyrtl legte die sogenannte
kleine Patience. So saßen sie seit Stunden, nicht nur
an diesem Tag, sondern jeden Tag, den Gott gab.
Bisweilen fing Frau König an zu schmälen, dann
sagte Natalie Pst und vertiefte sich wieder. Hierauf
entspann sich unter den Kindern ein bedeutender
Kriegslärm und der würdige Vater brachte sie durch
einen Zornanfall zur Ruhe, der genügt hätte, um
eine Schar von Landsknechten einzuschüchtern. Auch
er versank danach wieder im Spiel wie ein Frosch,
der flüchtig das Wasser verlassen hat, nur um ein
Donnerwetter am Himmel zu bequaken.
Natalie begrüßte Arnold etwas verlegen. Alle
hörten auf zu spielen außer Frau König, die dem
jungen Mann so vertraulich zulächelte, als ob sie
nichts Lieberes als ihn kenne. »Gleich bin ich fertig«,
sagte sie mit heiserer Stimme und deutete mit einer
übertriebenen Rokokohöflichkeit auf einen leeren Stuhl
an ihrer Seite.
Osterburg gähnte, befühlte seine Lenden und warf
sich mit gelangweiltem Gesicht auf eine Ottomane,
wo er einstweilen wie ein Gestorbener liegen blieb.
Die beiden Kinder, gestachelt durch die Anwesenheit
eines Fremden, brachen wechselsweise in ein völlig
unbegründetes Gelächter aus, als ob es an sich verdienstvoll
und der Aufmerksamkeit wert wäre, zu
lachen. Mit verurteilendem Gesicht blickte Petra ins
Leere.
»Denken Sie nur, ich schlafe nicht mehr«, klagte
Natalie. »Seit vielen Nächten kann ich kein Auge
mehr schließen.«
Osterburg bewegte sich. »Seit ich dich kenne, meine
Liebe, hast du noch nie geschlafen«, rief er verdrossen
und gereizt. Zu gewissen Zeiten reizte ihn der harmloseste
Laut. Jemand gebrauchte das Wort Kunst
und er begann unbestimmt ins Blaue zu schimpfen.
Besonders auf neuere Malerei war er schlecht zu
sprechen und Richard Wagner war aus unerfindlichen
Gründen sein Todfeind. »Wissen Sie, daß ich
krank bin?« sagte er jetzt, das Haupt matt nach Arnold
drehend. »Ich habe Psorias.« Er hatte irgendwo
den Fachausdruck für einen unbedeutenden Ausschlag
gefunden und war sehr stolz darauf.
Natalie zog Arnold, der bisher kein Wort gesprochen
hatte, in eine Ecke und nahm auf einem niedrigen
Sesselchen neben ihm Platz. In atemloser Erregung
sagte sie: »Wissen Sie denn schon? Ich hab’ es erst
vor einer Woche erfahren –, wissen Sie es?«
»Was?« Arnold war verdutzt.
»Ich möchte Ihnen gern etwas mitteilen, Herr
Ansorge«, ließ sich Osterburg wieder vernehmen, »aber
geben Sie mir das Ehrenwort, daß Sie Silbe für
Silbe glauben wollen?«
»Er braucht einen Maulkorb«, murmelte Hyrtl, der
müde und verstimmt aussah.
Natalie klatschte in die Hände. »Petra!« rief sie
triumphierend über das ganze Zimmer, »er weiß noch
nichts. Also Sie wissen wirklich noch nichts? Seien
Sie aufrichtig.«
»Wenn du so schreist, liebes Kind«, fiel die alte
Dame mahnend ein, »kann ich unmöglich nachdenken.
Ich habe kein Aß mehr, ...« Mit verglasten Augen
starrte sie auf die soldatisch regelmäßigen Kartenreihen.
»Hanka hat seine Frau weggejagt«, begann Natalie
mit Feierlichkeit und sah, die Wirkung erwartend, Arnold
gespannt an. Da die Unbeweglichkeit dieser Züge
sie enttäuschte, fuhr sie mit berechneter Steigerung
fort: »Hanka ist verreist und niemand weiß wohin.
Beate hat ein Verhältnis mit Pottgießer, Ihr Freund,
Maxim Specht, hat die beiden miteinander bekannt
gemacht. Alle Welt spricht davon, jetzt erst, obwohl
die Geschichte schon Monate alt ist. Nun? was sagen
Sie dazu? Ist das nicht entsetzlich? Aber so reden
Sie doch etwas –«
Jetzt erhob sich Petra, schaute tief aufatmend und
verzweifelt gegen die Decke des Zimmers und ging
schweigend hinaus. Sie kam nach kurzer Zeit mit
einem Buch zurück und ihre Züge zeigten ein ehernes
Lächeln. Wenn sie ein Wort sprach, war es von der
gewähltesten Natürlichkeit, denn sie glaubte sich von
andern ebenso unaufhörlich beobachtet wie von sich
selbst.
Natalie war unzufrieden mit Arnold. Er war weder
überrascht, noch dankbar, weder erschreckt, noch anteilvoll.
»Sie sind ein Stock«, sagte sie ärgerlich.
Hyrtl und Arnold gingen zusammen. Hyrtl sagte,
er glaube im Ernst, daß sein Herz nicht mehr lange
gehorchen werde. Kühl hörte Arnold darüber hinweg.
Vierzigstes Kapitel
Durch Schneegestöber und hochliegenden Schnee
ging Verena von der Universität nach Hause.
In der Nachbarschaft versorgte sie sich für den Mittag
mit Schinken und Brot und erstieg nachdenklich
die Treppen zu ihrer Wohnung: mit jeder einzelnen
wurde ihr Herz schwerer und vergaß die schneeweiße
Fröhlichkeit der Straßen. Oben wollte sie Tee
kochen, fand aber, daß kein Spiritus mehr da sei. In
Hut und Mantel kauerte sie vor den Ofen hin und
legte Späne hinein, um aus der Glut noch einmal
frisches Feuer zu gewinnen, dann stellte sie sich ans
Fenster und ihr Blick schweifte ernsthaft über die zahllosen
schneeberahmten Fenster der Höfe, hinter denen
bisweilen ein umrißloses fremdes Gesicht auftauchte.
Als es im Zimmer warm zu werden begann, nahm
sie die Flasche, und, die Treppen hinuntergehend,
hatte sie abermals das Gefühl, als nähere sie sich
einem Schauplatz der Heiterkeit; in der Tat glich die
Straße einem blendend weißen Saal, in welchem die
Flocken einen schwerelosen Tanz aufführten.
Oben angelangt, setzte sie sich, anstatt Tee zu bereiten,
vor das Knochengerüst, stützte den Arm auf
die Lehne des Holzstuhls, den Kopf in die Hand und
blickte unter halbgeschlossenen Lidern schräg auf den
dürren Schädel. Wunderliche Anwandlungen, mit
diesem Ding ein Gespräch anzuknüpfen, unterdrückte
sie, ja sie erblickte sich selbst, losgelöst von Fleisch,
Blut und Empfindung, doch immer noch Zwischenglied,
beinernes Abstraktum. Eine seltsame Zärtlichkeit
erschütterte sie von oben bis unten und bald
darauf, als ob ihr Organismus von Kämpfen ermüdet
sei, hatte sie Schlafbedürfnis. Sie legte sich
auf das Bett und schlief ein, um nach einer Viertelstunde
von dem Geräusch eines Eintretenden zu erwachen.
Es war Arnold; erschreckt fragte sie, wie
er hereingekommen sei. Seine Erklärung, daß die
Außentüre nur angelehnt gewesen sei, nahm sie mit
einem nachdenklichen und süßen Lächeln auf, in welchem
noch ein Traum zitterte. Sie erhob sich,
reichte ihm die Hand und strich die braunen Haare
aus der Stirn. Über Arnold legte sich eine Erstarrung.
Er glaubte glücklich zu sein oder doch die Nähe des
Glücks zu ahnen. Das Bild eines märchenhaften
Sommers stieg vor ihm auf; nackte Menschen wanderten
zwischen Blumen und buntem Laub. Nie
hatte er Verena so gesehen, still und von gleichsam
animalischer Zutraulichkeit. Er ergriff ihre Hände,
um zu sehen, ob sie es auch wirklich sei, er preßte
ihre Hand an die Lippen und drückte die Zähne in
die Haut, so daß zwei Halbkreise von blutunterlaufenen
Strichen entstanden. Sie seufzte schmerzlich und
drängte von ihm weg; er flüsterte, ungewiß lächelnd.
Sein Gesicht war feucht und er breitete die Arme
aus – nach nichts. Er folgte ihr nun, umschloß sie
bei den Schultern und küßte sie. Ihre erstickten Bewegungen,
sich zu befreien, glichen den Zuckungen
eines betäubten Tieres. Der beschwörende Ausdruck
und Glanz ihrer Augen erlosch langsam. Ihre beiden
offenen Hände lagen zuerst wie zwei tote Körper auf
seinem Haupt und glitten dann bis zum Nacken herab,
um endlich schlaff mit den Armen völlig zu sinken.
Arnold ließ sie nicht. Ihr tränennasses Gesicht sah
er nicht. Er fragte nicht mehr, ob sie mit Freude
gewähre, er sah nicht ihre Lebensangst; als sie nachgiebig
geworden war, unfähig, einen vergangenen
oder zukünftigen Augenblick zu bedenken, als alle gesprochenen
Worte plötzlich leichter schienen wie die
Luft, erfüllte Verena ein Verlangen, dessen räuberische
Wildheit für sie etwas Elementares hatte.
Am Abend ging sie noch mit ihm fort. Allein im
Zimmer zu bleiben, erschien ihr auf einmal unmöglich.
Ihr Anschmiegen an ihn hatte etwas Furchtsames.
Sie war überaus schweigsam; ihre Lippen
waren wie versiegelt vor Erstaunen und Ratlosigkeit.
Was ihr körperlich zurückgeblieben, war ein alle Glieder
umgürtender Schmerz; und im Gemüt lag Nüchternheit,
Selbsthaß und Erschöpfung. Noch gestern
über den gewöhnlichen Dingen und Menschen der
Straße schreitend, kam sie sich heute mit ihnen vermählt
vor, jedenfalls vereinigt, verurteilt, ihr Eigenleben
zu verlassen und an den tausend endlosen
Geschäften der zum Tode strebenden Menschheit teilzunehmen.
Der Lärm und die Unrast der unzähligen
enggedrängten Häuser strömte auf sie ein. Die Stadt,
wie eine dampfende Maschine mit glühendem Bauch,
Dampf und Feuer ausspeiend, lebendige Leiber in
ihren Fäusten zerquetschend, erhob sich aus der beunruhigten
Erde, deren unsichtbarer Mund um Gnade
bat. Sie ging ohne Festigkeit und spürte zwischen
ihren Füßen und ihrem Leibe keinerlei Zusammenhang.
Sie wußte kein Mittel, sich vor ihrem aufstürmenden
Innern zu verschließen, als den Schlaf,
aber sie mochte sich noch nicht von Arnold trennen.
Seine Gegenwart erschien ihr notwendig; an ihm aufblickend
glaubte sie ihn viel größer als sonst, und sie
spürte etwas wie bange Erwartung vor seinem Urteil
und seinem heiteren Blick.
Arnold begleitete Verena wieder zurück. Die kalte,
stille Luft hatte sie beide erfrischt. Vor dem Tor
blieben sie noch eine Weile plaudernd stehen; aber
es war, als ob jeder nur aus Gefälligkeit gegen den
anderen rede, da das Reden der inneren Stimme
vorlaut zu werden begann. Verena suchte den Abschied
von einer Minute zur andern zu verschieben.
Ihr Gesicht war gerötet; einmal legte sie den Kopf
auf die rückwärts gekreuzten Hände, wodurch die atmende
Bewegung der Brust etwas Friedliches und
Erstaunliches erhielt. Dann sagte sie gute Nacht und
reichte ihm den Mund zum Kuß. Lange sah sie ihm
nach, wie er sicher und fest dahinschritt und wie sich
frohe Laune und frohe Leichtigkeit des Herzens in
seinen Bewegungen ausdrückte. Ihr war es einsam.
Arnold dagegen war in der Tat voll Zufriedenheit.
Er ging so aufrecht, als wäre ihm der Befehl
über eine Armee übertragen worden, lächelte bisweilen
verschmitzt und gemütlich in sich hinein, und
als er nach Hause gekommen war, legte er sich sogleich
ins Bett und schlief fest bis zum Morgen.
Die Sonne schien ins Fenster, als er beim Frühstück
saß. Der Diener kam und meldete eine Dame.
Es war Verena. Sie trat ein; ihr Gesicht war von
einer eigentümlich strahlenden Blässe. Sie nahm mit
den Bewegungen eines Gastes Platz. Mit weiten
Augen, die keinem Aufenthalt begegnen wollten,
schaute sie umher und sagte: »Ich wollte dich nur
sehen, Arnold. Wie hast du geschlafen? Wie geht es
dir?«
»Gut, sehr gut, Verena«, antwortete Arnold glücklich
und mit erwachendem Stolz darüber, sie zu besitzen.
Aber er sah an ihrem Wesen, daß sie wieder
»gedacht« hatte, wie er es innerlich nannte und suchte
seine sich regende Scheu durch eine etwas heuchlerische
Freimütigkeit zu bemänteln.
Verena legte den Kopf zurück und sah ihn an. Ihre
Handschuhe fielen zu Boden und Arnold bückte sich
danach. Dann standen sie einander gegenüber. »Du
sollst wissen, Arnold«, begann Verena und wühlte mit
den runden Fingern im Pelzbesatz ihrer Winterjacke,
»daß ich mich keiner Täuschung hingebe. Ich habe
die ganze Nacht dazu benutzt, um über uns beide
klar zu werden. Denn das Nebeneinandergehen genügt
nicht, man muß doch auch wissen, wohin man
geht.«
»Warum, Verena«, unterbrach sie Arnold mit
leisem Unwillen und mit Furcht vor dem, was sie
sagen würde, »warum immer das zerpflücken, was
schön ist und was von selber entstanden ist? Es ist
genug, über das Schlechte zu grübeln, und warum
brauchst du ein Wohin? Die Erde ist rund und man
geht immer nur im Kreis.«
»Das ist doch eine etwas oberflächliche Wahrheit«,
entgegnete Verena, erstaunt über das Bestimmte und
Fertige seiner Meinung. Eine Sekunde später, und
sie wurde traurig, denn sie erkannte, daß er ihr entweichen
wollte.
»Du bist zu schwermütig, Verena«, sagte er mit
begütigender Kritik, vergeblich nach dem Grund ihres
ahnungsvollen Schweigens suchend.
Verena erhob schnell den Kopf. »Darin hast du
recht!« rief sie aus. »Begreifst du es nun?«
»Ich begreife nichts«, entgegnete er mit stockender
Stimme.
»Ich weiß zu viel von mir. Leider«, sagte Verena.
»Denke doch nach, Arnold, du fliegst umher in der
Luft. Ich bin ein im Erdreich verfallenes Etwas.
Meine Wurzeln sind abgestorben, während du noch
in blühenden Geschlechtern stehst. Und hauptsächlich
wenn man so in der Tiefe lebt, ist alles dunkel oder
wie du sagst, schwermütig. Nicht Einzelschwermut,
weil es mir vielleicht schlecht ergangen ist, und es ist
mir herzhaft schlecht ergangen, oder weil ich zu wenig
Zeit zum Spazierengehen habe, sondern die Schwermut
unseres ganzen Lebens, unseres Siechtums,
unserer falschen Kultur. Ich bin kraftlos und durch
Kraftlosigkeit bin ich die deine geworden. Deshalb
hab’ ich gefragt, wohin es gehen soll, denn du müßtest
mich auf deinem Weg nicht nur schleppen, sondern
sogar heruntersteigen, um mich zu schleppen. Also
lebe und rette dich.«
Sie stand vor ihm und sah ihn an. Sein ganzes
Innere wurde bewegt und umfaßt von diesem zauberhaften
Blick ehrlicher Bedrängnis. Aber er zweifelte,
ob er derjenige war, den sie in ihm erblickte, und dies
machte ihn zu feig, ihr zu widersprechen, statt dessen
nahm er sie in die Arme und küßte sie. Dann gingen
sie zusammen fort.
Jetzt waren sie meist in Verenas stiller Wohnung.
Tetzner hatte nach und nach aufgehört, ihre Gesellschaft
zu suchen. Einmal trat er ein, die Hände in
den Manteltaschen, scheinbar gut gelaunt. Aber bald
wurde es klar, daß seine Aufgeräumtheit nur eine
Larve war. Er legte die Hand vor den Kopf, als
fürchte er, seine Stirn könne zusammenbrechen. Seine
wulstigen Lippen lagen wie zwei Fäuste aufeinander
und mit dem runden, fahlen Bart und dem blinden
Ausdruck der Augen sah er aus wie ein Bildnis des
alten Homer. Ohne zu sprechen, entfernte er sich
wieder, seine aufpatschenden Schritte fast furchtsam
dämpfend. Verdunkelung des Gemüts kam über ihn.
Vier Tage danach, es war am Abend, zur Haussperrstunde,
trieb es ihn wieder zu Verena hinauf.
Der Portier, der ihm das Tor öffnete, sagte mit böswillig-wissendem
Lächeln, der junge Herr sei oben bei
dem Fräulein. Während Tetzner die Stiegen emporkeuchte,
hatte er Mühe, nicht aufzuheulen.
Er klopfte an der Türe in der Weise, wie er es mit
Verena seit je verabredet hatte, aber alles blieb still.
Traurig lehnte er sich im Finstern an die Mauer. Er
wagte es nicht, noch einmal zu klopfen. Er wollte
auch nicht fortgehen, um dem Hausmeister nicht wieder
Anlaß zu bösem Grinsen zu geben. Aber er hörte nun
trippelnde Schritte in dem Flur drinnen; er glaubte
sogar, einen hauchenden Atem zu vernehmen. Es
schien, als ob eine schuldige Person an die Türe schliche.
Dieses Bild auf Verena angewandt, erschien ihm plötzlich
so toll und widerwärtig, daß er laut auflachte.
»Tetzner, sind Sie es?« ertönte die Stimme Verenas
hinter der Türe. »Ich«, erwiderte Tetzner, und es
wurde geöffnet.
Es war warm und hell im Zimmer. Vor der
Lampe lag ein aufgeschlagenes Buch. Tetzner schob
die blaue Brille auf die Stirn und blickte Arnold
zuerst wie einen fremdartigen Gegenstand zerstreut
an, dann zogen sich die Muskeln des Gesichts zu
einem nachtwandlerischen Lächeln auseinander. Etwas
Angstvolles, Zärtliches und Geistreiches tauchte in
seinem Gesicht auf, als er sagte: »Wollen wir nicht
fröhlich sein, Tee trinken, über die Zukunft plaudern?
Na, Verena –? Wie –?« Mit geschlossenen Augen
lächelte er und hing seinen Mantel an die Wand.
Verena blickte nachdenklich gegen das Fenster. Arnold
war unruhig und unwillig. Er begehrte mit
Verena allein zu sein und hatte große Mühe, nicht
merken zu lassen, wie verdrießlich ihm Tetzners Anwesenheit
war, der nun in dem großen Sessel Platz
nahm, die Beine ausstreckte und beide Hände auf den
Kopf legte. »Sind Sie müde, Tetzner?« fragte Verena
verlegen und mitleidig.
»Ja, mein Seelchen«, antwortete er. »Nicht Fußmüdigkeit,
sondern Herz-, Herzmüdigkeit.«
Arnold brütete in sich hinein. Ohne Sympathie,
ohne Milde der Wahrnehmung, wünschte er nichts
anderes, als daß Tetzner fortgehe, und da er sich
nicht verstellen konnte, merkte Verena, was ihn bedrückte
und auch sie begann dasselbe zu wünschen.
Sie sah, daß Tetzner litt, sie fragte ihn und er gab
Auskunft, ein wenig verstört durch die hämmernden
Schmerzen im Kopf. Verena erschrak und sie bemühte
sich um den Freund, legte ihm ein nasses Tuch
über die Schläfen, zählte die Pulsschläge und blickte
grübelnd zu Arnold hinüber, der keine Teilnahme
zeigte, der ungeregt und unberührt nur seiner egoistischen
Sehnsucht nachhing. Eine bittere Betrübtheit
umfing Verenas Herz. Wach auf, Arnold! hätte
sie rufen mögen. Verschließ dich nicht, vergiß dich
nicht! umfange die Welt! Sie kam sich selbst auf
einmal sündhaft vor, denn das wollte sie nicht: von
einer Seele Besitz ergreifen, die sich in ungenügender
Begierde selbst zerstört.
Als sie so neben Tetzner stand, besorgt und versonnen,
konnte sich Arnold nicht länger bezähmen.
Er stand auf, ergriff Verena bei den Schultern und
küßte die sich ehrlich Sträubende ungestüm und lachend
auf die Wange. Das hatte Verena nicht erwartet.
Einundvierzigstes Kapitel
Wenn Arnold zu Verena kam, vereinigten sich
unbewußt alle seine Kräfte dahin, sie willfährig
zu machen. Worin sie sich unterordnete, das
lockte ihn nicht mehr. Sie glaubte seinem Temperament
zu erliegen, doch es entstand keine Glückesgewißheit
für sie. Sie suchte den Mangel in sich
selbst. Warum kann ich nicht gedankenlos sein?
klagte sie in ihrem Innern. Oftmals legte sich Ernüchterung
wie ein grauer Mantel um sie. Dies
Treiben war es nicht, was sie gehofft: von Kreuzweg
zu Kreuzweg eilen, ratlos warten und fragen.
Nie schwieg ihr Verstand, nie war ihr Urteil still, und
sie wußte, daß es hätte sein müssen, so wie im Traum
Uhr und Glocke ihren Sinn verlieren.
In der letzten Karnevalswoche ging sie in Arnolds
Begleitung zu einem Ball der Studentinnen. Arnold
tanzte nicht, aber es machte ihm Vergnügen,
als Außenstehender das rhythmische Gewühl zu beobachten,
und er freute sich, Verena zu führen. Die
Beziehung zwischen beiden war kein Geheimnis, sollte
es auch nicht sein; im engen Kreis der Freunde fand
Verena eine wohltuende Unbefangenheit. Aber dennoch
gestand sie Arnold offen, daß sie nicht sobald
wieder in eine Gesellschaft gehen werde, und er gab
ihr recht. Gerade die Gutmütigsten und Nachsichtigsten
hatten sie durch Neugierde und Zudringlichkeit
verletzt. Aber nach wenigen Tagen überredete
Emerich Hyrtl, der in einem Hotel eine Art Hausball
veranstaltete, Arnold, mit Verena zu kommen.
Hyrtl ergriff gern die Gelegenheit, eine moderne Gesinnung
an den Tag zu legen, und noch viel größeren
Spaß bereitete es ihm, seine bürgerlich gesinnte Umgebung
vor den Kopf zu stoßen.
Verena weigerte sich. Schweigsam und verletzt
setzte sich Arnold in eine Ecke. Sie suchte ihn vergeblich
zu besänftigen, vergeblich zu überzeugen. Als
er sich anschickte zu gehen und ihr, eigensinnig, die
Hand nicht reichte, willigte sie ein. Er schloß sie in
die Arme, hob sie empor, erdrückte sie beinahe, jauchzte,
küßte sie, gab ihr kindische Kosenamen, preßte ihre
Hände. Hingerissen, verzieh sie ihm im Stillen. Doch
was mochte ihn bewegen?
Unter den übrigen Ballbesuchern trafen sie auch
Petra König, und Arnold machte sie mit Verena bekannt.
Sie blieb beständig um Verena. Ihr treuherziger
Bildungshunger glaubte dabei einen Brocken
zu erhaschen. Aber sie suchte auch hervortreten zu
lassen, wie viel freier und selbständiger sie dachte, als
die andern und betonte mit jedem Lächeln, wie unbekannt
die Prüderie der Gesellschaft ihrem Wesen
sei. Verena war überlegen genug, es humoristisch
zu nehmen, aber nie war ihr so öde und faul zumute
gewesen.
Auf dem Heimweg, sie gingen zu Fuß, machte
Verena halb bittere, halb ironische Andeutungen über
Petras anschmiegende Jüngferlichkeit. »Petra ist so«,
antwortete Arnold bedächtig. »Immer sucht sie sich
das Beste aus, was man reden und tun muß, aber
es bleibt ihr fremd.«
»Du weißt sehr gut zu urteilen«, meinte Verena
mit abgewandtem Gesicht.
»Petra ist nicht übel«, fuhr Arnold fort. »Sie ist
vielleicht nur durch gute Bücher verdorben.«
»Gewiß«, bestätigte Verena. »Sie verwechselt das,
was sie bewundert, mit dem, was sie vermag. Dadurch
wird sie gekünstelt. Aber was hab ich dabei zu
schaffen? Weshalb soll ich mich stundenlang preisgeben?
Warum willst du mich hinüberziehn auf den
Markt, wenn ich Ruhe will? Dort hat man nur ein
kurzes Leben. Aber ich begreife doch«, sagte sie mit
veränderter Stimme, zu einer Vorstellung überspringend,
die sie betrübte, »daß selbst die freiesten Mädchen
sich die Ehe wünschen. Es ist traurig, daß die
Menschen eine Sittlichkeit erfunden haben, mit der
sie das Schöne herunterziehen können.«
»Wäre es dir angenehm, mit mir verheiratet zu sein,
Verena?« fragte Arnold und beugte sich lächelnd zu ihr.
Verena biß sich auf die Lippen. Mit kurzem
Seitenblick streifte sie sein Gesicht. Sie mußte an
jenen Tag zurückdenken, an dem er ihr sein Geld
angeboten hatte. Arnold schwieg etwas betreten.
Als sie am Haustor angelangt waren, wollte sich
Verena verabschieden, doch er hielt ihre Hand fest.
»Heute laß mich allein, Arnold«, bat sie. Ihre
Augen waren von Müdigkeit dunkler. Trotzig wich
Arnold nicht von der Stelle. Verena runzelte die
Stirn und seufzte; ihre geöffneten und in die Höhe
gerichteten Augen gaben dem Gesicht einen bitteren
Ausdruck. »Mein Liebster«, sagte sie mit wunderbarer
Sanftmut, »prüfe dich genau, ob du nicht widerstehen
kannst.«
Arnold lachte. »Immer betrachten und zerpflücken!«
rief er. »Kannst du denn noch zwischen Freude und
Nichtfreude unterscheiden?«
»Es gibt nur Leiden, denn nur Leiden sind wahrnehmbar«,
entgegnete Verena leise. »Das andere sind
Ruhepausen. Ich will nur noch nicht jedes Leiden
als ein Symbol hinnehmen, das ist alles. Sonst
müßte ich eben aufhören, zu überlegen.«
Ohne sie ganz zu verstehen, machte Arnold eine
ungeduldige Bewegung. Er stand und pfiff leise.
Zwischen ihnen fielen Wassertropfen vom Dach herab.
Die Straße entlang plätscherte und sickerte es vom
tauenden Schnee. Verena war es, als ob ihr Herz
und ihre Adern in einer arktischen Kälte zusammenschrumpften.
Lautlos brachen die noch ungesprochenen
Worte in ihrem Innern entzwei. Mit langsamer Bewegung
des Armes drückte sie auf den Knopf der Hausglocke,
im Stillen erwartend, daß Arnold nun doch
mit hinaufgehen würde. Sie selbst wünschte es, da
sie nicht eine ganze Nacht lang durch Mißverständnis
und böses Sinnen von ihm getrennt bleiben wollte.
Aber der Teufel war in ihm. Als der Hausmeister
drinnen den Schlüssel ins Schloß steckte, wünschte
Arnold gute Nacht, verbeugte sich in lustiger Ehrerbietung
und ging.
Verena konnte nicht schlafen. Lange Stunden
wanderte sie in ihrem Zimmer herum. Was vorher
still und fern in ihr gewühlt, durchbrach nun
furchtbar die Hüllen und entlockte ihr Frage über
Frage, vor denen feig zurückzuprallen nicht in ihrem
Wesen lag. Wenn es zwischen ihr und Arnold nicht
so geworden war, wie sie gewollt, so hatte es auch
niemals so werden können. Die Natur selbst rief
dann ihr vorbestimmtes Nein in die zukunftlosen
Freuden. Sie wollte nicht warten, bis Arnold sich
selbst vergessen hatte. Sie wünschte vorher von ihm
zu gehn, unterzutauchen in die Flut, an deren Ufer
für ihn die Erinnerung begann. Nur so kann ich ihn
erleichtern, dachte Verena; nur so kann ich ihn sich
selbst zurückgeben und mich zugleich für ihn bewahren.
Einmal würde es doch kommen, daß er mich vom
Weg stieße und dann säß ich da wie ein Bettelweib,
während ich jetzt noch ein Stück von ihm mitnehmen
kann, für immer. Ich weiß, was ich weiß; das Wort
Ende besteht aus vier Buchstaben, und wenn man es
auch zehnmal schreibt, werden doch nicht fünf daraus.
Nach dem letzten Kuß kommt kein allerletzter.
Angekleidet legte sie sich aufs Bett und schlief allmählich
ein. Aber schon um sechs Uhr wachte sie auf,
konnte keinen Schlummer mehr finden und war doch
müde, unfähig zu überlegen, welche Arbeit sie an
diesem Tage erwarte, der nach ersten Frühnebeln
einen blauen Himmel über die Stadt spannte. Die
Sonne trieb Verena empor. Sie entkleidete sich, goß
kaltes Wasser über sich herab, daß ihre Haare troffen,
dann zog sie sich mit so schwermütiger Langsamkeit
an, als könne sie das gefürchtete Vorrücken der Stunden
dadurch hemmen. Sie wollte sich eben bereit
machen, in die Klinik zu gehen, als Arnold kam. Zum
erstenmal war er so früh bei Verena. »Ich war niederträchtig
gestern, verzeih«, sagte er sofort und nahm
ihre Hand. »Und heute, Verena, darfst du nicht fleißig
sein, heute wollen wir hinaus –« Er stockte, als er
ihr unschlüssiges und müdes Gesicht sah, »– hinaus
aufs Land.«
»Ich kann nicht einen ganzen Tag verlieren«, antwortete
Verena; »ein wichtiges Examen steht bevor ...«
Hin und her gehend, verstimmt und erregt durch
ihre Weigerung, sagte Arnold: »Ich will aber, daß
du mitgehst, Verena. Du sollst nicht etwas anderes
wollen als ich.«
»Ich habe schon gesagt, daß ich nicht gehe«, entgegnete
Verena leise, indem sie nach ihrer Weise die
Brauen erhob und den einen Mundwinkel verzog.
Arnolds Gesicht wurde rot. »Du mußt!« rief er
mit Heftigkeit und schlug dabei in die Hände. Aber
der Anblick Verenas ließ ihn sofort bereuen, was er
getan. Ihr plötzliches, unwillkürliches Händefalten,
das bestürzte und klagevolle Abwenden ihres Gesichts
und die gewaltsam emporsteigende Entschlossenheit,
die sich in ihrem schräg zur Erde gerichteten Blick
kundgab, erschreckten ihn.
»Ich lebe nicht nur in der Liebe«, sagte endlich
Verena mit einer seufzend sich hebenden Stimme,
»und das ist vielleicht meine Schuld. Du aber, Arnold,
bist in Gefahr, dich ganz in Liebe zu verlieren,
und das ist schlecht ...«
»Ich weiß nicht, daß du mich liebst«, erwiderte Arnold
trotzig und schüchtern zugleich, »ich habe keine
Beweise.« Er setzte sich auf den Kohlenkasten und,
den Kopf zwischen den Händen, starrte er zu Boden.
In tiefstem Erstaunen verharrte Verena eine lange
Minute hindurch regungslos. Dann zuckte ihr Mund,
und ihre Züge strahlten plötzlich von herrlichem inneren
Licht. Sie ging hin, legte Arnold den Arm um
den Nacken und suchte, wobei sie sich tief niederbeugen
mußte, seinen Blick mit ihrem zu vereinen. »Nun
geh«, flüsterte sie endlich. »Heute wollen wir uns
nicht mehr sehen.« Sie küßte ihn, erhob sich, deckte
die Hand über die Augen und wandte sich ab. Sie
weinte, doch gelang es ihr vollkommen, dies zu verbergen,
wenn auch das innerliche Schluchzen ihren
Mund fast sprengen wollte.
Auch Arnold stand auf. »Gut, auf morgen also,
Verena«, sagte er mit brennendem Schamgefühl.
Hier ist irgend ein Mißverständnis, dachte er, als er
die Treppe hinabschritt. Sehnsucht ergriff ihn plötzlich,
und er wußte nicht recht, war es Sehnsucht nach
Verena, oder nach etwas in ihm selbst, das er verloren
geben mußte. Im untern Stockwerk hing ein
kleiner Spiegel neben einer Türe. Er blieb davor
stehen, betrachtete sich aufmerksam und lächelte zerstreut.
Zu Hause machte er sich über seine Bücher und
Hefte her, aber es gelang nichts. Die Gedanken
blieben wie faule Spaziergänger unterwegs liegen.
Er besuchte, wie er es jetzt bisweilen mit erwachendem
Verständnis zu tun pflegte, eine Gemälde-Galerie.
Meist blieb er vor den landschaftlichen Darstellungen
stehen. Heute, da die ersten Boten des Frühlings
durch die Gassen zogen, betrachtete er auf den Bildern
braune Bäume mit machtvollen Kronen, stille
Teiche, verglimmende Abendhimmel, helle Herden
und weitgestreckte Ackergründe.
Es schien, als ob die Zeit auf dem Flecke bleiben
wolle. Endlich wurde es Abend, endlich Nacht. Arnold
begriff seine Ungeduld und sein Bangen nicht.
Am andern Morgen kam Wolmut zur bestimmten
Stunde. Er reichte Arnold einen verschlossenen Brief
und sagte, ruhig und sachlich wie immer: »Ich soll
Sie vielmals grüßen. Verena Hoffmann ist abgereist.«
Arnold starrte ihm entsetzt ins Gesicht. »Was –?«
fragte er, und die weißen Blätter auf dem Tisch
schienen auf einmal rot zu werden. Hastig riß er
den Brief auf und las: »Mein Liebster, ich sage dir
Lebewohl. Mühe dich nicht, mich zu finden oder mir
zu folgen, es wäre umsonst. Wenn du das Warum
spürst, wirst du mich nicht anklagen, wenn nicht, dann
würde uns dies doch allzubald auseinander reißen.
Ich werfe weg, um nicht zu verlieren. Lebe wohl!
Tetzner begleitet mich.«
Arnold nahm Mantel und Hut, stürzte fort, warf
sich unten in einen Wagen, nachdem er mit heiserer
Stimme dem Kutscher Verenas Adresse zugerufen
hatte. Zorn, Schrecken, Reue, Scham machten ihn
fast besinnungslos.
Die Wohnung Verenas war leer. Schnell hatte
sie’s vollbracht. Er lief wieder herab, ging zwei Häuser
weiter, – auch Tetzner war auf und davon, und jetzt
erst glaubte es Arnold, da seine Augen ihn überzeugt
hatten. Er stand vor dem Haus, als wisse er nicht,
wohin er sich wenden solle. Welch ein Mißverständnis
ist dies? fragte er sich verstört. Noch immer vermochte
er nichts zu sehen als ein Mißverständnis, wie jemand,
der eine Mauer nicht gewahrt, weil er die Hand vor
die Augen hält.
Alexander Hanka
Zweiundvierzigstes Kapitel
Mitte März legte Arnold die Prüfungen mit Erfolg
ab. Es war ihm nur ein Spiel. Er entschied
sich für das juristische und philosophische Fach.
An einem stürmischen Frühlingstag entrichtete er an
der Universität die festgesetzten Gebühren und begleitete
dann Wolmut vom Ring bis weit hinaus
in die Vorstadt.
»Sie haben keine bestimmte Idee von der Richtung,
die Sie in den nächsten Jahren nehmen wollen?«
fragte Wolmut zum wiederholten Mal. »Vergessen
Sie nicht, daß Sie viel älter sind, als die Burschen,
die mit Ihnen äußerlich jetzt auf demselben Punkt
stehen.«
»Ich mache kein Programm«, erwiderte Arnold lebhaft.
»Damit geht jede Unbefangenheit verloren. Ich
will zugreifen und alles packen, was zu mir kommt.
Später kann ich dann mein Gebiet begrenzen.«
»Sehr gut; und wollen Sie jetzt gleich zu arbeiten
anfangen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Sie scheinen ein wenig zerstreut, oder vielleicht
auch zu sehr in einen gewissen Gedanken verbohrt«,
bemerkte Wolmut freundschaftlich.
Sie gingen an einem Garten vorbei. Die Kronen
der Bäume bogen sich im Wind. Der Sturm entführte
Arnold den Hut, wirbelte ihn über den Zaun,
und Arnold mußte am Tor des Gartens läuten und
ziemlich lange barhaupt stehen, ehe er wieder in den
Besitz seiner Kopfbedeckung gelangte. Als er durch
die stillen Gartenwege wieder gegen die Straße schritt,
hatte er die Empfindung einer schönen, jedoch dunklen
Erinnerung. Plötzlich stand es in ihm fest, daß er nach
Podolin gehn werde.
Zu Hause angekommen, zog er den ländlichen Holzkoffer
aus dem Winkel, aber es zeigte sich, daß dieses
ehrwürdige Stück zu klein und zu häßlich war. Er
ging daher von neuem aus und kaufte einen großen
Lederkoffer und eine Handtasche. Er packte bis zum
Nachmittag, und erst als er fertig war, bemerkte er
mit Verwunderung, daß er sich wie zu einer langen
Abwesenheit gerüstet habe.
Nachdem er die Stunde der Reise festgesetzt hatte,
wollte er bei Borromeos Abschied nehmen. Man
sagte ihm, der Doktor sei im Salon. Er durchschritt
die Reihe der Zimmer und als er einen roten
Türvorhang beiseite schob, sah er unvermutet Frau
Anna und den Leutnant Valescott vor sich. Die
Beiden saßen an einem schmalen Teetisch einander
gegenüber und drehten das Gesicht gespannt mit einem
Ausdruck verdrießlicher Abwehr nach ihm zurück. Arnold
entschuldigte sich, trat vollends in das Gemach
und sagte, weshalb er käme. Da sein Benehmen
unbefangen war, wurde Anna Borromeo freundlich.
Valescott schien geärgert. Er erhob sich alsbald,
reichte Frau Anna die Hand, verbeugte sich vor Arnold
mit widerwilliger Höflichkeit und verschwand.
Nach einer langen Pause sagte Anna Borromeo:
»Valescott ist eine warme, tiefe, ehrenhafte Natur.«
Mit beiden Händen und gespreizten Fingern schob sie
die kupferfarbene Haarkrone zurecht, lächelte Arnold
mütterlich zu, stemmte dann beide zur Faust geballten
Hände tief in ihren Schoß, und starrte auf den Boden.
»Was tust du jetzt in Podolin?« fragte sie, aus ihrem
Brüten aufschreckend. »Es ist noch kalt draußen. Hast
du aufgehört zu arbeiten und machst dir Ferien? Ich
möchte auch einmal wissen, wie es ist, Ferien zu
haben.«
Unangenehm berührt von ihrem Ton wie von dem,
was sie sagte, entgegnete Arnold, die Ferientage einer
vornehmen Dame begännen wahrscheinlich erst im
Himmel.
Anna Borromeos Lippen verzogen sich hochmütig.
Sie beugte sich vor, legte eine Hand auf die Arnolds,
und ihre Augen sahen smaragdgrün aus, als sie erwiderte:
»Kannst du mit meinem Herzen fühlen?
Nein. Es gibt nur einen einzigen Augenblick, auf
den ich mich täglich freue, nämlich der, wenn ich
nachts das Licht auslösche.«
Arnold zuckte die Achseln und sagte, er müsse eilen.
Als er gehen wollte, kam Borromeo. Anna erzählte
ihm von Arnolds Vorhaben. Er stutzte und schüttelte
den Kopf, dann fragte er Arnold, wann er reisen
wolle. Jetzt, in einer Stunde. »Dann werde ich dich
zum Bahnhof begleiten, wenn es dir recht ist.«
»Gewiß.«
Arnold übergab sein Gepäck einem Wagen, während
er selbst mit dem Oheim zu Fuß ging. »Wie lange
willst du bleiben?« fragte Borromeo. »Und warum
fährst du eigentlich? Zieht es dich hin oder hast du
einen bestimmten Zweck? Es ist eine schlechte Jahreszeit.«
Das leise, sammetartige Wesen dieses Mannes ließ
alle Anzeichen äußeren Mitlebens vermissen. Doch
lag in seinem Gehaben ein so scheues, scheinbar ganz
bewußtloses Anschmiegen an die Person Arnolds, daß
dieser ganz verwundert darüber war. Bis kurz vor
der Abfahrt des Zuges blieb Borromeo ziemlich
schweigsam; in den letzten Minuten wurde er auf
einmal gesprächig und gab Ratschläge und Meinungen
in betreff der Bewirtschaftung in Podolin. Der Zug
setzte sich in Bewegung und Borromeo wartete, bis
die Bahnhofshalle leer war.
Das stürmische Wetter war unverändert geblieben,
als Arnold im dämmernden Morgen von der Station
nach Podolin fuhr. Der Wagen ächzte im Straßenkot
und auf dem Schottergestein; die Felder lagen wüst
und der Nebel verhüllte die Wälder. Ursula war nicht
wenig verblüfft über die Ankunft des jungen Herrn.
Der böhmische Verwalter, der seit dem Sommer angestellt
war, stand mit entblößtem Kopf am Gartentor.
Sein rotes Gesicht war zum Ausdruck sklavischer
Ehrerbietung erstarrt. Ursula wollte Rechnungen vorlegen
und die brieflichen Berichte des Verwalters ergänzen,
aber Arnold bedeutete ihr, daß er vorläufig
damit nichts zu tun haben wolle. »Sie sind größer
und schöner geworden«, meinte Ursula und bewunderte
seine Kleidung, seinen veränderten Gang, –
nichts entging ihrer harmlosen Beobachtung. Ihr
Benehmen aber verwandelte sich nach der ersten
Stunde. Am Anfang suchte sie den alten Ton spielerisch-polternder
Befehlshaberei wieder anzunehmen,
aber sie merkte bald, daß er darauf nicht einging. Mit
diesem Augenblick sah sie einen fernen, kalten Herrn
in Arnold und fand sich fremd. Sie umgab ihn mit
einer Wolke von Respekt, welche alle lebendige Erinnerung
mürrisch verhüllte.
Nur kurze Zeit ruhte Arnold von der Fahrt. Aus
wohlbekannter Tasse nahm er das Frühstück ein; alles
mutete ihn neuartig und klein an. Die Stube war
eng, kahl und düster. Die Fenster waren winzig wie
Schießscharten, Möbel und Geräte von unbequemer
Dürftigkeit. Arnold lächelte in sich hinein wie ein
alter Mann, der an seine Jugend denkt. Als er durch
den Vorgarten schritt, um hinüber nach Podolin zu
gehen, dachte er darüber nach, wie er es nehmen
würde, wenn er hierzubleiben gezwungen wäre. Er
schüttelte eine solche Vorstellung eilig von sich ab.
Dreiundvierzigstes Kapitel
Dennoch zitterte beim Gehen über die Wiesen
ein Hauch jener gewaltigen Bewegung nach,
die ihn einst von dieser Ebene fortgetrieben, wie
das Lüftchen, das sich von einem entfernten Orkan
in stillere Regionen verirrt hat. Er freute sich des
weiten Himmels, dessen Wolken einem dünnen Blau
zu weichen begannen, er blieb träumend am Ufer des
schwärzlichen Flusses stehen und ergötzte sich am Kreischen
der Krähen. Gibt es angenehmere Töne, dachte
er beim Weiterwandern, als das leise Glucksen des
Wassers in den Wiesen?
Die neugierigen Blicke der Podoliner erregten seine
Heiterkeit. Er war überrascht, jedes Häuschen noch
auf seinem Fleck zu finden, blickte lächelnd von Torweg
zu Torweg und schritt über den Platz hinauf
gegen den Kirchhof. Der Fleischer Uravar stand unter
der Tür seines Ladens, als ob er sich all die Zeit hindurch
nicht von dort gerührt hätte. Die Kreuzspinne
lag noch immer auf der Lauer. Arnold blieb stehen
und nickte freundlich; es war ihm, als hätte er stets
freundliche Beziehungen zu dem Mann unterhalten.
Uravar glotzte und machte ein ehrerbietiges Kompliment.
Still lag der Kirchhof; die Holzkreuze waren von
Wind und Wetter schief, verdorrt und zerbrochen. Von
hier aus war der weiteste Ausblick über die Ebene,
die erst in großer Ferne bergige Formen annahm und
sich glatt wie eine ungeheure Bucht hindehnte. Das
Grab der Frau Ansorge lag auf einem Vorsprung
des festungsartig erhobenen und begrenzten Raums.
Ein einfacher Stein schmückte den Hügel. Arnold
lehnte sich mit dem Rücken an die niedere Mauer-Einfassung
und suchte die Gestalt der Toten erstehen
zu lassen. Aber es mischte sich zu viel Erlebtes hinein;
buntes Schweifen ergriff den Sinn und trübe nur,
kaum den Rand des Grabes überschreitend, wurde
ein edler Umriß sichtbar. Arnold hatte das nicht erwartet;
er hatte nicht geglaubt, daß er sich so allein
hier finden würde. Als er sich gegen den Ausgang
wandte, gewahrte er, ganz in einem Winkel zwischen
Kirche und Mauer gedrückt, einen regenverwaschenen,
kleinen Grabstein, in dem die verblaßte Photographie
eines schönen, stolzblickenden Mannes eingelassen und
durch ein Stück Glas verdeckt war. Auf der Fläche
des Steins stand: Fumagalli, Zirkusreiter aus Mailand.
Mal fa chi tanta fè obblia.
Arnold schmunzelte. Wie mochte Herr Fumagalli
nach Podolin geraten sein? Nie früher hatte er den
alten Stein mit dem süßlich-hübschen Bildnis bemerkt.
Mühsam entzifferte er den Sinn der italienischen
Worte: schlecht für den, der so viel Treue vergißt.
Eine wunderliche Traurigkeit ergriff ihn; Treue, dies
schien wirklich das Wesentliche allen Lebens und den
Zusammenhalt alles Guten zu bedeuten, und als ob er
sich gegen einen Selbstvorwurf schützen wolle, rief er
mit seiner inneren Stimme den Namen Verenas. Auf
dem Rückweg begleitete ihn ihr verschöntes Bild und
als er zu Hause war, empfand er Sehnsucht nach ihr
und fragte sich tausendmal, warum sie gegangen. Es
erschien ihm zweifellos, daß er sie in der Stadt wieder
sehen würde, und die Einsamkeit, in die er sich versetzt
hatte, kam ihm wie eine freiwillige Selbstprüfung
vor.
Im Hof wartete ein junges Bauernweib. Sogleich
eilte sie auf Arnold zu und ihren Lippen entquoll eine
unverständliche Flut von Worten. Erst allmählich vermochte
Arnold herauszubringen, worum es sich handle.
Die junge Person war das Weib des Häuslers Kubu,
der früher Eisenbahnbediensteter gewesen war und
seit fünf Jahren die Wirtschaft seines Vaters übernommen
hatte. Wegen eines Steuerrückstandes von
achtundsechzig Gulden waren ihm ein paar junger
Ochsen gepfändet worden und heute hatte er die Mitteilung
erhalten, daß die beiden Tiere versteigert werden
müßten, falls er die Steuer nicht bar bezahle.
Um dieses Geld bettelte das Weib und schwor bei
der Mutter Gottes, daß sie es zur Ernte richtig zurückzahlen
wolle.
Arnold, allzusehr mit seinem innern Zustand beschäftigt,
zwar weich gestimmt, doch nur für sich selbst,
wies das Weib ab, dessen lärmendes Getue ihm nicht
angenehm war. Sie stand noch eine Weile mit finsterem,
zur Erde gekehrtem Gesicht und Arnold ging
ins Haus.
Als er am nächsten Morgen seinen Spaziergang
nach Podolin machte, um Briefe auf die Post zu
tragen, sah er vor einem der ersten Bauernhöfe eine
Menge Leute stehen, deren Mienen leidenschaftliche
Aufregung verrieten. Hinter dem Zaun des Hofes
standen sechs Gendarmen. Arnold wollte einen der
Bauern befragen, aber ein dicker Mann mit goldener
Brille trat auf ihn zu, fragte kurzatmig, ob er Herr
Ansorge sei und ob das Weib des Kubu gestern bei
ihm gewesen sei, um Geld zu borgen. Er selbst sei
der Bahn-Expeditor und habe früher den Kubu unter
sich gehabt, der ein ordentlicher Mensch wäre. »Ist
dies das Anwesen des Kubu?« fragte Arnold dagegen.
Der Expeditor erzählte, daß um zwölf Uhr der
Steuer-Exekutor aus Sobielska beim Kubu in Begleitung
zweier Gendarmen erschienen war. Kubu
sperrte den Stall zu und sagte der Kommission, daß
er die Ochsen nicht übergeben werde. Er habe acht
Jahre lang die Steuern ordnungsgemäß bezahlt, gegenwärtig
sei er aber infolge der Mißernte des vorigen
Jahres nicht imstande zu zahlen. Er bot Haus und
Hof als Pfand an und fügte hinzu: ohne das Vieh
bin ich ein toter Mann. Die Frau versprach, sie
werde das Geld von ihrem Paten ausleihen und beide
baten mit erhobenen Händen um Fristung. Es war
jedoch vergeblich. Der Exekutor entschied: entweder
bezahlen oder die Ochsen her! Kubu schrie: ich gebe
sie nicht her; lieber geh ich gleich zugrunde, als daß
ich später mit meiner Familie zugrund gehe. Das
ganze Dorf war zusammengelaufen und nahm eine
drohende Haltung ein. Man schickte nach Sobielska
um weitere Gendarmen und wartete, bis diese kamen.
Sie wendeten sich gegen Kubu, um ihn zu fesseln.
Es gelang nicht. Ein Gendarm zog nun den Säbel.
Die Frau warf sich ihm entgegen und flehte: nicht
auf den Kopf! Sie fing den Schlag auf, der dem
Kubu zugedacht war und wurde an der Hand so verletzt,
daß ein Finger nur noch an der Haut hing.
Dann stellten sich alle Gendarmen zwei Meter von
Kubu entfernt auf und riefen ihm zu: sie würden
schießen, wenn er sich nicht ergebe. Als Kubu seine
Frau bluten sah, sprang er in den Stall, ergriff eine
Heugabel und schrie: die Ochsen können nur über
meine Leiche geführt werden. Die Frau entriß ihm
die Heugabel, stellte sich vor ihn und deckte ihn gegen
die auf ihn stürmenden Gendarmen. Endlich gelang es
den Männern, die Frau von dem Häusler wegzuziehen
und ihn zu fesseln. Der Exekutor band die gepfändeten
Ochsen los und ließ sie mit vier Gendarmen forttreiben.
Während Arnold alles das vernahm, wurde er so
bleich, daß der Expeditor fragte, ob er sich krank fühle.
Arnold zog seine Brieftasche aus dem Rock, zählte
siebzig Gulden ab, überreichte sie dem Expeditor und
sagte: »Geben Sie das dem Steuerbeamten; ich zahle
es für den Häusler. Zwei Gulden bekomm ich zurück.«
Der gutherzige Expeditor schien sehr erfreut und drückte
Arnold bewegt die Hand. Auch unter den Podolinern
verbreitete sich die Kunde von der Freigebigkeit des
jungen Gutsherrn. Mehrere drängten sich an ihn und
riefen ihm anerkennende Worte zu. Arnold mußte an
einen andern Tag zurückdenken; damals hatte er ihnen
sein ganzes Wesen opfern wollen, und sie hatten Steine
nach ihm geschleudert; heute jauchzten sie ihm für verspätete
siebzig Gulden zu. Er fing an, diese begriff-
und urteilslose Rotte bitter zu hassen. Aber er betrog
sich mit diesem Gefühl. Sein träger gewordenes
Herz empfand Schmerzen der Scham, die es dem
Verstand nicht mitteilte und nicht mitteilen konnte.
Auf dem einsamen Weg, der zum Wald hinüberführte,
blieb Arnold stehen und murmelte mit einem
Ausdruck des Erstaunens und der unheimlichen Erleuchtung:
»sollte es möglich sein?« Er stellte sich
vor einen Baum und blickte starr auf die Rinde.
Denn plötzlich begann er den wahren Grund von
Verenas Flucht zu ahnen. Er wanderte noch ein
paar Schritte bis an den Waldrand und setzte sich
auf einen gefällten Baumstamm. Ja, er begriff.
Nicht länger erschien ihm als ein Mißverständnis,
was so deutlich das Gesicht eines Schicksals zeigte.
Aber allmählich suchte er doch, sich zu verteidigen.
Das Tiefere, Ernsteste, das ihm einen Augenblick
furchtbar zugeleuchtet, machte verschwommenen Hoffnungen
Platz und die Waldeinsamkeit rührte ihn, weil
ihn sein Kummer rührte. Kein Laut unterbrach die
Stille. Weiß, breit, sanft ansteigend, krümmte sich
die Landstraße hügelwärts hinan und bohrte sich wie
aus eigener Kraft durch das Dickicht der Stämme und
des niederen Buschwerks. Arnold empfand ein Verlangen
nach Trost, Ruhe und Gedankenlosigkeit.
Am folgenden Tag regnete es, auch den zweiten
Tag. Arnold stellte sich zu Ursula in die Küche und
sagte gähnend: »Was soll man anfangen bei solchem
Wetter!«
»Erzählen Sie mir doch. Wie gefällt Ihnen das
Leben in der Stadt?« fragte die Alte.
»Ja, das ist etwas für sich, Ursula. Davon wird
man nie fertig. Es ist ein Höllenkreisel. Da heißt
es Augen auf. Jeder Tag bringt was Neues. Hier
weiß man nie ob es Morgen, Mittag oder Abend
ist. Aber dort, zwischen Suppe und Mehlspeise wird
die Welt anders, und wer stillsitzen möchte, der muß
tanzen und springen.«
»Aber wenn es regnet, wird’s dort auch naß. Das
ist kein Unterschied«, sagte Ursula.
Arnold machte ein listiges Gesicht. »Wenn es regnet
oder schneit«, sagte er, »merkt man es gar nicht in der
Stadt, denn alle Straßen und Plätze haben Glasdächer
und Öfen. Es ist immer warm und trocken.«
Ursula erwiderte verdrießlich und unsicher: »Einem
alten Weib kann man erzählen, daß der Leineweber
die Kartoffeln macht.«
Arnold trat unter die Haustür. Ein verzweifeltes
Wetter, dachte er und würzte diese einförmige Betrachtung
mit einem humoristischen Seufzer. Er entschloß
sich, trotz des Regens nach Podolin zu gehen.
Als er bis auf den Hauptplatz gekommen war, mußte
er in einem Flur Schutz suchen, denn ein wahrer
Wolkenbruch machte das Weitergehn unmöglich. Eine
krumme Gestalt, mit schwarzem Lederpack auf dem
Rücken, flüchtete gleichfalls herein, stützte das Paket
auf den Mauerabsatz und wischte das nasse Gesicht
und den triefenden Bart ab. Arnold erkannte Elasser.
Der Jude streckte ihm die Hand entgegen, und sein
Gesicht strahlte vor Vergnügen, als er ihn erkannt
hatte. »Ei gnädiger Herr!« sagte er. »Gleich hab
ich mir gedenkt, es ist doch ein bekanntes Gesicht.
Sind Sie wieder hier jetzt? Un wo waren Sie die
Zeit über?«
»Ja, ich bin hier«, antwortete Arnold lau und verlegen.
»Wie geht es Ihnen?«
»No, es laßt sich leben. Man muß sich eben dazuhalten.
Mit der Peitsche muß man’s treiben.« Er lachte.
Arnold schwieg und blickte gespannt in den dicken
Regen. Er hätte gern den geschützten Platz verlassen,
denn ihn störte der muffige Geruch, der von
dem Juden ausging wie von fauler Erde. Eine
Frage lag Arnold auf der Zunge, aber es war ihm
nicht möglich zu fragen. Ihm war, als stehe ein
Gläubiger vor ihm, der es aus Zartgefühl unterließ,
ihn zu mahnen, und er sagte sich: ich werde ihn bald
bezahlen, früher als er denkt.
Endlich verdünnte sich das Strömen des Wassers.
Arnold nickte dem Hausierer zu und kehrte eilig nach
Hause zurück.
Vierundvierzigstes Kapitel
Der folgende Tag war ein strahlender Frühlingstag.
Der Himmel hatte die Erde noch
einer gründlichen Waschung unterzogen, bevor er
ihr das Frühlingskleid über die noch frierenden
Schultern zog. Arnolds Laune besserte sich; seine
Wanderlust erwachte, und er schritt viele Stunden
lang auf bekannten und neuen Wegen. Wenn er
irgendwo rastete oder in einem Dorf bei Milch und
Käse seinen Hunger stillte, zog er ein Buch aus der
Tasche, denn er konnte nicht lange Zeit hindurch
müßig sitzen oder liegen. Manchmal bemächtigte sich
Ungeduld seiner Sinne. Die Einsamkeit der Felder
wurde ihm dann drückend und nichtssagend. Lästig
erschienen ihm die Bilder der Landschaft, die sanften,
schattenvollen Täler, die sich nicht tiefer senkten, als
ein Teller unter seinen Rand, die schmutzigen Bauernhöfe,
das dürftige Gras der Wiesen, der unbequeme
Ostwind, die neugierigen Kinder in den Dörfern.
Unruhe flammte in ihm auf.
Am Palmsonntag kehrte er durch Podolin nach
Hause zurück. Noch hatte er nicht den Hauptplatz
erreicht, als jemand mit tiefer Stimme seinen Namen
rief. Er drehte sich um und sah Alexander Hanka
auf sich zukommen.
»Ich habe erst gestern gehört, daß Sie hier sind,
und zwar durch den Briefträger«, sagte Hanka und
drückte Arnolds Hand mit Herzlichkeit und Freude.
Er schien größer, denn seine Gestalt war noch hagerer
geworden, sein Gesicht länger und farbloser; die
schwarzen Augen hatten einen Ausdruck vollkommenen
Ernstes.
Arnolds Freude, Hanka wiederzusehen, war nicht
ganz frei von Befangenheit. »Wo kommen Sie her?«
fragte er. »Wo waren Sie solange?«
»Ich war in Rom, Sizilien und Tunis«, berichtete
Hanka, »und jetzt bin ich hier, weil meine Schwester
erkrankt ist.«
»So? Was fehlt ihr denn?«
Hanka zuckte die Achseln. »Die Nerven, das Blut.«
»Bleiben Sie lange hier?« fragte er. »Ist es
Ihnen nicht langweilig?«
Arnold schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich langweile
mich nie«, antwortete er.
»Das ist ein großes Wort«, meinte Hanka und nickte
nachdenklich. »Was mich betrifft, ich langweile mich
in hervorragendem Maße.«
Die breite Behäbigkeit, mit der Hanka das O aus
den Eingeweiden heraufbrummte, machte Arnold
lachen. »Jetzt darf man doch nicht mehr klagen«,
sagte er. »Schauen Sie sich doch um: Frühling!«
»Seit drei Monaten habe ich Frühling und bin
den blühenden Mandeln von Syrakus bis Florenz
nachgereist. Auch das bekommt man satt.« Mit verschwiegener
und ehrlicher Bewunderung blickte Hanka
Arnold an. Hier sah er quellend und in Blüte, was
in ihm selber eine Wüste war. Hier vermutete er
naiven Überschwang der Kräfte und die Fruchtbarkeit
eines unbefangenen Geistes. Während seines
langen Alleinseins hatte sich das Bild Arnolds in
seinem Innern erhoben, und ihm hatte er sich im
Stillen zugewandt als der Verkörperung alles dessen,
was seiner Natur niemals auch nur aus der Ferne
hatte winken dürfen. Ihm jetzt gegenüberstehend,
sah er in sich selbst eine Gefahr für Arnold und er
beschloß, ihn zu meiden.
»Wollen wir nicht abends öfter zusammenkommen?«
fragte Arnold. »Die Abende sind sehr lang.« Er zuckte
zusammen, da er gerade dieses nicht hatte sagen
wollen; auch Hanka wurde ein wenig stutzig. Indessen
es war geschehen. Errötend wandte er sich
an Hanka und sagte, mit freundlichem Tadel auf
dessen Zigarette blickend: »Nie sieht man Sie ohne
das Zeug. Weshalb rauchen Sie? Vergiften Ihr
Blut. Das gefällt mir nicht. Verzeihen Sie.«
Hanka lächelte gelassen. »Ich komme vielleicht
morgen zu Ihnen«, sagte er stehen bleibend und sich
verabschiedend.
Die Gesunden glauben, dem Kranken sei das
Bett angenehm, dachte Hanka, als er allein war
und sich dem Zaun des Vorgärtchens näherte. Er
öffnete die Gattertüre und sah neben dem Weg
einen sterbenden Vogel liegen. Betroffen bückte
er sich und hob ihn auf. Das kleine Herz schlug
langsam unter dem erkaltenden Federkleid, die
Flügel waren schlaff ausgebreitet, die gelben Beinchen
waren starr. Hanka schaffte Stroh herbei und
legte das kranke Wesen in die Küche dicht neben
den Ofen. Der gelbe, mit der Erde beschmutzte
Schnabel wetzte sich mechanisch am Eisenfuß des
Herdes, dann kam der Tod. Die kleinen schwarzen
Perl-Augen, soeben noch von der unbegreiflichen
Bewegung erfüllt, welche Leben heißt, glänzten nun
mineralisch leer.
Hanka ging an das Lager der Schwester. Abgezehrt
und hilflos wie sie lag, erinnerte sie ihn an den
Vogel, den er im Garten aufgelesen. Er unterhielt
sich mit ihr, erzählte Reisegeschichten und machte sie
lachen. Agnes wußte das Notwendigste über ihres
Bruder schnell vergangene Ehe. Es waren darüber
nicht drei Sätze gewechselt worden, und Agnes war
nicht so überrascht, als Hanka wohl glauben mochte.
Sie sah ihn verändert, in einer Weise, die kaum mit
Worten zu bezeichnen war. Dies ist Beates Werk,
glaubte sie kurzsichtig und gefühlvoll. Hanka war es
im Grunde gleichgültig, wofür man ihn nahm. Der
Sturm kann darüber erhaben sein, daß ihn taube
Ohren für das Summen einer Fliege halten.
»Jahrelang war kein solch wunderbarer Tag«, sagte
Agnes, sich aufstützend. In dem milden, mattblauen
Himmel sah sie die knospenden Zweige der Bäume
schwimmen. Als Hanka fragte, ob er ihr vorlesen
solle, nickte sie beglückt. Ihr Lieblingsschriftsteller war
Jean Paul; sie hatte nie etwas anderes gelesen.
Früher hatte Hanka die ihm altmodisch erscheinende
Neigung verspottet, denn er vermochte unter dem
faltenvollen Gewand dieser Sprache keinen Leib zu
finden. Jetzt aber hatte er eine bessere Ansicht darüber
gewonnen.
Er entnahm der Bändereihe ein Buch, das die
Kranke bezeichnet hatte, setzte sich hin und las mit
sehr lauter Stimme, damit Agnes ihn gut hören
könne. Bald kam er zu einer Stelle, die sein vorauseilendes
Auge überblickt hatte. Er schwieg und
las für sich: Sobald wir anfangen zu leben, drückt
das Schicksal aus der Ewigkeit den Pfeil des Todes
ab. Er fliegt so lange, als wir atmen und wenn er
ankommt, hören wir auf. O stürben wir doch auch
so alt und lebenssatt wie dieser Greis, sagen dann
diejenigen, deren Pfeile noch fliegen.
Mit erschrecktem Stirnrunzeln ließ Hanka das Buch
sinken. Er entschuldigte sich bei Agnes, stand auf und
ging in den Garten. Ihn quälte die Einsamkeit. Er
sehnte sich nach dem Anblick vieler Menschen, nach
ihrem Geschwätz und nach Spiel. Der weite Himmel
drückte auf ihn nieder. Mit gesenktem Kopf beobachtete
er jetzt, wie viele Tausende von schwarzen
Ameisen über einen Regenwurm hergefallen waren,
ihn zerbissen und in geteilten Haufen die roten Stücke
fortzerrten. Voll Ekel wandte er sich ab. Er nahm
Mantel und Hut, um Arnold aufzusuchen und
fand ihn im Garten auf und ab gehend, wie er
selbst vorhin getan. Sie setzten sich auf eine Bank
und plauderten. Der Garten und besonders seine
parkartige Fortsetzung sahen verwildert aus; geknickte
dürre Zweige lagen umher und ein Teppich feuchter,
brauner Blätter leuchtete in der Sonne. Die Spatzen
lärmten und auf den Feldern schritt schon der pflügende
Bauer.
Das Beisammensein der beiden Männer trug den
Ausdruck gegenseitiger, natürlicher Achtung. Arnold
sprach von der Landwirtschaft und erwähnte, daß er
sich die Zeit her um nichts gekümmert habe; er finde
nicht die Ruhe, es treibe ihn zu großen Geschäften,
die ein Wagnis und Einsetzen verlangten, denn wenn
man nur dasitze und sein inneres Kräftevermögen in
sich selber verzehre, käme man bald zur Schwäche.
Darum sei es ihm zweifellos, daß das Leben auf dem
Lande für junge Menschen, wenn nicht gefährlich,
doch sehr einschränkend sei. Arnold redete mit einer
ganz kleinen Überspannung des Temperaments; dies
entging Hanka nicht nur, sondern er hatte auch seine
Freude daran. Er trat aus sich heraus, und das
Weben seiner Gedanken wurde weniger beklommen.
Arnold meinte, daß ein solches Wagen und Opfern,
wie er es auffasse, mit Geldgeschäften nichts zu tun
habe. Hanka stimmte ihm bei, denn obwohl er gegenwärtig
sein ganzes Vermögen in Börsen-Unternehmungen
stehen habe, empfinde er keine Tätigkeit,
sondern fühle sich faul und gleichmütig. Es entstand
ein kurzes Schweigen, bis Arnold ohne Übergang die
Geschichte mit dem Häusler Kubu berichtete. Hanka
sagte: »Solange es nur gute Menschen gibt, die mit
den Unglücklichen fühlen, ist nichts gewonnen für die
Welt. Mit den Glücklichen zu fühlen, dazu müßte
man die Menschen erziehen.«
Sie verabredeten für den nächsten Morgen einen
Ausflug, aber da Hanka zu träg war, um zu gehen,
wollte er im Ort eine Kutsche auftreiben. Zur bestimmten
Stunde kam das Gefährt zur Stelle, mit
zwei dicken Gäulen bespannt. Langsam ging es über
die Heerstraße; der Tag war noch schöner als der
gestrige. Nach einer Stunde nahm sie der Wald auf.
Frisch geschälte Baumstämme lagen quer über dem
Graben und glänzten in der Sonne wie Goldbarren.
Die Straße war schmal. Hinter ihnen fuhr im scharfen
Trab ein Bauernwagen heran. Vier verwegen aussehende
Burschen hockten auf den Leitern; einer
schwang die Peitsche, deren Knallen den ganzen Wald
mit Getöse erfüllte, die andern, mit schiefsitzenden
Kappen, schrien drohend und lachend drauflos. Das
Fuhrwerk kam näher, auch die Kutsche rollte schneller.
Die Kerle warfen die Arme und brüllten; ihre beiden
Pferde hatten Schaum am Maul, als nähmen sie an
der Erregung teil. Arnold riß dem Kutscher die Zügel
aus der Hand; lachend trieb er die dicken Gäule vorwärts,
und sie jagten nun auch ihrerseits wild dahin.
Die Bauern blieben scharf hinterher; Hanka blickte
den nachstürmenden Pferden in die rötlich lohenden
Augen. Seine Gleichmütigkeit schwand unter einer
grausigen Vorstellung, und er dachte an den Mann
jenes Gedichts, der im Brunnen hängt, Tod unter
und Tod über sich erblickt.
Endlich kam eine Schenke und da hielt die Bauernkarre
still. Arnold und Hanka kehrten auf einem
näheren Weg gegen Podolin zurück. Eine eigentümliche
Verachtung begann in Hanka zu wirken. Er
verachtete das Ding, welches ihm das Herz auffraß.
Im Schweigen liegt oft die aufdringlichste Mitteilung.
Das erfuhr Arnold bald. Seine Lebensstimmung
wurde durch das beeinflußt, was Hanka
schweigend in sich verschloß. Er trieb wieder mathematische
Studien. Er spielte und es ist im Grund,
dasselbe, ob man mit Zahlen oder mit Karten spielt.
Über all dem, wolkengleich, spannte sich etwas trist
die Sehnsucht nach Verena. Bisweilen senkte sie sich
nieder wie Regen und erfüllte seine Brust mit Traurigkeit.
Er suchte das Rätsel ihrer Person zu ergründen
und wollte ihr beikommen wie den algebraischen Formeln.
Er langweilte sich. Mitten in die Stille und Einsamkeit
kam ein Brief Anna Borromeos. Sie schrieb
an Arnold, daß sie für sein langes Ausbleiben keine
andere Ursache vermuten könne, als daß ihn ihr Haus
abgestoßen und ihre Person verscheucht habe. »Aber
lieber Neffe und Freund, wir können dich, so scheint
es, weniger entbehren als du uns. Wir zerbrechen
uns den von zahllosen Geschäften ermüdeten Kopf,
indessen du boshaft hinter deinem Dorfofen sitzest.
Mein Gatte quält sich mit der Befürchtung, daß du
unsere Gastfreundschaft mangelhaft gefunden haben
könnest, und auch mich drängt es, dir eine bessere
Idee von Anna Borromeo zu geben, als du jetzt in
deine Heimat getragen. Für die Schlechtesten gibt
man sich aus und dem, den man umschließen sollte,
dem sperrt man sich zu. Komm bald. Deine A. B.«
Arnold war Anna Borromeo fast dankbar für dieses
Schreiben, durch welches sein Schwanken beendigt
und der Entschluß der Abreise bewirkt wurde. Er
freute sich auf die Stadt, und gleich teilte er Hanka
seinen Vorsatz mit.
Fünfundvierzigstes Kapitel
Da es mit Agnes besser ging, wollte Hanka
ebenfalls in die Stadt zurückkehren und Arnold
war es angenehm, Gesellschaft zu haben. Am
letzten Abend raffte er sich auf und unternahm
endlich eine Durchsicht der Rechnungen und Berichte,
welche ihm der Verwalter vorlegte. Es vergingen
Stunden damit. Der Inspektor schien es darauf anzulegen,
ihn zu verwirren, aber Arnold zeigte ihm,
daß es nicht leicht war, ihn zu übertölpeln. Er sollte
sich darüber entscheiden, ob er ein Stück Acker an die
Gemeinde verkaufen wollte, die es zum Bau einer
Lokalbahn haben wollte, jedoch einen Spottpreis anschlug.
Ungeduldig verschob Arnold den Bescheid,
wodurch freilich nichts gewonnen war.
Der Wagen mit Hanka kam; winkend und nickend
fuhr Arnold gegen die Straße hinaus. Ursula ließ
ein weißes Handtuch flattern, das noch lange zu sehen
war.
»Ich bin froh, nun geht’s wieder an die Arbeit«,
sagte Arnold. »Weshalb sind Sie so schlecht gelaunt?«
Hanka streckte die Beine aus und sein Kopf wackelte
verdrießlich auf dem Hals. »Es geht mir schief«, antwortete
er. »Die Montanpapiere sind um zehn Perzent
zurückgegangen.«
»Was werden Sie tun?«
»Ich muß verkaufen.«
»Und dann?«
»Dann steht mir ein großes Unglück bevor, –
Arbeit.«
Arnold lachte. »Schade«, meinte er, »Sie sind
zum Müßiggang geboren.«
Wohltätig wurde Arnold von dem Gewirr und
dem Lärm berührt, als sie am Nachmittag in der
Stadt eintrafen. Am Bahnhof trennte er sich von
Hanka. Die Wärme des Lebens strömte ihm aus den
Straßen entgegen. Hier war es nicht von Belang, ob
die Sonne schien oder nicht, ob es regnete oder nicht.
In seinem Zimmer angelangt, entlohnte Arnold
die Leute mit dem Gepäck, und während dem trat
Anna Borromeo unter die Türe. Mit großer Freude
streckte sie ihm beide Hände entgegen und Arnold war
sehr überrascht, in ihr eine so schöne Frau zu sehen,
denn für sein Auge war sie bisher nur die Gattin
Borromeos gewesen. Sie erzählte ihm Neuigkeiten,
und obwohl sie beide nie in so vertraulicher Weise
geplaudert hatten, schien es Arnold doch natürlich zu
sein und entsprach seiner gehobenen Stimmung. Anna
war erstaunt darüber, daß er auch ihre halbgesprochenen
Sätze im Stillen zu ergänzen wußte, und daß
er jenes andeutungsreiche Wesen begriff, welches
zwischen Menschen von gleicher Kultur und gleichen
Gewohnheiten entsteht.
Später las Arnold die Briefe, die für ihn eingetroffen
waren. Zuerst nahm er Stück um Stück in
die Hand, jedoch er fand nicht, was zu finden er gehofft
hatte. Es waren meist Bettelbriefe und Einladungen.
Ein Schreiben Wolmuts war dabei, der
ihn benachrichtigte, daß er in die Statthalterei nach
Graz berufen worden sei, und daß ihm wahrscheinlich
bald eine weitere Beförderung in Aussicht stehe. Arnold
war nicht sehr zufrieden damit; ihm war, als
habe ein guter Geist das Haus verlassen.
Geschäftig räumte Arnold alle Bücher aus den
Regalen, rief den Diener, damit die Bände abgestaubt
würden, und ordnete alles mit peinlicher Sorgfalt
nach Größe, Gattung und Aussehen wieder ein.
Die Schreibereien legte er Blatt auf Blatt zusammen
und spannte das Gleichartige zwischen Drähte. Er
ließ die Fenster waschen, die Dielen fegen, die Teppiche
klopfen, begab sich auf die Jagd nach Tintenflecken,
Spinneweben, Flöhen und setzte alles im Haus in Bewegung.
Als einige Tage vergangen waren, suchte er Hanka
auf. In der Villa wurde ihm gesagt, Hanka wohne
in einem Hotel in der Stadt. Verwundert fuhr er
hin und fand ihn in trübseliger Laune. Hanka gestand
ihm, daß er den größten Teil seines Vermögens
an der Börse verloren habe.
Die Unterhaltung schleppte sich einsilbig weiter.
Plötzlich begann Arnold von Verena zu erzählen.
Die Ereignisse verschoben sich sonderbar in seinem
Mund; gefärbt durch selbstsüchtiges Leiden, wirkten
sie romantisch und verzwickt. Schon die Befürchtung,
ein Liebesabenteuerchen wie hundert andere zu erzählen,
verwischte den natürlichen und so ruhigen
Lauf der Begebenheit. Hanka wurde nicht klug aus
der Geschichte. Er äußerte sanfte Zweifel an der gepriesenen
Verena, und mehr als den Verlust seines
Vermögens betrauerte er plötzlich Arnolds übertriebene
Beredsamkeit. Arnold fühlte es. In ziemlicher
Erregung begann er von neuem, Verenas seltene
Natur begreiflich zu machen; aber stets überhebt man
sich, wenn man loben muß, was man liebt, und Hanka
wurde immer mißtrauischer und betrübter. So sehr
er Äußerungen des Temperaments achtete, so sehr
schreckte ihn erhitzte Empfindung ab.
Aber er begab sich des Nachdenkens darüber und
begnügte sich mit der Feststellung der Tatsache. Er
ging an den Ereignissen vorüber wie man im Flur
eines Hotels an den Zimmern vorbeigeht, in denen
man nicht wohnt. Aber da sein alles voraussehender
und stets auf das Schlimmste vorbereiteter Geist von
Schrecken erfüllt war durch die Erwartung der Millionen
Wirkungen aus einer einzigen Ursache, so wurde
all sein Handeln eigentlich durch ein alles umgürtendes
Verantwortlichkeitsgefühl erdrosselt. Hanka dachte
an die Worte Marc Aurels: Schändlich ist es, wenn
deine Seele ermüdet, ohne daß dein Leib müde ist;
und grübelte mit dem heiligen Augustinus: Woher
diese Unnatur? und warum? Der Geist gebietet dem
Körper, und der Körper gehorcht; der Geist gebietet
sich selbst und findet Widerstand.
Hankas einzige Zuflucht bildete das Glücksspiel. Er
verbrauchte alle Kräfte seines Gemüts gegen die aufreibenden
Erregungen am Kartentisch. Hier sah er
alles im kleinen vollendet, was sonst seinen rechnenden
Geist mit finsterm Beharren erfüllte, das Ungefähr,
das vernunftlos-notwendige, seit Ewigkeit im
Weltraum lauernde Ungefähr, welches als Zufall,
mit einer Narrenkappe versehen, oder als Schicksal,
das Antlitz eines Gottes tragend, den kleinen und
großen Gerichtshof für die Lebendigen bildet. Aber
betrübte Spieler können nicht gewinnen. Er hatte
das Gefühl, als werfe er das Geld ins Wasser. In
wenigen Wochen verlor er gegen fünftausend Gulden.
Als die Summe voll war und sich der Weg deutlich
zum Abgrund hinunterbog, erhob er sich mit der ihm
eigenen Kaltblütigkeit und sagte: »Genug, ich werde
keine Karte mehr berühren.«
Als ob er nun die Mauer zerstört hätte, die ihn
von Arnold trennte, war sein erster Gedanke, den
Freund aufzusuchen. Die Zimmer, in die er trat,
sahen aus wie ein Platz nach dem Jahrmarkt. Kisten,
Koffer, Bücher, Betten lagen durcheinander; Arnold
hantierte mit rotem Kopf auf einer Leiter, der Diener
war mit Packen beschäftigt. »Hollah!« rief Arnold
herab, »Sie kommen gerade recht. Bei mir gibt es
Arbeit, wie Sie sehen.«
»Ich sehe wenigstens, daß Sie beschäftigt sind«, erwiderte
Hanka etwas verdrießlich.
»Ich ziehe nämlich aus«, erklärte Arnold, sprang
mit einem Satz auf den Boden und rollte eifrig einen
Strick über die Hand. »Hier ist mir alles zu klein.
Ich habe eine neue Wohnung gemietet mit hohen
Zimmern. Man muß atmen können.«
»Da bin ich also überflüssig«, meinte Hanka; »ich
dachte, wir könnten eine kleine Spazierfahrt unternehmen.«
»Sehr gut!« rief Arnold, wandte sich zum Diener
und gebot ihm, einen Wagen zu besorgen. »Ich habe
schon zu viel Staub geschluckt«, sagte er und bahnte
sich einen Weg zu Hanka, dem er nun mit strahlendem
Lächeln die Hand drückte.
»Ich finde eigentlich keinen Grund, weshalb Sie
das stille Haus hier verlassen«, sagte Hanka kopfschüttelnd.
»Es ist mir eben zu still«, erwiderte Arnold. »Alles
ist alt und krumm hier im Haus. Wenn man ordentlich
auftritt, krachen die Bretter im Boden. Es wird
zu früh dunkel, es kommt keine rechte Sonne herein.
Das ist nichts für mich. Dort, Sie werden sehen,
der reinste Palast. Und etwas hab ich gekauft, Hanka!
Da werden Ihnen die Augen vor Erstaunen herausfallen.«
Er lachte, auch Hanka lächelte.
»Man kommt nicht zur Besinnung«, sagte Arnold,
als sie im Wagen saßen, der die Richtung gegen den
Prater nahm. »Und wie schön es heute ist, wie gut
die Luft. Das Leben ist eine sehr angenehme Erfindung.«
»So?« erwiderte Hanka ernsthaft und blickte bedächtig
in den vollkommen blauen Himmel.
»Und Sie, schwarzer Kater, schnurren immer noch
über schlechtes Wetter?«
»Ich schnurre«, gab Hanka zurück, »obwohl es mir
dabei nicht so wohl ist, wie es die Beschäftigung des
Schnurrens mit sich bringen sollte.«
Der Kutscher ließ die Pferde laufen, und das leichte
Fuhrwerk sauste geschwind die breite Allee hinab und
mit gleicher Geschwindigkeit flogen zurückkommende
Wagen an ihnen vorbei. Wunderschöne Frauengesichter
tauchten auf und Arnolds Mund öffnete sich
begehrlich. Unersättlich im Wunsch, ließ er die Augen
über die Massen hingleiten, welche sich auf den Fußwegen
drängten, und ihm war, als sei er es, der ihre
Herzen schneller schlagen lassen könnte. Keiner weiß
vom andern, jeder birgt in sich die größte Fülle der
Bitterkeit, des Lebensüberdrusses und der Armut, und
Arnold hat die Macht, all ihre Fähigkeit auf ein Ziel
zu richten, tätig nach außen werden zu lassen, was
zerstörend im Innern wirkte, aber er rast an ihnen
vorbei zu andern Sternen.
Sie fuhren zurück gegen die Stadt. Arnold lud
Hanka zum Tee ein. »Anna Borromeo hat mich
längst gebeten, Sie zu ihr zu führen. Sie vermutet
in Ihnen einen Philosophen.« Die Pferde gingen im
Schritt, Dampf entstieg ihren Lenden, gleichwie auch
von den Straßen der schwüle Dampf der Arbeit
emporstieg.
»Ah, Besuche und noch dazu Damen«, sagte Arnold
im Vorzimmer der Borromeoschen Wohnung.
Sie traten ein. Baron Valescott war da, dessen
Mutter und zwei seiner Schwestern. Arnold stellte
Hanka vor und wurde selbst mit den fremden Damen
bekannt gemacht.
Sechsundvierzigstes Kapitel
Es wurde über ein Blumenfest gesprochen, das im
Belvederegarten stattfinden und wozu der Kaiser
und der ganze Hof kommen sollte. Der Leutnant Valescott
hatte zu der Gelegenheit ein Festspiel mit lebenden
Bildern gemacht und forderte Arnold auf, dabei
mitzuwirken.
»Es ist auch beschlossen worden, daß du dem Komitee
beitrittst«, sagte Anna Borromeo.
»Beschlossen worden?«
»Ja, wir werden Sie einfach zu unserm Gefangenen
machen«, sagte die Baronin.
»Aber hauptsächlich sollen Sie mitspielen«, fügte
Valescott hinzu.
»Ich habe keine Ahnung, wie man so was macht«,
erwiderte Arnold verlegen.
»Das ist überflüssig. Es genügt, daß Sie gut gewachsen
sind. Sie sollen nur Figur machen.«
»Also ungefähr das Beschwerlichste, was es gibt«,
meinte Hanka trocken.
Alle lachten, ausgenommen die ältere der Baronessen,
deren kluges und etwas verdrossenes Gesicht
sich bloß für einen Augenblick erhellte.
»Ich glaube sogar, Sie müßten den Narziß geben«,
fuhr Valescott eifrig fort. »Das Spiel behandelt
nämlich die Sache vom Narziß in etwas modernisierter
Form, ins Barock übersetzt. Kommen Sie doch
dieser Tage zu mir, wir wollen darüber sprechen. Sie
haben wirklich nichts weiter zu tun als eine Pose anzunehmen.
Die Verse werden von einem Schauspieler
gesprochen.«
»Was sagen Sie dazu, Hanka?« fragte Arnold
lachend.
Hanka zuckte die Achseln. Plötzlich stand er auf
und verabschiedete sich. Er wurde mit Kälte entlassen.
»So schweigsam zu sein, das ist unbescheiden«, sagte
Anna Borromeo, als er fort war.
Arnold verabredete mit Valescott den Tag, an dem
er kommen wollte.
Gegen Abend schritt er seiner neuen Wohnung zu.
Das Pflaster war rot vom Sonnenuntergang, auch
der Staub in der Luft schimmerte farbig.
Auf einmal blieb er stehen und starrte erschrocken
einem Manne nach, der soeben an ihm vorübergegangen
war; einen langen Bart und trübe, fast erloschene
Augen hatte Arnold gewahrt; er glaubte,
Elasser sei es gewesen. Rasch folgte er dem Menschen,
konnte ihn aber nicht mehr einholen. Er blickte in
die Hausgänge, schaute durch die Glastüren in die
Läden, vergeblich. Nachdenklich blieb er im Menschengewühl
stehen. Und plötzlich sah er die Erscheinung,
zurückkehrend, zum zweitenmal, – es war nicht
Elasser; eine Ähnlichkeit hatte Arnold genarrt. Er
setzte seinen Weg fort und erwog im Stillen einen
Plan. Er suchte das nächste Postamt auf, schrieb
eine Anweisung auf hundert Gulden und sandte sie
an den Hausierer Elasser in Podolin. Er atmete auf,
als er wieder die Straße betrat.
Am nächsten Abend kam Hanka zu Arnold. In
den saalartigen Zimmern waren überall noch Leute
beschäftigt. Kostbare Gegenstände lagen umher wie
im Laden eines Trödlers.
»Sie treffen Anstalten, das Geschäft zu vergrößern«,
meinte Hanka und machte einen Riesenschritt über
eine flache Kiste. Arnold führte ihn durch ein halbdunkles
Zimmer in einen vollständig finstern Raum
und sagte: »Passen Sie auf.« Er drehte den Knopf
dreier elektrischer Lampen auf und es entstand blendende
Helle. In der Mitte des Gemachs stand auf
breitem Postament der marmorne Antinous.
»Wo haben Sie das Ding her?« fragte Hanka nach
einigem Stillschweigen.
»Es hat dem reichen Pottgießer gehört.«
»Richtig, auch den hat der Krach zerschmettert. Sie
haben es gekauft? Eine wertvolle Sache.«
»Wie gefällt es Ihnen, Hanka?« fragte Arnold
fast schüchtern.
»Ganz gut. Sehr schön, – vorausgesetzt, daß Sie
keine Tendenz damit verbinden.«
»Was soll das heißen?«
»Ich meine, etwa Griechentum, Schönheit und so
weiter.« Hanka ging mit seinem sonderbar stampfenden
Schritt umher, hatte die Hände fest auf die Hüftknochen
gestemmt und so schien alles an ihm in einer
Art Bewegung, ausgenommen die Augen, die in eine
eingebildete Tiefe starrten und zwei Ebenholzkugeln
glichen.
»Und wenn ichs täte –?« erwiderte Arnold. »Ich
weiß nichts davon, aber wenn ichs täte –?«
Hanka blieb stehen. »Es wäre nicht weiter schlimm«,
sagte er. »Ich meine nur, damit haben wir nichts
zu tun. Das ist alles Schwindel. Wir müssen unsere
Ideale viel niedriger hängen. Es ist für uns
schon Ideal genug, ein anständiger Mensch zu sein.
Übrigens«, fügte er hinzu, mit einer eklen Mundbewegung,
als ob seine Worte ihm bitter geschmeckt
hätten, »wollen Sie wirklich ein lebendes Bild
machen –, dort?«
»Ich denke nein«, entgegnete Arnold.
Hanka fing an zu rauchen und zu schweigen. Arnold
stand am Fenster, und blickte auf die Statue.
Hanka ging und Arnold blieb allein vor der marmornen
Figur, aber wenn sie ihm gleich in Hankas
Gegenwart belebt erschienen war, so erblickte er jetzt
nichts anderes als den gemeißelten Stein darin. Er
lauschte gegen die Straßen. Ein leises, unveränderliches
Kochen, Surren und Zittern drang zu seinem
Ohr und durchbrach die täuschende Stille. Dort war
Leben, ewiges Wach-Sein. Ein unersättlicher Hunger
erfüllte Arnolds Brust. Ohne Zögern hätte er all das
Unbekannte an sich reißen mögen, anstatt hier zu sitzen
und zu warten. Nicht Glück, nicht Befriedigung, nicht
Ausfüllung der Stunden, nicht Freundschaft, nicht
Wissenschaft war es, wonach dies Unersättliche Verlangen
trug. Kein Wort konnte es benennen, kein
Gedanke es umfassen. Es glich einem aufgesperrten
Rachen, für den die Millionen eines Goldbergwerks
nur ein verächtlicher Bissen, die Umarmung der Psyche
kaum ein Tröpfchen Erquickung bedeutet hätte. Im
Schmerz der Willensanstrengung oder im Rausch der
Ahnung umhergetrieben, schien es ihm, als ob sein
blindes Begehren die Welt ausfülle. Was ihn ehedem
hatte erglühen lassen, erschien ihm nichtig, was
er ehemals begehrt, bettelhaft. Zahllose Wünsche
waren beschäftigt, ihm ein reizendes Wandelpanorama
der Welt zu malen, dessen entzückter Betrachtung er
sich hingab. Doch so oft der Sturm sich legte, woher
kam es, daß aus irgend einer Ecke ein lauerndes Ungeheuer
kroch, wie eine Spinne, deren feine Fäden
das Herz umspannen und es kalt und lustlos machten?
Am Tag darauf hatte Arnold mit Borromeo wegen
der veränderten Anlage eines Kapitalsteiles zu reden.
Er hatte Lust zu kühnen Unternehmungen; was er
anpackte, ging den glücklichsten Weg. In der Kanzlei
traf er den Oheim nicht. So wartete er bis zum
Abend und ging dann in die Wohnung. Als er angepocht
hatte und eintrat, standen Borromeo und
Anna einander gegenüber. Beide waren blaß.
»Verzeiht«, sagte Arnold und reichte die Hand.
Frau Anna sah ihn mit einem durchbohrenden Blick
ihrer glühendblauen Augen an, Borromeo lächelte
dünn und leer.
»Habt ihr zu sprechen?« fragte Anna Borromeo.
Mit einem trägen Nicken gegen Arnold verließ sie
das Zimmer. Arnold nahm eine Zigarette von der
Schale und setzte sie mit nachdenklichen Geberden in
Brand.
Borromeo konnte zu dem Vorhaben Arnolds nicht
seinen Segen geben. Mit halbgeschlossenen Augen
und zur Seite geneigtem Kopf ging er langsam auf
und ab. Bisweilen hob er mit dem Handrücken den
Bart unter dem Kinn empor und zog die fahlen
Lippen zwischen die Zähne. Dann blieb er stehen,
lauschte, öffnete die Türe, durch welche Anna gegangen
war, und finster lag der große Raum des
Empfangszimmers vor ihm. Dann ging er zur
zweiten Türe, die er gleichfalls öffnete, aber nach
kurzem Hinausstarren wieder schloß. Die Augen
emporschlagend, mit regungslos hängenden Armen,
im festgeschlossenen langen Gehrock stand er vor Arnold.
»Du hast mir noch nichts von Podolin erzählt«,
sagte er. Er hatte etwas ganz anderes unterdrückt,
das ihm zu sagen näher lag.
»Es hat sich nichts verändert«, antwortete Arnold.
»Der Verwalter scheint mir nicht zuverlässig, Ursula
wird alt. Ich möchte das Ganze losschlagen. Es ist
ein Stein am Hals.«
Borromeo starrte auf den Tisch, auf welchem Spielkarten
verstreut lagen. Er nahm einen Pack in die
Hand und zog einen König heraus, den er düster betrachtete.
»Was denkst du dazu?« fragte Arnold.
Borromeo schüttelte sanft den Kopf. »Ich kann
nicht raten«, sagte er leise. »Ich bedürfte selbst des
Rates. Warum willst du deine Heimat verkaufen?«
Arnold blickte ihn aufmerksam an. Ein innerer
Unwille erhob sich in ihm gegen die eisige Trauer
dieses Mannes.
»Ich bedürfte selbst des Rates«, wiederholte Borromeo.
Erschrocken zuckte Arnold zusammen; doppelt erschrocken,
als er den verehrenden, klaren, gläubigen
Blick des Oheims auf sich ruhen fühlte. Er vermochte
nichts zu sagen, doch war es ihm eine Sekunde
lang zumute wie damals, als er in Verenas Hause
in den Spiegel geschaut, um zu sehen ob sein Bild
auch wirklich darin sei.
Siebenundvierzigstes Kapitel
Arnold träumte, er stehe auf einem gläsernen
Feld und bei jedem Schritt, den er zu machen
versuchte, rutschte er in eine glatte Furche zurück.
Über diesen Bemühungen erwachte er und verspürte
Kopfschmerzen. Er konnte nicht mehr einschlafen,
machte Licht, nahm ein Buch und las. Während
des Lesens faßte er den Plan, in der neuen Wohnung
alle Bekannten und Freunde an einem Abend
zu versammeln. Er beschäftigte sich mit der Zusammenstellung
köstlicher Speisen und seine Phantasie
schmückte im voraus die Räume. Antinous
sollte eine Rosenguirlande über der Schulter tragen.
Dann dachte er an Arbeit; es schien ihm lockend, viel
zu wissen und durch Wissen zu herrschen. In der Tat
ging er am Morgen zur Universität, um eine Vorlesung
zu hören, schrieb fleißig mit und zwang seine
widerspenstigen Gedanken in den Kreis des Gegenstandes.
Zum Mittagessen ging er nicht nach Hause, obwohl
er dort für sich hatte kochen lassen, sondern in ein
Restaurant, welches in der Nähe der Oper lag. Es
war ein sehr vornehmes und teures Haus, aber Arnold
hatte Lust bekommen, gute und seltene Dinge
zu essen. Solche Antriebe lagen für ihn in der Luft.
Es machte ihm Vergnügen, einen Kellner zu beobachten,
der vor ihm zusammenknickte wie ein Messerchen.
Als er am Tisch saß, gewahrte er gegenüber an
der entgegengesetzten Wand Maxim Specht und Beate.
Specht grüßte mit einem nachlässigen kalten Neigen
seines Kopfes. Zwei Diamantringe funkelten an seiner
Hand, und eine erbsengroße Perle steckte in seiner
Kravatte. Beate trug ein hellgrünes Tuchkleid in
englischer Machart. Ihr Gesicht war außerordentlich
bleich, müde, langgezogen und hatte den Ausdruck
einer maskenhaften, kalten Anständigkeit. Als Arnold
grüßte, lachte sie ihm einfach ins Gesicht. Specht
schien innerlich zu kämpfen; er flüsterte mit Beate,
nach einer Weile kam er herüber und drückte Arnold
die Hand. Er zeigte eine boshafte Förmlichkeit in
seinem Benehmen.
»Es scheint Ihnen gut zu gehen?« sagte Arnold.
Seine Miene suchte jede überflüssige Annäherung im
voraus abzuweisen.
»Ich bin jetzt Redakteur des Adelsblattes«, erzählte
Specht und nahm mit einer leichten Verbeugung
Platz. »Auch Sie haben viel Erfolg, wie ich höre«,
fuhr er fort und legte den Kopf leicht fragend gegen
die eine Schulter. »Sie haben vorteilhaft in bulgarischer
Rente spekuliert, erzählt man sich.«
Arnold legte seine Forelle auseinander und schabte
das weiße Fleisch sorgsam von den Gräten. Er lächelte.
»Übrigens muß ich Ihnen etwas mitteilen«, sagte
Maxim Specht plötzlich in heiterer Belebtheit, »und
es ist gut, daß ich Sie treffe. Eine ganz unheimliche
Parallelgeschichte, wie Sie bald sehen werden. Ich
hatte mich mit einer kleinen Schauspielergesellschaft
verabredet. Wir wollten nach dem Theater im
Stephanskeller essen und hatten ein separiertes Zimmerchen
bestellt. Ich telephoniere am Nachmittag,
und der Oberkellner nennt mir die Nummer des Zimmers.
Das Theater ist aus, ich gehe hin, der Kellner,
der mich sehr gut kennt, läßt mich vorbeigehen, und
ich höre schon von weitem unsere Gesellschaft lärmen.
Da passiert mir das Unglück, ich muß die Nummer
des Zimmers vergessen haben, daß ich nun eine falsche
Türe öffne und sehe, wen glauben Sie? Den jungen
Baron Valescott und –«
»Nicht weiter Specht!« rief Arnold herrisch und
legte die Gabel auf den Tisch.
Specht senkte die hochgewölbten Lider und sagte:
»Namen sind verpönt, Sie haben Recht. Aber Sie
verstehen mich hoffentlich. Ich sah später noch dieselbe
Dame, dicht vermummt, in einem undurchsichtigen
Schleier, es war Mitternacht, als sie gingen.
Baron Valescott hatte sich beim Kellner erkundigt
und war sehr aufgebracht über den dummen Irrtum,
der mir passiert war. Ich dachte mir nur, Sie könnten
hier ebenso erfolgreich den Wahrheitsmann machen
wie damals Hanka gegenüber. Die Wahrheit ist eine
sehr schöne Sache, besonders wenn man für sie einsteht
... Teufel, ich verplaudere mich, leben Sie wohl,
auf Wiedersehn.«
Arnold reichte ihm nicht die Hand. Er hatte die
Eßlust eingebüßt, zahlte und ging. Zorn gegen Specht
erfüllte ihn, Unschlüssigkeit, Trauer, allgemeine Tatensehnsucht,
aber es dauerte nicht lange, so senkte sich
ein wohltätiger Schleier über das unharmonische
Wogen der Gefühle.
Es war vier Uhr und er entschloß sich, zu Valescott
zu gehen. Das Haus, welches die Familie bewohnte,
lag im Mittelpunkt der Stadt und war einer
jener alten verwitterten Paläste, deren ursprüngliche
Majestät, in eine enge, finstere, wurmartig gekrümmte
Gasse verdrängt, sich ganz in Melancholie verwandelt
hat. Das Zimmer, in welches Arnold geführt wurde,
war sehr hoch, hatte rot tapezierte Wände und eine
stuckverkleidete Decke, von der ein altmodischer, kostbarer
Kronleuchter herabhing. Der Diener kam zurück
und sagte, der Herr Baron müsse jeden Augenblick
zurückkommen, er habe hinterlassen, Herr Ansorge
möge bestimmt auf ihn warten.
Arnold nickte. Er stand am Fenster und blickte
ruhig auf die einsame Gasse hinab. Während er bemüht
war, einem bestimmten Gedanken Einlaß in
sein Gehirn zu verwehren, ertönte ein Klavier im
Nebenraum und ein wiegender Gesang, sehr gedämpft
durch die geschlossene Türe und die dicke Portiere.
Arnold ging zur Tür und lauschte. Es war eine
Mädchenstimme, welche die Tanzweise begleitete.
Lächelnd schob er die Portiere beiseite, drückte auf
die Klinke, öffnete behutsam und steckte den Kopf
vorsichtig in die Spalte. Die ältere Valescott saß
am Klavier und spielte mit einer müden, doch rhythmisch
schaukelnden Bewegung des Körpers. Das
brünette Haar, im griechischen Knoten lose gesteckt,
hing tief über den Nacken und gab der Gestalt von
rückwärts etwas Nachlässig-Verträumtes. Die andere
Schwester und noch ein sehr junges Mädchen tanzten
auf dem Teppich in der Mitte des Zimmers. Sie
hielten einander zag bei den Händen. Die ältere der
beiden war im Straßenkleid; die jüngste trug ein
Kostüm, kurzes lila Röckchen, zu den Knieen reichend,
violette Strümpfe und seidene Schuhe von der gleichen
Farbe. Das braune Haar war mit violetten Stiefmütterchen
bekränzt, und in der Hand trug sie einen
Strohkorb, dicht gefüllt mit denselben Blumen.
Diese erblickte zuerst Arnolds Kopf in der Türe.
Sie schrie und lief davon. Die Spielerin erhob sich
erschreckt, aber bald lachte sie mit der zweiten Schwester
im Verein. »Kommen Sie nur ganz, da Sie doch
einmal eingebrochen sind«, sagte die mittlere, welche
die gewandteste war. Die Älteste blieb still mit rückwärts
verschränkten Armen am Flügel stehen. In
ihrem Gesicht lag Sinnlichkeit und Selbstsucht, aber
ohne Frohsinn. Sie schien weder leichtsinnig noch
ernst. Ihre schlanke Gestalt machte den Eindruck der
Gesundheit, die aber durch irgendwelche einander entgegenwirkenden
Kräfte gestört wurde. Ein seltsames
Gemisch von Haltlosigkeit und dumpfem Eigensinn
war an ihr auffallend.
Arnold drückte beiden die Hand und sagte: »Nun
weiß ich noch nicht einmal Ihre Namen.«
»Raten Sie«, sagte die Älteste fast streng.
Er riet, – stellte sich ein wenig verschmitzt und
verzweifelt, bis die Mädchen ihm zu Hilfe kamen.
Felicia hieß die älteste, Dora die zweite und die
jüngste, die eben fortgelaufen war, Anastasia.
»Sind Sie denn allein zu Hause?« fragte Arnold.
»Mama und Franz wurden zu Tante Rochlitz gerufen«,
antwortete Dora. »Jedenfalls müssen Sie
auf Franz warten. Es ist sonst nicht üblich, auf diese
Art Herrenbesuche zu empfangen«, – sie lachte, –
»aber bei Ihnen wollen wir eine Ausnahme machen.«
Felicia, die sich wieder ans Klavier gesetzt hatte,
schlug leise einen Mollakkord an.
»Sind Sie eigentlich schon lange in Wien?« fragte
Dora, indem sie Platz nahm. »Erzählen Sie uns
doch etwas. Wir hören gern Geschichten.«
»Geschichten weiß ich nicht«, erwiderte Arnold.
»Dann erzählen Sie Wahrheiten oder Lügen oder
Träume.« Dora lachte.
»Es ist sehr schwer, nicht zu lügen, wenn man
Träume erzählt«, sagte Arnold. Er stockte, schwieg
und sah geradeaus. Ein sinnendes und sogar ein
wenig schwärmerisches Lächeln wich nicht von seinen
Lippen. Das gerade schien die Mädchen wunderbar
zu berühren. Dora blickte voll ernster Aufmerksamkeit
in sein Gesicht. Felicia hatte ein paarmal kurz
über die Schulter zurückgeschaut, nun legte sie die
Hände in den Schoß und lauschte. »Ich erinnere
mich«, begann Arnold, »einst hatte ich einen sonderbaren
Traum. Es waren zwei Pferde da ... grüne
Pferde. Auf einer Mauer stand geschrieben: diese
Pferde können sprechen. Eine Glocke hing über der
Mauer und sobald die Glocke tönte, machte das eine
Pferd sein Maul auf und sagte: wer reiner Hände
ist, mehrt die Kraft. Ich fürchtete mich, mir grauste
und ich lief davon. Aber damals verachtete ich
Träume.«
»Wo waren Sie denn da?« fragte Dora.
»In Podolin. Dort ist meine Heimat. Es ist ein
schmuckloses Land, eine Ebene, Wald, ein Hügel, ein
schmutziger Fluß. Aber wenn ich zurückdenke –!
Einmal, ich war siebzehn Jahre alt, passiert folgendes.
Ich liege im Wald, weitab vom Weg in der
Nähe der wilden Kapelle, wie sie genannt wird. Ein
ganz altes Weiberl kommt, schaut sich um, sieht mich
aber nicht und gräbt etwas in den Boden. Ich denke
nichts dabei, niemals dacht ich über etwas nach. Ein
paar Tage später heißt es, der Waldhofbäuerin ist
die Mutter Gottes im Traum erschienen und hat ihr
angezeigt, daß bei der wilden Kapelle ein wundertätiger
Rosenkranz vergraben ist. Am Sonntag strömen
Tausende aus allen Dörfern hinaus, die bucklige alte
Bäuerin voraus. Ein schreckliches Gedränge entsteht
bei der Kapelle, die Alte betet, dann gräbt sie und
gräbt mit bloßen Fingern die Erde, die tausend
Männer, Weiber und Kinder knieen hin, weinen,
beten und schluchzen und graben ebenfalls mit den
Händen in den Boden, als meine Alte ihren gefundenen
Rosenkranz in die Luft hält. Hunderte fallen
über sie her, reißen ihr die Kleider vom Leib, denn
sie ist jetzt eine Heilige, und jedes will seine Reliquie
haben. Die rohesten Bauern küssen sie, heulen und
sind zerknirscht. So ein Land ist das mit solchen
Menschen.«
Die Mädchen schwiegen. Felicia hatte sich umgewandt,
in vorgebeugter Haltung blickte sie anscheinend
ruhig zu Boden.
»Mademoiselle Dora!« rief eine krähende Stimme
vom Flur.
Dora erhob sich. »Die Französin«, sagte sie geringschätzig
und ging hinaus.
Arnold blickte Felicia an. Er trat vor sie hin und
fragte: »Warum spielen Sie nicht?«
»Was lieben Sie?« entgegnete das junge Mädchen,
indem es ihn mit prüfenden Augen ansah und die
linke Hand rückwärts auf den Haarknoten legte.
Auf einmal hatte Arnold sein Gesicht herabgebeugt,
und sie küßten einander hastig wie Verbrecher. Arnold
blickte trüb vor sich hin.
Achtundvierzigstes Kapitel
Valescott und die Baronin traten mit Dora ins
Zimmer. Der Leutnant zog Arnold sogleich beiseite
und fragte ihn, wozu er sich entschlossen habe.
Als Arnold seine Einwilligung gab, zu spielen, drückte
er ihm die Hand.
Der Diener kam mit zwei Karten auf einem Bronzeteller.
Die Baronin sagte, sie lasse bitten. Dann forderte
sie mit anmutiger Handbewegung Arnold auf,
ihr in das Empfangszimmer zu folgen. Dort begrüßte
sie die beiden Besucher, einen Herrn von Gröden und
den alten Baron Drusius. Der Tisch zum Tee war
gedeckt.
Die beiden jungen Mädchen saßen nebeneinander.
Drusius knackte wie immer mit seinen Fingern. Dora
starrte wie verzaubert auf seinen riesigen Kehlkopfapfel,
der sich beim Sprechen auf und abbewegte.
Herr von Gröden, der etwas beleibt war, ein dickes,
rundes Gesicht und freundliche, höflich-aufmerksame
Augen hatte, wandte sich zuvorkommend an Arnold.
»Herr Ansorge, – wenn ich recht verstanden habe –?«
sagte er. »Haben Sie Verwandte dort oben in Mähren
in ... Podolin?«
»Nein, aber ich selbst bin dort zu Hause«, erwiderte
Arnold.
Herr von Gröden räusperte sich. »Ich war drei
Jahre lang Gerichtsadjunkt in der Nähe, in Lomnitz,
Sie werden das Nest kennen.«
»Ja, es ist ein altes Dorf«, erwiderte Arnold.
»Gott verzeih mir«, fuhr der junge, behagliche
Mann mit einem Aufschlagen seiner Augen fort, »es
war eine schreckliche Zeit. Nichts als Bauern und
Juden und langweilige Kommissionen. Sagen Sie,
Herr Ansorge, Sie erinnern sich doch an die Affäre
mit dem Juden Elasser –? Sind Sie es vielleicht
selbst, der damals, wie soll ich sagen, so starken Anteil
daran genommen hat? Sind Sie es selbst?«
»Jawohl«, erwiderte Arnold.
»Das ist mir ein Rätsel«, fuhr Herr von Gröden
mit aufrichtigem Erstaunen fort. »Es ist ja schon
ziemlich lange her, ich erinnere mich nicht mehr genau,
ein Lehrer dort namens ... namens ...«
»Specht?«
»Ganz recht! Specht! Dieser Specht hatte mir
von Ihnen erzählt.«
Alle blickten auf Arnold.
»Warum ist Ihnen das ein Rätsel?« entgegnete Arnold,
der sich ein wenig verfärbt hatte. »Es handelte
sich doch um öffentlichen Raub –?« Er heftete den
Blick streng und erwartungsvoll auf den jungen Mann.
»Ja, ja, ja! ganz gewiß, natürlich«, sagte Herr
von Gröden bereitwillig, »aber immerhin, das verrottete
jüdische Gesindel muß ein wenig gepeitscht
werden. Sie müssen mir doch zugeben, daß diese
Leute nicht unserer differenzierten Empfindung zugänglich
sind. Das Mädchen wird es im Kloster
tausendmal besser haben, als in dem Stall, in dem
sie aufgewachsen ist. Der ganze Lärm, den man
deshalb aufgeschlagen hat, war doch nur eine verabredete
Komödie. Sie müssen doch zugeben –«
»Ich gebe nichts zu«, unterbrach ihn Arnold. »Wie
können Sie so sprechen, Sie, ein Jurist, ein Diener
der Regierung? Als ich zum erstenmal davon hörte,
ich glaubte zu sterben vor Scham. Ich sollte das
gewiß nicht sagen, denn solche Worte sind eben Worte.
Aber wie können Sie es entschuldigen? Kein Mensch
darf das wagen, der selbst darauf angewiesen ist, daß
man gerecht gegen ihn ist. Denken Sie doch nach.
Alles beiseite gelassen, Jude und Kloster, Ihre Verachtung,
oder Ihre Bequemlichkeit zu urteilen, so
bleibt doch eine so ungeheure Versündigung übrig,
daß kein Gedanke sich daran gewöhnen kann. Ich
konnte damals nichts davon begreifen, die ganze Welt
brach zusammen wie unter einem furchtbaren Fußtritt.
Man raubt ein Kind, man will es zwingen,
die Religion zu verlassen, die mit ihm geboren ist,
was für eine Religion, das ist doch gleichgültig, und
nichts geschieht, keine Gerechtigkeit gibt es, das
Recht wird böswillig erstickt. Und Sie reden von
Komödie!«
Arnold hatte den Kopf erhoben, und der Ernst
seiner Worte war mit dem Gefühl der Erleichterung
verbunden, welche ihm dieser Ausbruch verschaffte.
Drusius klopfte ihm auf die Schulter. »Wacker«,
sagte er, »ein wackeres Wort. Ich hab es immer
gesagt, der hat Fleisch und Blut. Redet wie der
Teufel!« Er lachte, und dies Lachen wirkte befreiend
auf die unbehagliche Stimmung der Baronin. Sie
reichte Arnold die Hand über den Tisch und sagte
mit verbindlichem Lächeln: »Sie haben mir aus
dem Herzen gesprochen.«
Herr von Gröden antwortete nicht; nach einiger Zeit
erhob er sich und nahm ziemlich verstimmt Abschied.
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte die Baronin zu
ihren Töchtern, »die Oper beginnt um halb sieben.
Herrn Ansorge macht es vielleicht Vergnügen, mit in
unsere Loge zu kommen –?«
Arnold verbeugte sich dankend, und sagte, es würde
zu spät werden, bis er sich umgekleidet hätte. Aber
der Leutnant drängte ihn und erbot sich, ihn zu begleiten.
Valescott plauderte auf dem Weg durch die Straßen
von allem möglichen. Er war äußerlich von sehr angenehmer
Wirkung, hübsch, außerordentlich gepflegt
und besaß eine angeborene Liebenswürdigkeit. Schließlich
erzählte er Weibergeschichten. »Am liebsten hab
ich mit verheirateten Frauen zu tun«, sagte er kühl
und wissenschaftlich, »es ist oft gefährlich, gewiß, aber
in den meisten Fällen bequem. Sie werden ja die
Erfahrung selbst gemacht haben. Der Aufwand an
Gefühl steht in einem vollkommen richtigen Verhältnis
zu dem, was an Gefühl verlangt wird.«
Arnold berührte die Schamlosigkeit dieses Geständnisses
erstaunlich. Er blieb plötzlich stehen, als ob er
etwas erwidern wollte. Er dachte an das heutige
Gespräch mit Specht und den Rücken hinab rieselte
etwas wie ein kalter Wassertropfen. Aber er schwieg.
Es war noch nicht lang genug her, daß er eine entrüstete
Rede vom Stapel gelassen hatte. Er hatte
Eindruck damit gemacht. Jemand hatte ihm auf die
Schulter geklopft und hatte gesagt: ein wackeres Wort.
Entrüstung, Zorn, Empörung – kleine Aderlässe für
das überströmende Herz. Er schwieg, er schwieg.
Man konnte nicht schon wieder, man konnte nicht
zweimal hintereinander den Moralisten machen. Man
wäre lächerlich erschienen, und nur nicht lächerlich
werden, alles nur das nicht.
Aber Arnold war aufrichtig betrübt. Er zog mit
großer Eile seinen Frack an, um keine Zeit zu verlieren,
aber er war so betrübt, daß er falsche Knöpfe
in das Hemd steckte und sich trotz des Eilens noch
zwei Minuten lang niedersetzte, um nachzudenken.
Gegen das Ende des ersten Aktes kamen sie in die
Oper. Als Arnold seine Blicke über die Reihe der
geschmückten Damen schweifen ließ, die an den
Brüstungen der Logen saßen, empfand er wieder
jenes berauschende Machtgefühl eines Menschen, der
zu besitzen erhoffen kann, was immer sein frechster
Traum umspannt.
Er lernte Leute kennen, welche kamen, um die
Baronin während der Pausen zu besuchen. Er bemerkte
wohl, daß er Eindruck machte. Er mühte sich,
herauszufinden, welche Eigenschaften es denn eigentlich
seien, durch die er eroberte. Um nicht zu verlieren,
was ihm einmal gehörte, beobachtete er sich
und hielt sich fest im Zaum. Daß er sich gegen Felicia
hatte hinreißen lassen, bereute er, denn er fand es
unwürdig, mit einer lebendigen Seele zu spielen.
Aber sie, sonderbar, auch sie zog sich zurück und das
ärgerte ihn. Er hatte ihr imponiert durch seine
Heiterkeit und eine gewisse liebenswürdige Vertieftheit,
die sie nie zuvor an irgend einem Mann bemerkt.
Aber ihr Herz war ohne Halt.
Arnold trank von seinem Becher. Die Tage erwiesen
sich als zu kurz, die Nächte ebenfalls. Wie
reich erschien ihm das Leben! Er geriet in Bestürzung,
wenn er überlegte, wie wenig auch bei der
günstigsten Fügung von diesem Reichtum für ihn abfallen
konnte.
Gegen Ende der Woche schrieb ihm Borromeo
wegen der schwebenden Kapitalsangelegenheit. Er
bat Arnold in sein Bureau. Arnold verschob es zwei
Tage lang, dann nahm er einen Wagen und fuhr
hin. Durch einen düstern Flur kam er in ein großes,
gewölbeartiges Zimmer mit plumpen Möbeln und
hohen Regalen, in denen die Bücherreihen pedantisch
geordnet standen. Unbefangen setzte sich Arnold in
einen lederbezogenen Sessel, Borromeo gegenüber,
dessen Bart heute besonders steifgebügelt schien, während
die Lippen fahl wie Sand waren. Arnold fühlte
seine Stärke, seinen Frohsinn, sein Vertrauen in dem
finsteren Gewölbe doppelt. Da geschah das Grausige,
daß nach den ersten Worten, die Arnold geredet, ein
heftiger Donnerschlag ertönte. Arnold hatte nichts
von einem Gewitter am Himmel gesehen, in Sekunden
mußte sich das Wetter geballt haben. Er hörte Spechts
Worte wie ein Echo des Donners in seinem Innern:
»Eine unheimliche Parallelgeschichte, wie Sie bald
sehen werden ...« Auch damals war ein Gewitter,
als ich zu Hanka kam, dachte Arnold.
»Sechs Prozent ist ja eine sehr hohe Verzinsung«,
sagte Borromeo, nachdem er flüchtig gegen das Fenster
geschaut und dem Verrollen des Donners nachgelauscht
hatte, »aber bedenke, was du dabei riskierst.
Ich habe mich erkundigt, – man zuckt die Achseln.«
Arnold nahm sich zusammen, fest zusammen, wie
selten zuvor. Soll ich reden? dachte er und wußte
doch schon, daß er nicht reden würde. Er blickte auf
den schwarzen Bart Borromeos und erwiderte: »Die
Konjunktur ist aber günstig. Das Unternehmen hat
jetzt gute Aussichten. Das übrige ist Sache des Glücks.«
Damit war der Betrug entschieden. Die Elemente
hatten keine Macht mehr über Arnold.
Neunundvierzigstes Kapitel
Kaum hatte Natalie Osterburg von der Veranstaltung
des großen Blumenfestes gehört, als sie,
von einer schwindelnden Aufregung ergriffen, alles
Denkbare unternahm, um eine Rolle dabei spielen
zu dürfen. Es gelang ihr, der Fürstin-Protektorin
vorgestellt zu werden, ein paar leutselige Worte zu
erwischen und beglückt eilte sie nach Hause. Sie sollte
zusammen mit zwei adligen Damen ein Verkaufszelt
für Zuckerwaren erhalten.
Noch die Türe in der Hand, rief sie atemlos:
»Petra, denk dir –!« Und sie erzählte. Aber Petra
zeigte sich nicht besonders gerührt von den Erfolgen
der Schwester. Sie hielt Natalie vor, daß es unrecht
sei, bei der täglich schlimmer werdenden Krankheit
der Mutter an Vergnügungen zu denken. Petra
hatte Pflichtgefühl.
Natalie hatte kein Pflichtgefühl. Sie war von
allen Wärmegraden abhängig, welche die Luft der
Gesellschaft erzeugt. Ihre Ehe, ihre Kinder, ihr
Haushalt, alles war für sie eine niedliche, bald unterhaltende,
bald langweilige Spielerei.
Ihre Sinne waren jetzt nur auf das Blumenfest
gerichtet. Für nichts anderes hatte sie Teilnahme.
Sie war nur besorgt, ob das Wetter schön bleiben
werde, und jeden, bis zum Bäckerjungen und zur
Milchfrau ersuchte sie um ausführliche Meinung darüber.
Sie bezog das ganze Weltall auf das Gelingen
ihrer Wünsche.
So rückte der Tag heran. Die Schneiderin kam
um elf Uhr morgens und sofort begann Natalie sich
anzukleiden. Es war ein Empirekleid aus blauer
Seide, kunstvoll mit Veilchen bestickt. Es floß wie
Paradieseshauch um die zarten Glieder Natalies. Um
zwölf Uhr kam die Friseurin. Sorgsam zusammengesteckte
Veilchen wurden in das dunkle Haar verwoben.
Um den Hals legte Natalie eine goldene
Kette, an welcher über der Brust ein rundes Medaillon
mit einem schönen Edelstein befestigt war.
Dann die langen Handschuhe, deren Zuknöpfen eine
Viertelstunde dauerte, und so, blauseidene Schuhe
und blauseidene Strümpfe an den Füßen, trat Natalie
in das Krankenzimmer der Mutter, wo ihr Mann und
Petra mit Kartenspielen beschäftigt waren.
Frau König lag im Bette und trank Sauerstoff
aus einem großen Ballon, welchen die Wärterin hielt.
Sie ließ beim Eintritt Natalies das Saugrohr sinken
und ihr Gesicht wurde durch ein zärtliches Lächeln
nicht verschönt, sondern entstellt. »Natalie, mein Kind,
du gehst zum Vergnügen. Recht hast du«, sagte sie, und
ihre Stimme glich einem rauhen Krächzen. »Auch ich
war vergnügt in deinem Alter. Und du, Petra, mein
Kind, wirst zu Hause bleiben bei deiner armen Mutter?
Recht so. Sie ist ein philosophisches Kind, meine
Petra. Sie war immer überlegt und taktvoll.«
»Sprich nicht so viel, Mama«, sagte Petra stirnrunzelnd.
Natalie stand beschämt und ärgerlich da wie ein
Sänger, der bemerkt, daß er vor tauben Ohren singt.
»Glaubst du, daß das Kleid zu tief ausgeschnitten ist?«
fragte sie ihren Mann.
»Meine liebe Natalie«, erwiderte Osterburg rauflustig,
»ich habe andere Sorgen, das kannst du mir
glauben. Ich weiß nicht, ob irgend ein Mensch in
der Welt je solche Schmerzen gelitten hat wie ich –«
Er rieb sein Knie. »Du bist eine leichtsinnige Frau«,
fuhr er wütend fort, »ich traue mich nicht eine Zigarre
zu kaufen und du –« Alle starrten ihn entsetzt an.
Er schwieg zerknirscht, beobachtete einen Augenblick
die Wärterin und begann plötzlich französisch zu reden,
wobei jedoch das Wort alors die Hauptrolle spielte;
mehr war kaum zu verstehen.
Frau König verfolgte mit stillem Haß dies Gespräch.
Sie glaubte weder an ihre Krankheit noch
glaubte sie, daß sie je würde sterben müssen. Daß
sie so liegen mußte und Sauerstoff atmen, schrieb sie
einem Zusammenwirken boshafter Umstände zu, und
sie haßte die eigenen Kinder, wenn sie ihr allzudeutlich
zeigten, was es heißt, mitzuleben. Es gab nur
einen Menschen, dem sie Vertrauen entgegenbrachte,
das war der Arzt. Wenn sie sich in seiner Gunst festsetzte,
so glaubte sie den Tod machtlos. Krampfhaft
klammerte sie sich an das Leben wie sie es verstand:
daß man in der Frühe gemütlich Kaffee trank, dann
die Klatschereien hörte, mit Behagen beim Mittagstisch
saß, nachmittags in die Geschäfte oder in den
Prater fuhr, abends wohlgelaunt im Kreis der Familie
sich unterhielt, um dann zehn Stunden fest und
tief zu schlafen, zwei Gläser mit Wasser auf dem
Nachttisch. So hätte sie es gern ein paar tausend
Jahre lang getrieben.
Mit klopfendem Herzen setzte sich Natalie in den
Wagen und gelangte noch zu früher Stunde in den
festlich geschmückten Park des Belvedere-Schlosses.
Befangen blickte sie umher. Sie sah nicht den
blauen Himmel, nicht das grüne Laub, nicht die
Blumenkränze, die sich von Baum zu Baum spannten,
nicht die Wasserkünste, die langen Reihen der
Verkaufszelte, die neugierigen Menschen; ihr war
alles ein unbefriedigender Spiegel für ihre eigene
geschmückte Person, und sie lächelte, lächelte wie im
Schlaf, wußte kaum, daß sie ging, wo sie stand, was
sie sprach und was zu ihr gesprochen wurde. Ihr
kleines Herz war leicht und lustig, und nicht mehr
sah daraus das gefesselte Seelchen wie durch Gitterfenster
in die Welt. So hätte es auch Natalie gern
tausend Jahre lang gehabt.
Sie trank braunen, eisgekühlten, süßen Kaffee und
weißschaumige Torte, beantwortete mit demselben
inhaltlosen, seligen Lächeln die Fragen eines jungen
Adeligen, der wie ein Backfisch aussah und eigentlich
auch nichts anderes war. Sie verkaufte eine Nichtigkeit
und erhielt eine Banknote dafür. Anna Borromeo
kam, um Natalie zu begrüßen. Sie hatte eine Glückslotterie
zusammen mit zwei Hofschauspielerinnen. Sie
trug ein Kleid, weiß wie Jasmin, mit schweren, griechischen
Falten, über den Hüften durch einen kostbaren
mit fünf Smaragden besteckten Gürtel zusammengehalten.
Das rotgoldne, kronengleiche Haar
gab der Gestalt etwas Königliches, das durch das
bleiche Gesicht und den bleichen, unter bläulichen
Blutgefäßen vibrierenden Hals verstärkt wurde.
»Wo ist Herr Ansorge?« fragte Natalie und ihr
neugieriges Kindergesicht drehte sich mit einem Ausdruck
der Verzagtheit und des Neides der schöneren
Frau zu. Anna Borromeo deutete auf einen Seitenweg,
wo Arnold im Gespräch mit den Valescotts
stand. Er verbeugte sich aus der Ferne vor Natalie.
Gequält musterte Natalie die beiden Valescottschen
Damen, deren einfache Kleidung sie mit Besorgnis
erfüllte. Arnold kam herüber und sagte: »Sie
sind schön, Frau Natalie«, und diese Worte genügten,
sie zur Zufriedenheit und Menschenliebe zu
stimmen. Sie versuchte auch nicht, etwas dagegen
einzuwenden, sondern wurde rot bis zu den Schultern
herab.
Bald war ihr rosenbekränztes Verkaufszelt dicht
umdrängt. Gräfinnen, Fürstinnen kamen, mit Natalie
ein freundliches Wort, einen Gruß zu tauschen, ein
Erzherzog blieb stehen und ließ sich die anmutige
Dame vorstellen, junge Kavaliere näherten sich dienstbeflissen.
Sie sprühte von Geist; die Triumphe betäubten
ihr Herz. Sie kam sich vor wie eine fremde
Prinzessin, die, lange verkannt, endlich die ihr gebührenden
Ehren empfängt.
Drei Musikkapellen spielten, auf drei Plätze des
Gartens verteilt. Sich auf den Zehen wiegend,
lauschte Natalie entzückt einem Walzer, als sie unter
dem Menschenstrom, der sich heranwälzte, ihren Mann
bemerkte, dessen Augen hastig unter den Zeltdächern
umherblickten. Dieser düstere, unheilvolle Blick ihres
Gatten berührte wie ein eisiger Anhauch Natalies
Stirn und Wangen. Sie hatte vollständig vergessen,
daß sie mit diesem Menschen verheiratet war, und ihn
gerade jetzt zu sehen, war ihr wie ein Peitschenschlag.
Als Osterburg sie gewahrt und sich zu ihr durchgedrängt
hatte, sagte er: »Natalie, komm nach Hause,
deine Mutter ...«
Natalie seufzte leise und schwer. Ihr war, als
würde sie plötzlich blind vor Schrecken. Ihre Augen
füllten sich mit Tränen; sie rührte sich nicht von der
Stelle.
»Du mußt kommen«, drängte Osterburg, während
er zu gleicher Zeit neugierig und begehrlich um sich
blickte. »Die Mutter hat einen furchtbaren Anfall ...«
»Es ist sicher nicht ärger als sonst«, erwiderte Natalie
vorwurfsvoll. »Nur noch bis der Kaiser kommt, laß
mich hier.«
Osterburg hätte sehr gern eingewilligt, denn er fing
an, mit dem festlichen Treiben sich zu befreunden und
zu vergessen, was ihn hergeführt. Aber Natalies erwachtes
Gewissen rief. Mit zitternden Händen warf
sie ihren Umhang um die Schultern. In ihrem verwirrten
Herzen zürnte sie der Mutter.
Eifrig begegnete ihnen Arnold auf einem der
Wiesenwege, die schneller zum Ausgang führten.
»Wohin? wohin?« rief er.
Natalie schluchzte wie ein Kind.
Arnold schaute Natalie bestürzt nach. Dann bahnte
er sich durch die immer dichter werdende Volksmenge
einen Weg zum Zelt der Valescottschen Damen, welche
Lose feilboten, und zwar kam auf alle Lose nur ein
einziger Treffer, eine goldene Chrysantheme.
»Was zahlt man für ein Los?« fragte Arnold, vor
das Zelt tretend.
»Das steht bei Ihnen«, erwiderte Dora.
Er warf fünf Gulden auf das Brett und zog lachend.
Es war nichts. Zum zweiten und dritten Mal, ohne
Erfolg. Er entnahm einen Hundertguldenschein der
Brieftasche und wählte dafür zwanzig Lose. Von
allen Seiten kamen Neugierige und stellten sich hastig
drängend in engem Halbkreis auf. Hinter den Zelten
wurden die Damen des Festes und mehrere Herren
sichtbar. Anna Borromeo verlor keine Bewegung
Arnolds aus den Augen. »Ich habe kein Geld mehr«,
sagte Arnold und blickte sich um. »Aber Kredit, so
viel Sie wollen!« rief Dora. Er nahm lachend zwei
Hände voll Lose und schrieb einen Schuldzettel über
fünfhundert Gulden. »Bravo Narziß!« rief Valescott,
der ebenfalls zwischen die Zelte getreten war; die
Damen klatschten in die Hände, und einige waren
ihm behülflich, die Röllchen zu öffnen. Die Leute
drängten sich näher. Arnold griff nach beiden noch
gefüllten Schalen, schwenkte sie in den Armen und
warf den leicht fliegenden Inhalt über die Köpfe der
Leute hinweg. Unzählige Hände streckten sich aus,
und in beängstigender Kreiselbewegung drehte sich
die ganze Masse um sich selbst. Mitten in das
tolle Wesen erschallte der Ruf: »Der Kaiser! Der
Kaiser!«
Die Musikkapellen traten zusammen und spielten
die Hymne, Soldaten schoben die Menge auseinander,
und es bildete sich eine Gasse, durch welche von fern
der Kaiser herangeschritten kam. Ein Schauer fuhr
Arnold durch den Körper. Wie in einem früheren
Dasein sah er sich selbst, mit törichten Erwartungen
auf die damals so ferne Gestalt des Monarchen
blickend. Nun stand der Fürst kaum fünf Schritte
weit, nickte lächelnd und ging vorüber, durch das
schweigende Volk.
Es wurde Abend. Auf der Balustrade am oberen
Ende des Gartens war Feuerwerk.
Die Buden wurden geschlossen, und die vornehme
Welt versammelte sich im Schloß, um die Tänze und
lebenden Bilder zu sehen. Arnold stand unter den
Bäumen und blickte still in den Lichterglanz des
Gartens.
Hier war es dunkel, und er wollte ein wenig zu
sich selbst kommen. Aus der Ferne kam das alberne
Klappern der Musik und das Geschrei der Menschen,
des »Volkes«, wie Baronin Valescott bedeutsam sagte.
Arnold zuckte zusammen. Zwei Arme hatten ihn von
rückwärts umfaßt, und eine Stimme flüsterte: »Schon
lange, schon lange lieb ich dich.«
Als er sich umwandte, ließen ihn die Arme los,
ein weißes Kleid rauschte durch das Laub, die Gestalt
wandte sich noch einmal um und an einem goldenen
Gürtel blitzten Smaragde im Schein einiger
verirrter Lichtstrahlen.
Arnold senkte den Kopf und blieb gedankenlos
lächelnd stehen. Wohl ahnte er, wer ihn umfangen
hatte, doch er erstickte das Nachdenken. Denn sonst
hätte er niederstürzen müssen ins Gras, um Gott zu
bitten, daß er ihn flüchten lasse oder die Seele in
einen stärkeren Körper presse. Er hob seine Augen
eine Sekunde lang demütig zum Himmel.
Fünfzigstes Kapitel
Die Tage schlichen gleichmäßig vorüber. Arnold
machte viele Besuche, aber selten vermochte ihn ein
Gespräch zu fesseln. Ein paarmal suchte er Hyrtl auf, der
ihn liebte und ihn auf jede Weise an sich zu binden suchte,
aber der kränkliche Mann erregte seinen Widerwillen.
Er nahm an den Zusammenkünften einer Anzahl
von Schauspielern und sonstigen Theaterleuten teil,
trieb sich nächtelang umher und machte sich die unwahre
Lustigkeit dieser Menschen zu eigen. Er übte
wie jeder Kritik an jedem und urteilte schlecht über
den, dem er soeben vertraut. Seine tieferen menschlichen
Eigenschaften, seine Entschiedenheit, die witzige
und lebhafte Art, durch die er im Sprechen selbst das
Gewöhnliche zu adeln schien, verschafften ihm Ansehen
und er wurde für eine ursprüngliche Natur
erklärt. Aber auf dem Gipfel seiner Erfolge schüttelte
er diese Anhänger von sich ab und kehrte auf die reinlichere
Schwelle der guten Gesellschaft zurück. Er
wollte unterbrochene Arbeiten vollenden, aber sein
Herz war unruhig wie eine Maus in der Falle.
Wünsche traten an die Stelle der Pläne. Leere
Verabredungen trieben ihn auf, er folgte ihnen gehorsam,
ging hin, war gesprächig, unternehmungslustig,
teilnehmend und sorglos. Aber die Not wurde
größer; er machte Reisepläne und verwarf sie wieder
in der Befürchtung, Wichtiges zu versäumen. Die
Welt lockte ihn, sobald er die Augen schloß; offenen
Auges stieß sie ihn ab. In seinem Innern entstanden
Zänkereien wie unter den Parteien eines Hauses.
Ungesammelt begann der Tag, ungesammelt endigte
er. Jede Kraft erwies sich nun als verderblich, auch
die der Selbstbeherrschung, denn sie nötigte zur
Heuchelei. Mitten in einer Nacht erhob sich Arnold
aus dem Bett und begann den Aufenthalt in diesen
Räumen widerwärtig zu finden. Er beschloß Hanka
aufzusuchen, den er seit Wochen nicht gesehen hatte.
Kaum war es Tag geworden, so führte er seinen
Vorsatz aus.
Im Hotel erhielt er die Auskunft, daß Hanka nicht
mehr dort wohne, sondern ein Logis im dritten Bezirk
bezogen habe. Er nahm einen Wagen und fuhr
hin. Die Köchin sagte, der Herr Doktor schlafe noch.
»Wecken Sie ihn nur auf«, erwiderte Arnold, »es ist
elf Uhr. Sagen Sie ihm, ein Freund sei da.«
Hanka räkelte sich im Bette, als Arnold eintrat,
und fragte: »Nun, mein Teurer, was führt Sie
zu mir?«
»Ich wollte mich nur überzeugen, ob Sie noch
am Leben sind«, antwortete Arnold und nahm
neben dem Bett Platz. »Weshalb machen Sie
sich unsichtbar? Warum sind Sie nicht zu mir gekommen?«
Hanka richtete sich ein wenig empor und stützte den
Kopf auf den Arm. »Es ist kein gutes Zeichen für
Ihr geistiges Wohlbefinden, daß Sie gerade mich
suchen«, sagte er.
»Unsinn«, versetzte Arnold. »Stehen Sie auf und
reden wir vernünftig.«
Hanka lachte, sprang aus dem Bett, streichelte mit
kläglichem Gesicht seine dünnen Beine und fuhr schlotternd
in die Unterhosen. »Was treiben Sie?« orgelte
seine tiefe Stimme. »Haben Sie noch immer so
großen Lebensappetit?«
Arnold deutete auf ein Ölbildnis an der Wand und
fragte: »Wer ist das?«
Hanka wusch sich und entgegnete prustend: »Das
ist ein Mann, der früher oder später wahnsinnig
werden wird.«
»Und deshalb hängt sein Bild hier?«
»Jawohl. Für den Einbeinigen ist es eine Erquickung,
jemand zu sehen, der gar keine Beine hat.
Darauf beruht alle wahre Zufriedenheit.«
Sie gingen zusammen zum Essen, saßen im Kaffeehaus,
blieben den Abend über beieinander und trennten
sich erst in der Nacht.
Hanka sah wohl, daß Arnold gleichsam als Bittsteller
zu ihm komme. Er bittet mich um meine
Zeit, dachte Hanka, und wirklich, mit diesem Gegenstand
kann ich verschwenderisch sein, aber je mehr ich
ihm davon geben kann, je ärmer wird er daran werden;
ein sonderbares Rechenexempel.
Hanka wollte allein gehen. In jeder Beziehung
zwischen Menschen sah er das Ende voraus und fürchtete
es. Er sah das liebevollste Gesicht zu Haß und
Würdelosigkeit verzerrt, und die Schönheit atmete ihm
schon Fäulnis entgegen. Ihm hätte es gedient, in
einer wandellosen Welt zu leben, in welcher das
Wasser nicht die Erde höhlt und nicht der Freund
einst zum Verleumder werden wird. Er lebte in
allem was verdarb, was sich zum Tod neigte und
an den Gesetzen der Veränderung teilnahm. Er sah
das Wasser schon als Wolke, die Wolke als Regen.
Keine Bewegung, kein Lächeln, kein Entschluß, der
nicht den Lauf der Schicksale unterbrechen und verwandeln,
keine Speise, kein Trunk, kein Härchen des
Körpers, welches nicht auf seine besondere Weise das
Ende bringen konnte.
Seine Logik war grausam, sein Scharfblick unbestechlich
und sein Wissen profund. Dem grenzenlosen
Schweifen unreifer Empirie setzte er die Formel
entgegen, und zu anderer Zeit stieß er alles
Lehrwerk wie morsche Hölzer beiseite und trat in den
lichten Raum der Anschauung und der Idee.
Arnold kämpfte hier vergebens um Freundschaft.
Er begann Hanka dunkel zu hassen. Er verlegte sich
auf den leeren Widerspruch, auf eine scheinbare Verachtung
von Hankas enger Sachlichkeit, und wie furchtbar
war es ihm in manchem Augenblick zumut, wenn
er ahnen mußte, daß er um etwas ganz anderes stritt,
als was er vorgab. Er beneidete Hanka um die ruhige
Überlegenheit, und mit formloser und zaghafter Begierde
suchte er nach Mitteln des Sieges, irgendwelchen
Sieges, um jeden Preis; er fürchtete sich
vor der stummen Kritik in Hanka, wie er sich vor
sich selbst, vor der Welt, vor der Vergangenheit und
vor der Zukunft fürchtet. Eines Tages sah er bei
Hanka in der Ecke des Schreibtisches eine kleine
Pappendeckel-Tafel, auf welcher in Hankas Schrift
die Worte standen: »Precaria salus: ich durchschritt
die Pforten des Todes, ich betrat die
Schwelle der Proserpina, und nachdem ich durch
alle Elemente gefahren, kehrte ich zurück. In der
Mitte der Nacht sah ich die Sonne in ihrem hellsten
Schein.«
Arnold las es und fragte ironisch: »Was ist das
für ein Geschwätz? Schämen Sie sich nicht, solche
Dunkelmeierei zu treiben?« Er nahm den Pappendeckel
und ließ ihn geringschätzig fallen.
Hanka erwiderte ebenso bedächtig wie nachsichtig:
»Das ist ein Spruch aus den Isis-Mysterien, mein
Teurer.«
Nicht die Antwort oder der Ton bewirkte eine Veränderung
in Arnold, so daß er schweigend zum Fenster
trat. Nur Hankas Blick hatte ihn getroffen, groß,
fragend, sehr erstaunt: was kann dich berechtigen, in
mein Leben einzugreifen? nicht zu billigen, was ich
denke –? fliehst du vielleicht aus dir, wunderlicher
Mensch, und willst dich in einer fremden Wohnung
niederlassen?
Als Arnold nach Hause kam, fand er einen Brief
von Hyrtl. »Vergessen? gänzlich vergessen?« schrieb
Hyrtl. »Vor einigen Tagen dachte ich wieder an Sie,
und nun kann ich Sie nicht wieder loswerden. Kommen
Sie doch! Ich darf nicht ausgehen. Kommen
Sie heute Abend. Ich bin gänzlich verlassen, sitze
zu Hause und bin übel dran. Das beste Backwerk
Europas laß ich für Sie herrichten, und wenn Sie
nicht reden wollen, können Sie bei mir auch schweigen.
Nur kommen sollen Sie. Ich habe seit Monaten
keinen wirklichen Menschen gesehen und bin allein.
Bald wird es mit mir zu Ende gehen. Ihr Hyrtl.«
Gleichgültig warf Arnold das Schreiben beiseite.
Dies weibliche Werben erregte seinen Abscheu. Er
versuchte zu lesen, warf aber bald das Buch wieder
weg, nahm Hut und Stock und ging ins Kaffeehaus.
Doch auch hier hielt es ihn nicht lange. Die Straße
lockte ihn. Langsam schlenderte er durch die Dämmerung,
kehrte aber bald nach Hause zurück, denn zum
Abendessen erwartete er Hanka. Oben auf der Treppe
stand der eine Diener und murmelte mit zerknirschtem
Gesicht: »Gnädiger Herr, es ist etwas passiert.« Arnold
sah ihn von oben bis unten an; der junge Mensch
ging voraus und öffnete die Türe zu dem Raum,
worin der Antinous sich befand. Die Statue lag auf
der Erde; der Kopf war gegen das Fenster gerollt
und der linke Arm, ebenfalls abgebrochen, lag mit
seiner schönen Geberde neben dem Leib. Es erwies
sich, daß die beiden Diener während seiner Abwesenheit
sich in jenem Zimmer mit Raufen vergnügt
hatten. Sie waren an die Statue gestoßen und mitsamt
der Figur zu Falle gekommen. Arnold sagte
den zwei Leuten den Dienst auf und setzte sich dann
traurig vor die Trümmer. Als Hanka kam, hoben
sie zusammen den Rumpf empor und untersuchten
die Bruchstellen. Hanka sagte, das Unglück sei nicht
groß, es lasse sich mit geringen Kosten wieder gutmachen,
aber ihn belustigte Arnolds Niedergeschlagenheit.
»Seit wann lieben Sie denn die toten Dinge
so sehr?« fragte er etwas ungeduldig.
Einundfünfzigstes Kapitel
Sie gingen in das Speisezimmer. Während des
Essens erzählte Hanka, daß ihm der Verkauf
seines Hauses, seiner Wertgegenstände, die Vereinfachung
seiner Lebensweise nicht viel genützt habe.
Er habe noch Schuldverpflichtungen im Betrag von
fünfzehntausend Gulden. Außerdem stehe noch die
Zahlung an seine frühere Gattin aus, und da dürfe
er nicht lange zögern, schaltete er bitter ein, wo die
Moralität eine Geldfrage sei. Er schrecke davor zurück,
sich an seine Schwester Agnes zu wenden, die sich auf
dem Wege der Genesung befinde und durch die leiseste
Andeutung seines Ruins in ihrer schwachen Natur erschüttert
werden könne.
Arnold hörte mit halbem Ohr zu. Nach einem
neuen Gesprächsstoff suchend, erinnerte er sich an
Hyrtls Brief und gab ihn Hanka. Der las ihn zweimal,
betrachtete das Papier von allen Seiten und
fragte endlich: »Weshalb sind Sie nicht zu ihm gegangen?«
Arnold zuckte die Achseln. »Der Mann lügt«,
sagte er kalt. »Nicht der Tat nach, sondern dem
Gefühl nach.«
»So lügt man nicht«, antwortete Hanka kopfschüttelnd.
»In früherer Zeit bin ich oft mit Hyrtl
beisammen gewesen, meist durch Natalie Osterburg.
Er ist ein gutmütiger Mensch.«
»Hyrtl freut sich seiner Wehleidigkeit«, sagte Arnold
lebhaft, »er würde mit Vergnügen sterben, wenn
er den Eindruck seines Todes erleben könnte.«
Hanka schmunzelte, schaute aber Arnold ziemlich
überrascht ins Gesicht.
»Sie sind ja ein Psycholog«, erwiderte er. »Aber
das ist eigentlich nicht die rechte Art. Ich meine,
diese Art, ein Urteil zu bilden und einen Menschen
für alle Zeiten abzufertigen. Nein, das ist nicht gut.«
Arnold wollte etwas entgegnen, doch es läutete
draußen, und darnach kam der Diener und meldete
Herrn Hyrtl. Arnold und Hanka sahen einander an.
Mit steifen Schrittchen trat Hyrtl ein. Er reichte
beiden die Hand und setzte sich. »Kinder, wenn ihr
wüßtet, was es heißt, allein zu sein!« sagte er mit
einem Seufzer, welchem er etwas Scherzhaftes beizumischen
versuchte. »Man sieht Gesichter in der
Luft, die Wände schrumpfen zusammen, das Zimmer
wird bodenlos.« Hyrtls Augen lagen tief und
irrten angstvoll in den Höhlen, und auf der Stirne
brach beständig Schweiß hervor, den er mit dem
Taschentuch von Zeit zu Zeit abwischte. Hanka hörte
nicht auf, ihn zu betrachten; bisweilen warf er einen
hastigen Seitenblick auf Arnold, der schweigend den
Rauch einer Zigarre in dünnen Kegeln emporblies.
»Und wie geht es Ihnen also, mein Liebster?«
wandte sich Hyrtl an Arnold und in seinem Blick
glühte ehrliche Freundschaft, rührende Hingebung.
Er sah in Arnold das Leben, die Gesundheit, die
Kraft, und es war ihm dabei zumut wie dem Sklaven,
der einen Adler in der blauen Luft schweben sieht.
»Gut, sehr gut«, antwortete Arnold trocken. »Und
Sie, Sie sind krank wie immer. Raffen Sie sich doch
auf! Warum rauchen Sie, wenn es Ihnen schädlich
ist? Welche Widersprüche!«
Hyrtl wiegte den Kopf, als ob ihm kein Ratschlag
mehr nützen könne. »Jetzt ist mir wieder wohl«,
sagte er. »Ich habe meinen Arzt betrogen und bin
ausgegangen. Wenn ich liebe Menschen sehe, gehts
mir gut. Nun, was wollen Sie, ich bin ein Schwächling.
Und Sie, Doktor«, wandte er sich an Hanka,
»was treiben Sie? Hanka ist ein ehrenhafter Mensch«,
bemerkte er nach seiner Gewohnheit, einen Anwesenden
rücksichtslos ins Gesicht zu loben. »Wenn das Wort ehrenhaft
nicht da wäre, für Hanka müßte man es erfinden.«
Errötend, wirklich errötend, legte Hanka ein Bein
über das andere. Hyrtl und Arnold lachten, und
Hyrtl so sehr, daß ihm Tränen in die Augen traten.
Dann erhob er sich, legte einen Arm zärtlich um
Arnolds Nacken und tätschelte dessen Wange. »Erinnern
Sie sich an unsere hübschen Abende?« fragte
er. »Erinnern Sie sich an den Hausball? Verena!
Welch eine Schönheit! Wo ist sie? wo ist Verena?«
»Sie sind wieder einmal kindisch«, sagte Arnold
mit einem fast drohenden Blick und schob Hyrtl von
sich weg.
»Ich sehne mich nach einem Stück Wald«, sagte
Hyrtl umhergehend, »und ich möchte für mein Leben
gern mit euch beiden morgen Mittag über Land
fahren. Mein Wagen steht zur Verfügung, wir essen
draußen in aller Gemütlichkeit, wollen Sie? Sagen
Sie doch ja, Arnold, seien Sie nicht so finster ...!«
Arnold schüttelte den Kopf und Hyrtl wurde traurig.
Er nahm wieder Platz und plauderte in melancholischer
Selbstvergessenheit. »Ich wäre gern mit Ihnen
nach Dornbach gefahren, Arnold. Da draußen ist
noch ein Spielplatz, auf dem ich als Kind fast täglich
herumtrieb. Ich erinnere mich, ich hatte ein weißes
Lamm, dem ich einmal die Augen herausbrach, denn
es interessierte mich riesig, was hinter den Augen
steckte. Aber es waren natürlich nur Sägespäne da,
wie bei manchem unserer wackeren Mitbürger.« Er
lachte. »Und meine erste Liebe hab ich da erlebt, –
ach! Sie war ein Bäckertöchterlein, vier Jahre alt.
Einst glaubte ich mich von ihr vernachlässigt und sagte
zu ihr: Sophie, heut muß ich sterben. Darauf lachte
sie verächtlich und gab mir zur Antwort: Menschen
sterben nicht, du Dummkopf.«
»Na, fahren wir doch mit ihm hinaus«, sagte Hanka
gutmütig.
»Ja, tun Sie es!« rief Hyrtl. »Tun Sies, Arnold!
Wenn Sie wüßten wie gern ich Sie habe!
Sie sind so eine Art Ideal für mich. Wenn ich
wieder anfangen dürfte zu leben, möcht ich so sein
wie Sie.«
Endlich ließ sich Arnold bewegen und Hyrtl ging
zufrieden fort, von Hanka begleitet.
Gegen elf Uhr am andern Morgen kamen Arnold
und Hanka fast gleichzeitig in Hyrtls Wohnung. Der
Diener trat ihnen im Flur entgegen und flüsterte:
»Der gnädige Herr schläft noch.«
Arnold war entrüstet. Die Tür des Schlafzimmers
weit öffnend, rief er: »Auf! auf! Langschläfer! der
schönste Tag!«
Hyrtl lag mit friedlichem Lächeln im Bett und
rührte sich nicht. Der Diener stand mißbilligend
unter der Türe, näherte sich langsam, beugte sich
über das Bett und ergriff die Hand des Schläfers.
Plötzlich rief er schluchzend: »Der gnädige Herr!«
und fiel neben dem Bett auf die Knie.
Hanka hielt sich an den Messingknöpfen der beiden
Bettpfosten fest. Sein Gesicht war grünlich bleich
geworden. Arnold schrie: »Laufen Sie zum Arzt!«
Der weinende Mensch erhob sich schnell und folgte
dem Befehl. Schweigend setzte sich Hanka in eine
Ecke. Nach einer Viertelstunde kam der Arzt. Das
Ergebnis seiner Untersuchung war, daß der Tod schon
vor Stunden eingetreten sein müsse, ein Herzschlag
während des Schlafes.
Fremde Leute traten ein, die einen Ausdruck
komischer Finsternis in ihr Gesicht gelegt hatten, als
ob sie versprochen hätten, eine Stunde lang nicht zu
lachen. Arnold und Hanka verständigten sich durch
ein Zeichen und gingen. Keiner von ihnen vermochte
den andern anzureden. Arnold fürchtete Hankas Gesicht,
Hankas Gedanken; er fürchtete ebenso sehr, daß
Hanka ihn jetzt allein lassen könnte. Plötzlich blieb er
stehen und sagte: »Hören Sie Hanka, ich habe mir
das überlegt, was Sie mir gestern erzählt haben. Sie
sind in einer mißlichen Lage und ich kann Ihnen leicht
die fünfzehntausend Gulden leihen, die Sie brauchen.«
Hanka blieb ebenfalls stehen und starrte gerade aus.
Aha, dachte er betrübt, bestechen willst du mich, mein
Urteil willst du bestechen. »Ich danke Ihnen«, sagte
er kalt, »ich brauche es nicht.«
Noch gestern und er hätte das Geld angenommen.
Sein Herz wünschte sich in dieser Sekunde weit weg.
Ihm war, als hätte ihn eine gespensterhafte Hand
ins Gesicht geschlagen. Mit traurigen, verächtlichen
Augen blickte er vor sich hin und stieß sein leer gewordenes
Schifflein gleichgültig ins Meer. Er mochte
nicht so von Arnold gehen, wie er innerlich schon
von ihm gegangen, darum blieben sie noch ein paar
Stunden beieinander. Es kommt gar nicht darauf
an, eine schlechte oder eine lobenswerte Handlung
zu begehen, dachte Hanka, nur muß der Sinn, aus
dem sie geflossen, unwandelbar sein. Er hatte nicht
Willenskraft genug, dies Arnold zu sagen.
Gegen Abend gingen sie noch einmal hin, um den
toten Hyrtl aufzusuchen. Die Außentüre stand offen.
Kränze lagen im Flur. Sie wollten in das Sterbezimmer
treten, als Hanka stehen blieb und seine Hand
auf Arnolds Schulter legte, um ihn gleichfalls aufmerksam
zu machen. Durch die angelehnte Tür
sahen sie, wie der Diener, allein mit dem Toten,
sich mit natürlicher Verehrung über die Leiche beugte
und die Hand des Herrn küßte.
Leise kehrte Hanka um, und Arnold folgte ihm
mechanisch. »Gute Nacht«, sagte Hanka, als sie
draußen waren. »Sehen Sie, nicht einmal so viel
war er uns wie der Kreatur, die er bezahlt hat.«
Hanka ging nach Hause.
Borromeo
Zweiundfünfzigstes Kapitel
Beide Ellbogen auf die Knie gestemmt, das Gesicht
derart zwischen den Armen vergraben, daß
die Hände sich über dem Kopf verschränkten, saß Anna
Borromeo in ihrem Schlafzimmer, noch mitten in
der Unordnung des Morgens. Heute war sie dreißig
Jahre alt, und ihre Trauer galt nicht etwa einer unnütz
hingebrachten Vergangenheit, sondern der Aussicht
auf eine gleichgültige Zukunft.
Ihre Vergangenheit! Es schien ihr nicht der Mühe
wert, darüber nachzudenken. Es war nichts Außerordentliches
in ihrem Leben. Sie erinnerte sich, daß
sie als Kind sich nie gleich andern Kindern von
einem Tag auf den folgenden hatte freuen können.
Auch wenn sie an einem Ereignis mit Erwartung
hing, so wußte sie doch genau, wie weit die Wirklichkeit
hinter dem Bild ihrer Phantasie zurückbleiben
würde. Sie hatte Borromeo geheiratet an einem
Zeitpunkt ihres Lebens, an dem kein Traum mehr
in ihr war. Ihr war alles so wohlbekannt wie dem
Schauspieler das Ende des Stücks. Sie trat ihrem
Gatten nicht mit Sympathie entgegen. Sie sah es
ihm an, am ersten Tage durchschaute sie diesen Mann
der wenigen Worte, daß sie ihm nichts zu geben
hatte, was er brauchen konnte. Und er, er konnte
ihr nur eines geben, was sie brauchen konnte, ein
sicheres Auskommen.
Sie holte den Handspiegel und betrachtete düster
ihr Gesicht. Nur von dem größeren oder geringeren
Glanz ihrer Augen, der frischen Feuchtigkeit der
Lippen und dem goldenen Glanz der Wangenhärchen
machte sie ihre Teilnahme an den Dingen des Lebens
abhängig, – ohne es zu wissen, denn sie hielt sich
für eine faustisch-unzufriedene Natur.
Schließlich raffte sie sich auf und ging in die
Küche. Kaum hatte sie ihr Zimmer verlassen, als ihr
Gesicht sich veränderte wie das einer Amtsperson,
welche in eine Versammlung tritt. Sie gab die
nötigen Anweisungen für den Tag und als sie über
den Korridor zurückging, kam Borromeo nach Hause.
Sie folgte ihm und fragte, ob er vom Gericht oder
von der Kanzlei komme.
Borromeo schüttelte den Kopf. Anna sagte mit
liebloser Kälte: »Wo in aller Welt bist du zu finden,
wenn man nach dir schickt? Um sechs Uhr früh hast
du schon das Haus verlassen und niemand weiß,
wohin du gehst. Ich hätte notwendig hundertfünfzig
Gulden für die Schneiderin gebraucht ...«
Borromeo lachte; das heißt, dies Lachen bestand
darin, daß er die Lippen und die Mundwinkel auseinanderzog
und die Zungenspitze zwischen die Zähne
legte. Er entnahm seiner Brieftasche den verlangten
Betrag, legte die Noten eine nach der andern auf
den Tisch und strich sie mit der flachen Hand glatt.
Anna Borromeo sah dieser Beschäftigung verwundert
zu. Dann senkte sie den Kopf. »Seit Tagen verschwindest
du in der geheimnisvollsten Weise, Friedrich«,
sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln.
»Hast du etwas vor?«
Borromeo blickte in die Luft und seine Brauen
zogen sich zusammen. »Ich habe etwas vor«, antwortete
er, mit dem Zeigefinger seine Worte skandierend.
Frau Anna stutzte. Sie sah ihrem Mann ins Gesicht
und sagte rasch: »Valescotts lassen dich grüßen.
Ich war gestern nachmittag dort.«
Mit einem Lächeln näherte sich Borromeo der Frau,
legte die Hand fast liebevoll auf ihre Haare und bog
den Kopf sachte zurück. Ihre Blicke begegneten einander.
Anna erhob sich und sagte rauh und erschreckt:
»Du bist sonderbar.«
Borromeo zuckte die Achseln und begann den Bart
mit beiden Händen zu liebkosen. »Was ist eigentlich
mit Arnold?« fragte er umhergehend. »Er meidet
uns. Findest du nicht, daß er uns meidet?«
»Ach, – er macht es wie tausend andere, er lebt
sich aus«, warf Frau Anna gleichgültig hin.
»Es ist nicht nötig, für ihn besorgt zu sein«, sagte
Borromeo. »Was ein richtiges Waldtier ist, findet
immer wieder zur Tränke.«
»Du hast eine halsstarrige Manier, dich über Arnold
zu täuschen«, entgegnete Anna Borromeo ruhig.
Borromeo legte die eine Hand auf die Brust und
lächelte beinahe träumerisch vor sich hin. »Du hast
heute Geburtstag, nicht wahr, Anna?« fragte er endlich.
»Ich glaube, man darf einander ruhig beglückwünschen,
wenn man wieder ein Jahr hinter sich
hat. Zugleich möchte ich dir etwas mitteilen. Ich
gehe mit dem Plan um, meine Praxis aufzugeben.«
»Dann tust du etwas der Form nach, was du in
der Tat schon lange hinter dir hast,« antwortete die
Frau mit ersticktem Zorn.
»Ja. Ich bin es müde, die Klopffechtereien einer
sogenannten Justiz zu erdulden. Ich bin es müde.
Es ist noch nicht lange her, daß ich zu einer wirklichen
Einsicht gelangt bin, aber an demselben Tag,
wo es geschah, war ich auch fertig. Und mir graut
jetzt vor allem, was ich in früherer Zeit ohne diese
Einsicht unternommen und ausgeführt habe. Deshalb
kann ich nicht länger mittun. Denn unser Leben
läuft immer darauf hinaus, daß wir unsere Handlungen
von Anfang an mit Konsequenz festhalten,
und wer immer schlecht gehandelt hat, darf nicht auf
einmal das Gute wollen, sonst geht er zugrunde.«
»Ich glaube, Friedrich, du solltest einmal mit
einem Arzt sprechen«, sagte Anna Borromeo ernst
und geringschätzig. Sie zuckte die Achseln, als Borromeo
schwieg und verließ das Zimmer. Drüben in
ihrem eigenen Gemach wartete die Friseurin und
Anna unterhielt sich mit ihr von den neuen Ereignissen
in der Gesellschaft. Als dies beendet war,
machte sie sich daran, Einladungskarten für den
Samstagabend zu schreiben. Auch an Arnold richtete
sie eine Karte, zerriß sie aber wieder, nahm statt
dessen ein Briefblatt zur Hand und schrieb: »Mein
Lieber, dürfen wir dich für den dreizehnten abends
erwarten? Borromeo kränkt sich wieder einmal über
dein Fernbleiben, ich aber finde es natürlich. Ich
finde es natürlich, das hindert aber nicht, daß ich oft
mit Scham an dich denke. Hättest du nicht vergessen,
so würde ich dich beschwören: vergiß. Offenbar gehst
du darauf aus, alles was du bist und vorstellst, zu
spielen, sonst hättest du mich am selben Abend erdolcht.
Ernst und Wahrheit spielt man leider nicht,
ohne daß es sich an denen rächt, die daran glauben.«
Sie stand auf, warf sich in die Ecke des Sofas und
weinte, indem sie das Taschentuch fest vor das Gesicht
drückte. Sie weinte aus Wut, aus innerer
Leere, aus Entschlußlosigkeit, weinte darüber, daß
ihre Hand solche Worte schrieb, an die sie nicht glaubte
und vor denen sie bestürzt und feige stand, wenn sie
gleich selbständigen Wesen ihr auf dem Briefpapier
ins Gesicht lachten. Sie trocknete die Augen und
ohne ihr Schreiben noch einmal zu überblicken, zerriß
sie es in hundert Fetzen und schrieb eine Karte wie
an alle andern Eingeladenen. Nur schrieb sie die
Worte dazu: ich bin heute nachmittag allein zu Hause
und langweile mich. Dies schickte sie sofort und mit
Eilpost ab.
Mittags blieb sie in ihrem Zimmer unter dem Vorgeben,
sie fühle sich nicht wohl. Dann versuchte sie
zu schlafen, nahm aber einen italienischen Roman
und las.
Arnold kam. Sein Gesicht war schmal geworden.
Die Augen hatten einen schwermütigen Ausdruck.
Anna fragte, warum er so lange nicht gekommen
sei. Er zuckte die Achseln.
»Verkehrst du noch mit deinem schweigsamen Philosophen?«
»Mit Hanka? Nein. Der lebt auf einem Dorf in
Steiermark. Wir haben uns zuletzt bei Hyrtls Begräbnis
gesehen.«
»Ach ja, Hyrtl, das arme Kerlchen. Man glaubte
ihm seine Krankheit nie.«
»Er war ein guter Freund.«
»Ein guter Freund, ja, aber kein Freund. Wie
lebst du, Arnold?«
»Schlecht.«
»Du solltest Karriere machen.«
»Wozu? Es lockt mich nicht.«
»Du solltest reich sein.«
»Ich habe genug.«
»Genug? Für dich vielleicht. Reichtum ist etwas
anderes. Wieviel hast du denn? Ein paarmal hunderttausend
Gulden. Lappalie. Reich sein heißt
alles Häßliche, Armselige, Störende im Umkreis von
zehn Meilen entfernen. Reich sein heißt, der Phantasie
so viel zu geben, daß sie den Tod vergißt. Ich
sehne mich nach Reichtum.«
»Mir scheint, du sehnst dich nach vielem.«
»Weil ich nichts besitze.«
»Weil du nichts halten kannst.«
»Ich habe zu viel Sorgen und zu wenig Freuden.«
»Liebst du denn nicht deinen Mann?«
Anna Borromeo hatte diese Frage nicht erwartet.
Sie erbleichte.
War sie es? dachte Arnold schaudernd; gibt es
mehrere solche Gürtel mit Smaragden wie sie einen
trug, damals ...?
Sie erriet vielleicht Arnolds Gedanken, denn sie
sah ihn flehentlich an.
»Hast du schon wieder Schulden?« fragte er plötzlich
in strengem Ton.
Sie schwieg.
»Sprich doch!«
»Glaubst du, ich rechne auf dich?« versetzte sie kalt.
»Ihr seid ja lauter Krämer.«
Sie brach in Schluchzen aus.
Arnold hatte Mitleid. Er blickte sie bewegt an.
Auf einmal erschienen ihm ihre vor das Gesicht geschlagenen
Hände als das Schönste, Zarteste, was er
je gesehen. Er ergriff ihre eine Hand, zog sie weg
von der Wange und drückte sanft seine Lippen darauf.
Anna erhob sich. Endlich hatte ihr unbefriedigtes
Herz irgendwo einen Widerhall gefunden.
Ein wenig später verließ Arnold das Haus. In
dem dunklen Bedürfnis nach freier Luft, nach Baum
und Wiese, begab er sich zur nächsten Stadtbahnstation
und nahm eine Karte nach einer der Wiener
Waldstationen.
Die Bahn, die auf einem langen Viadukte über
Gumpendorf emporführte, gelangte zu einer Biegung
und weit hingedehnt, im graublauen Dämmerlicht,
lag die Stadt vor Arnold. Rauch und Staub verwischten
die Horizontlinie und manche fahle Lampe
in einem Haus glich täuschend einem Stern. Unzählbare
Schlöte ragten empor, bleich leuchtend von
einem unsichtbaren Licht. Häusermauern über Häusermauern,
angegraut von Asche, Zeit und Elend, so
dicht mit Fenstern besetzt wie ein Wespennest mit
Löchern, Höfe, in denen schwarze Menschen krabbelnd
sich bewegten und Dach neben Dach bis in den Himmel
hinein. Hier wohnten sie, einer im Atem des andern,
unter dem graublauen, nach Kohle und Schweiß
riechenden Mantel des Abends, die Millionen.
Reich sein, reich sein, dachte Arnold.
Dreiundfünfzigstes Kapitel
Zwei Tage später, als Arnold über den Graben
ging, winkte ihm plötzlich jemand mit Lebhaftigkeit
zu und rief seinen Namen. Es war Wolmut.
Schlank, fein, freundlich, rotbäckig wie immer,
eilte er auf Arnold zu und hätte ihn beinahe
umarmt. Arnold freute sich, und war fast ungehalten,
als Wolmut ihm mitteilte, er bleibe nur
wenige Tage in der Stadt. Er wolle aber gern den
Mittag und den Nachmittag mit Arnold verbringen.
Mit ihm habe sich inzwischen mancherlei ereignet. Er
habe seine national-ökonomische Broschüre herausgegeben
und sich Freunde damit gemacht. Auch stehe
seine Beförderung auf der Statthalterei bevor. Wolmuts
weiße Stirn leuchtete von Hoffnungen.
Nicht wenig überrascht war Wolmut, als er in
Arnolds prächtige Wohnung geführt wurde. Aber
er ließ nichts verlauten. Er dachte sich sein Teil.
»Was haben Sie gearbeitet? was haben Sie fertig
gebracht?« fragte er.
»Ich habe wenig gearbeitet, ich habe nur gelebt«,
antwortete Arnold.
»Auch nicht das Schlechteste. Man nennt das
Sichausleben, wie? Haben Sie sich ausgelebt?«
»Ein böses Wort, lieber Freund.«
»Es klingt ein bißchen verdächtig, Sie haben recht.«
»Wie bringen Sie es eigentlich fertig, Wolmut,
alles beiseite zu schieben, was Ihnen nicht dienlich
ist? Sie haben offenbar die Gabe, Hindernisse schon
von weitem zu erkennen und ihnen auszuweichen.«
»Ausweichen? Nein. Ich gehe auf alles schnurstracks
zu. Allerdings halte ich mich meistens an das
Nützliche.«
»Sie sind eine harmonische Natur.«
»Damit wollen Sie sich trösten, mein Lieber, indem
Sie mir zu verstehen geben, daß Sie zu viel
Phantasie haben, um harmonisch zu sein. Das sind
nur Worte. Jeder Mensch hat seine inneren Kapitalien.
Wer nicht damit zu wirtschaften versteht,
muß Bankerott machen. Jeder Mensch kann einmal,
wie soll ich sagen, das große Los seiner Existenz ziehen.
Aber man muß aufmerken, man muß der Geisterstimme
lauschen können. Diesen Augenblick verschlafen aber
die meisten, sie vergessen ihr Stichwort und das
nennen sie dann vom Schicksal verfolgt sein. Es gibt
keine Abhilfe von außen, denn nichts kann das Verbrechen
ungeschehen machen, das jeder einzelne an sich
selbst begeht. Man muß Ehrfurcht vor sich selber
haben. Man darf nicht mit dem eigenen Körper
umspringen wie mit einem gekauften Gerät, und mit
der eigenen Seele auch nicht. Um die Kraft, die
ich in mir zugrunde richte, wird die Menschheit ärmer.
Außer mir ist kein Schicksal, nur ich selbst kann mich
vernichten.«
Der Diener trat ein und flüsterte Arnold etwas
zu. Er ging hinaus, über den Korridor in das Empfangszimmer,
wo Anna Borromeo saß und ihm ruhig
entgegenlächelte. »Ich wollte doch einmal sehen, wo
du residierst,« sagte sie, und ihre Stimme klang ein
wenig heiser. Arnold bat, sie möge ihn noch eine
kurze Weile entschuldigen, er müsse einen Freund
fortschicken. Sie nickte und schlug ein Landschaftenalbum
auf, während Arnold zu Wolmut zurückging
und ihm freimütig erklärte, daß sie nicht länger beisammenbleiben
könnten. Auch wenn hier Anlaß gewesen
wäre, Wolmut gehörte nicht zu den Verletzlichen.
Sein Verkehr mit Menschen bestand ja in
einer geradezu programmmäßigen Ehrlichkeit.
Als die beiden Freunde sich voneinander verabschiedet
hatten und Arnold zurückkam, fand er Anna
nicht mehr in dem großen Raum. Sie hatte die
Türe zu dem anschließenden Bibliothekszimmerchen
geöffnet und saß dort in der Ecke eines Divans, den
Oberleib zurückgebeugt, den Kopf mit regungslos
starrenden Augen auf der Armlehne.
Arnold blieb schweigend stehen.
»Wieviel Uhr ist es?« fragte Anna, ohne sich zu rühren.
»Dreiviertelfünf«, antwortete Arnold. Sein Gesicht
war ernst geworden, hatte aber jede Unbefangenheit
verloren.
»Dann bleibt mir noch eine Stunde«, sagte Anna
und richtete sich langsam auf. »Komm einmal,
Arnold, sieh dir diesen Ring an.«
Arnold nahm den Ring aus ihrer Hand. Er drehte
ihn hin und her und meinte endlich: »Was ist daran
zu sehen? Ein gewöhnlicher Ring.«
»Wenn du ihn trägst, wirst du Macht über mich
haben«, entgegnete sie.
Arnold warf ihr einen hastigen Blick zu, betrachtete
wieder den Ring, lächelte mechanisch und gab ihr
den Ring zurück. »Macht über dich heißt Ohnmacht
über mich«, sagte er.
»Manchmal ist mir, als wären wir für einander geboren«,
sagte Anna leise.
Mit stockender Stimme entgegnete Arnold: »Du
bist mit dem Bruder meiner Mutter verheiratet.«
»Das ist wahr«, sagte Anna ruhig »aber ich bin
dreißig Jahre alt und habe kein Kind.«
»Ich will dir nur gestehen«, fuhr sie fort, und ihre
Stimme nahm einen gleichgültigen Klang an, »daß
ich mich eine Zeitlang mit Valescott abgegeben habe,
ohne daß es zu etwas Ernstem hätte kommen können.
Er ist blind und stumm und weiß nur von Abenteuern.
Eines Tages vergaß er seine Rolle und ich
jagte ihn davon. Es war gefährlich. Aber für alles,
was ich tue, stehe ich ein mit allem was ich bin.«
Arnold schritt auf und ab, die Hände mit festaneinander
geklammerten Fingern auf dem Rücken.
Plötzlich blieb er stehen und sagte mit erloschenem
Blick: »Wozu muß ich das wissen? Oder –« er
trat zwei Schritte vor Anna hin und erhob den Kopf,
»oder ist es dir bekannt, daß ich es schon vorher
wußte?«
Anna war erstaunt. Sie stützte den Kopf in die
Hand und nach einer Weile sagte sie: »Das war unappetitlich,
also reden wir von etwas anderm.«
Arnold hörte es nicht. Der Klang ihrer Stimme
berückte ihn. Ihn verlangte nach grund- und bodenloser
Leidenschaft wie den Eingesperrten nach Freiheit.
Er suchte sich in einer seltsamen Weise zu prüfen;
indem er vor Anna auf und abging, verglich er die
Empfindung, die er in ihrer unmittelbaren Nähe
hatte, mit derjenigen am entgegengesetzten Teil des
Zimmers. Furcht und Begehrlichkeit ergriffen Arnold.
Eine unergründliche Falschheit und der Hochmut der
Schwäche bemächtigten sich seiner und indem er stehen
blieb, sagte er: »Ich kann nicht glücklich sein in der
Lüge. Ja, Anna, ich sehe wohl, daß wir uns etwas
andres sein könnten, als wir uns jetzt sind. Aber
ich kann nicht leben in der Lüge. Das ist es.«
Anna lächelte mit einem halb verträumten, halb
mitfühlenden Ausdruck. »Nehmen wir also an, es
geschieht nach deinem Wunsch?« fragte sie. »Nehmen
wir an, es geschieht mit Wahrheit?«
Zwischen Trauer und Gewissenslast wie zwischen
zwei hohen Felsen stehend, erwiderte Arnold ohne
Festigkeit: »Das .... wäre undenkbar.«
»Undenkbar?« fragte sie mit rätselhafter Miene.
»Ich kann es denken. Und du, du kannst es fühlen.
Es ist lauter Feigheit. Die sublimste Feigheit, die
nennt man Moral.«
Arnold schwieg.
»Ich muß fort«, sagte sie aufstehend. »Höre, Arnold«,
fügte sie lebhaft hinzu, »ich bin morgen abend
ganz allein. Friedrich fährt nach Preßburg. Willst
du mir Gesellschaft leisten?«
»Morgen abend –?« Arnold zögerte, als besinne
er sich, ob nicht andere Verabredungen ihn verpflichteten.
Dann versprach er zu kommen. Anna reichte
ihm die Hand und ging. Arnold wanderte beunruhigt,
ja, in seinem Tiefsten beständig zitternd, durch
die Zimmer.
Vierundfünfzigstes Kapitel
Um fünf Uhr morgens erwachte Friedrich Borromeo
nach kaum zweistündigem Schlaf. Er griff
nach den Streichhölzern und machte Licht. Er
wußte, daß es vergeblich war, auf das Wiedereinschlafen
zu warten, darum erhob er sich, als
die ersten Morgenlaute von der Straße heraufdrangen.
Langsam wusch er sich und kleidete sich
an, und um sechs Uhr war er fertig. Doch wohin
mit all der Zeit, wohin? Neunzehn oder zwanzig
Stunden lagen vor ihm, bis er sich wieder auskleiden
konnte, um wieder das Bett aufzusuchen wie gestern.
Jede dieser Stunden forderte ihn zu einer Art von
Zweikampf heraus, und am Abend bemächtigte sich
seiner von all dem Indieluft-Kämpfen eine so grenzenlose
Erschöpfung, daß er sich vor dem Wiederaufwachen
nach spärlichem Schlaf fürchtete. Er fürchtete
die Geräusche, durch die sich der Tag ankündigt, und
das Licht, das der Sonne vorauseilt scheute er ebenso,
wie ihm die Finsternis Grauen erregte. Er liebte
weder das Leben, noch wollte er den Tod, sondern
es war, als ob er einen Schlupfwinkel zwischen den
beiden ausspüren wolle, fern von Gedanken, Erinnerungen,
Erwartungen und Gefühlen der Verantwortlichkeit,
gleichsam in den ruhenden Mittelpunkt des
ewigbeweglichen Kreises verkrochen. Er hätte selbst
nicht zu sagen vermocht, durch welche Einwirkungen
allmählich dieser sonderbare Zustand von Fäulnis in
seinem Körper und Gemüt entstanden und angewachsen
war. Lustlosigkeit war es, die das Wesen
seiner Worte und seiner Handlungen gebildet hatte
von jeher. Er hatte keine Freude an der Welt und
keine Freude an den Menschen und keine Freude an
sich selbst. Nur einen einzigen Menschen gab es, an
dem er mit fatalistischer Zuneigung hing, und das
war Arnold.
Die Straßen lagen schon in goldner Frühsonne,
als Borromeo das Haus verließ. Er ging in ein
Kaffeehaus, frühstückte, las die Morgenblätter, zahlte
und machte sich auf den Weg zur Kanzlei. Er war
der erste dort; in seinem Arbeitsraum war der Diener
noch mit Kehren beschäftigt, und der Staub lief in
den Sonnenstrahlen wie eine Sammetbrücke durch
den Raum. Unruhig schritt Borromeo umher. Die
Schreiber kamen mit verschlafenen Gesichtern; einer
brachte ihm den Gerichtsakt, den er für die Verhandlung
in Preßburg nötig hatte. Er nahm Hut und
Mantel und fuhr zum Bahnhof. Er setzte sich in ein
leeres Abteil und gab dem Schaffner ein Geldstück,
damit er ihn allein lasse. Der Zug setzte sich in Bewegung,
und Borromeo schloß die Augen. Plötzlich
aber erwachte in ihm ein tiefer Widerwille gegen
das Ziel seiner Fahrt. Er wollte nicht reden, nicht
hören, nicht angestrengt nach Antwort sinnen, nicht
lächeln, fragen, nicken und sich verbeugen, wollte
nicht jene gleichgültigen, altbackenen, gefrorenen,
mühseligen Redensarten über die Zunge wälzen,
durch die allein eine Verständigung zwischen den
Menschen möglich ist. Als die nächste Haltestation
erreicht war, verließ er den Wagen, nahm seine Aktenmappe
unter den Arm und spazierte in den Wald,
welcher unmittelbar hinter dem kleinen Bahnhof begann.
Aber nicht lange setzte er den Weg fort. Die
Einsamkeit und Stille flößten ihm so große Furcht
ein, daß die Haut über seiner Brust sich spannte und
in ein konvulsivisches Zittern geriet. Er wagte auch
nicht, sogleich wieder umzukehren, sondern setzte sich
auf einen Baumstamm. Was ist mit mir? dachte
er, mir graut vor dem Getümmel der Straßen und
mir graut vor der Ruhe des Waldes. Er nahm sein
Messer und schabte geduldig die dicke Rinde von dem
Stamm, auf dem er saß bis das gelbe feuchte Fleisch
zum Vorschein kam. Dann seufzte er, erhob sich,
wanderte zur Station zurück und schickte ein Entschuldigungs-Telegramm
dorthin, wo er vergeblich
erwartet wurde.
Mit dem nächsten Zug, der erst am späten Nachmittag
kam, fuhr er wieder in die Stadt. Er wollte
nicht in die Kanzlei, denn auch dort erwarteten ihn
vielleicht Fragen; er wollte nicht nach Hause. So
setzte er sich denn wieder in ein Kaffeelokal, nur daß
er jetzt statt der Morgenblätter die Abendblätter las.
Und als er dieser Beschäftigung überdrüssig war,
lehnte er sich zurück und starrte in die Luft. Viertelstunde
auf Viertelstunde verging. Er empfand Hunger
und bestellte ein Butterbrot. Der Raum wurde leer;
es war schon halb zehn, als er sich entschloß, aufzubrechen.
Wieder nahm er seine Aktentasche unter den
Arm und schritt durch die verödenden Straßen.
Ohne daß ihn jemand hörte, weil er niemand zu
stören wünschte, erreichte er sein Schlafzimmer. Er
wollte die Hände und das Gesicht waschen, doch
waren die Krüge auf dem Waschtisch leer. Man hatte
ihn für diese Nacht nicht zurückerwartet. Er drückte
auf den Knopf der Glocke, welche in die Küche führte,
aber niemand kam. Er wartete und lauschte und
zündete endlich eine Kerze an, um selbst nachzusehen,
denn da es noch nicht zehn Uhr war, mußten die
Mädchen oder der Diener noch wach sein. In der
Küche war alles finster; hat sie Anna aus dem Haus
geschickt? dachte er, und ist sie selber fort? Er öffnete
die Türe des Salons, auch hier war es finster, aber
durch die Spalten der nächsten Tür drang ein Lichtschimmer.
Er hielt die Kerze vor, ging über den
Teppich, und als er die Hand auf die Klinke legte,
vernahm er Murmeln und Flüstern. Leise öffnete er,
denn die Anspruchslosigkeit seines Benehmens war so
übertrieben, daß er kaum die Türen weit genug für
seinen Körper zu öffnen wagte. Er sah zuerst nur
ein Stück der dunklen Portiere, mit der in jenem
Zimmer die Türe verhängt war, dann erst konnte er
einen Teil des Zimmers selbst überblicken. Kaum
war dies geschehen, als sich sein Mund im größten
Entsetzen weit auseinanderzog. Er ließ die Klinke
los; er wagte die Türe nicht wieder zu schließen, sie
hatten nichts gehört drinnen und konnten nicht sehen,
daß die Türe hinter der Portiere offen stand. Im
Korridor entfiel die Kerze seiner Hand, und er tastete
sich an der Mauer weiter bis zu seinem Zimmer, wo
die Gaslampe brannte. Mit einem dünnen, wimmernden
Geräusch, das sich fortwährend seinen Lippen
entpreßte, warf sich Borromeo auf das Sofa, mit
dem Bauch zu unterst.
Fünfundfünfzigstes Kapitel
Als Anna am Morgen erfuhr, daß ihr Mann
schon den vorherigen Abend zurückgekehrt sei,
ging sie hinüber und klopfte an seine Türe. Es
wurde nicht geantwortet. Im Glauben, er schlafe
noch, entfernte sie sich leise, vollendete ihren Anzug
und ging aus. Gegen Mittag kam sie nach Hause
und das Stubenmädchen sagte ihr, der gnädige Herr
habe noch nicht das Zimmer verlassen und gehe beständig
auf und ab; sie habe nicht gewagt, das Zimmer
in Ordnung zu bringen. Ohne Hut und Umhang
abzunehmen und ohne etwas zu erwidern,
schritt Anna den Korridor entlang und trat in das
Zimmer Borromeos. Sie erblickte mit Erstaunen
das unberührte Bett. Borromeo stand, ihr den Rücken
zuwendend, am Fenster und drehte sich, als er ihre
Schritte hörte, mit bleierner Langsamkeit um. Sie
erschrak so vor seinem Aussehen, daß sie einen Schrei
ausstieß. »Bist du nicht wohl, Friedrich?« fragte
sie mit schwerer Zunge.
Borromeo antwortete nicht. Er schaute an ihr
vorüber und seine Lider fielen ein paarmal zu und
hoben sich wieder wie bei den künstlichen Augen einer
Wachsfigur.
»Friedrich!« rief jetzt Anna Borromeo laut und in
Angst.
»Es ist nichts, Anna,« sagte er nun mit leiser,
schleppender Stimme; »es ist nichts, beruhige dich
nur.«
»Hast du denn nicht geschlafen?«
Er zuckte die Achseln und packte plötzlich den Bart
mit beiden vollen Händen. Anna wich mechanisch
zurück, als er auf sie zukam. Aber er schritt an ihr
vorbei, kehrte um und ging wieder zum Fenster.
Scheu und besinnend blickte Anna zu Boden, dann
eilte sie hinaus, klingelte und schickte zum Hausarzt,
der schon nach einer halben Stunde kam. Anna
wartete auf seinen Bescheid. »Gnädige Frau«, sagte
der Arzt, als er Borromeos Zimmer verlassen hatte,
»unser Freund scheint sehr verändert; um das zu
konstatieren haben Sie mich aber wahrscheinlich nicht
gebraucht. Die Sache ist die, daß er mich nicht einmal
seine Hand ergreifen ließ. Er hat mich weggeschickt.«
»Ich danke Ihnen, Doktor«, erwiderte Anna Borromeo
freundlich. »Ich selbst begreife nichts davon.
Noch gestern war er in der besten Verfassung ...«
Der Arzt zuckte die Achseln. »Vielleicht eine geschäftliche
Katastrophe –, obwohl er für solche Dinge
doch immer ziemlich unempfindlich war. Sein Aussehen
macht mich bedenklich. Es sieht verteufelt einer
Gemütsstörung ähnlich. Warten wir jedenfalls noch
die nächsten vierundzwanzig Stunden ab.«
Das Gespräch mit einem Fremden hatte Anna ein
wenig beruhigt. Sie setzte sich zu Tisch, nahm einige
Bissen und verließ bald darauf das Haus, um zu
Arnold zu fahren. Er war ausgegangen; sie wartete.
Eine Stunde verfloß. Sie läutete dem Diener und
bat um ein Glas Wasser. Noch eine halbe Stunde
schlich hin, dann kam Arnold. Er trat ein, noch im
Mantel, den Hut im schlaff herabhängenden Arm
haltend. Sein Gesicht, das nun das vollkommene
Oval des geistig leidenden Menschen zeigte, sah gequält
aus.
»Ich habe dich warten lassen? Wie lang bist du
schon hier?« fragte er hastig. Er setzte sich neben
sie und ergriff mit gütiger und liebenswürdiger Bewegung
ihre beiden Hände.
»Laß nur, Arnold,« antwortete sie, entzog ihm die
eine Hand, packte ihn beim Kinn und hob den Kopf
ein wenig empor. Er lächelte, wobei er auf ihren
Hals sah. »Da fällt mir etwas ein«, sagte er »ich
will dir etwas geben.« Er eilte aus dem Zimmer.
Während ihres kurzen Alleinseins hatte Anna Borromeo
einen erschreckenden Gedanken. Sie legte
beide Hände an die Stirn und dachte nach. Ungewißheit
war ihr das verhaßteste aller Gefühle, deshalb
beschloß sie, noch heute ihrem Zweifel ein Ende
zu machen. Aber in ihrem sonst undurchdringlichen
Gesicht hatte sich während der kleinen Weile so viel
begeben, daß Arnold, als er zurückkam, sie stumm
fragend anblickte.
Er brachte eine kleine Schachtel, in welcher ein
altertümlicher Schmuck auf schwarzem Sammet lag.
Es war ein Blumensträußchen; die Stengel, frei gebunden,
bestanden aus Gold, die Blütenkelche wurden
durch fein gearbeitete farbige Edelsteine dargestellt.
»Dies ist noch von meiner Mutter«, sagte Arnold,
»und du sollst es haben.«
Anna betrachtete es, ohne daß sie sich eines wunderlichen
Schauers erwehren konnte, der langsam
ihren Rücken hinabrieselte. »Und du glaubst, ich soll
es tragen?« fragte sie. »Das geht auf keinen Fall.«
Sie heftete die stahlblauen Augen ohne Leidenschaft
auf Arnold, dessen Stirn sich verfinsterte. »Was
sollen wir also tun«, sagte er wie zu sich selbst und
warf einen schüchternen Blick zum Himmel.
»O, ich könnte es ausdenken, Arnold, daß du ihm
die ganze Wahrheit sagen würdest. So tief dürfen
wir doch nicht sinken, daß uns Mitleid oder Angst
oder Furcht daran verhindert. Oder haben wir uns
nur ein kleines Vergnügen außerhalb des Erlaubten
verschafft? Besinne dich nur, Arnold, und versuche,
etwas anderes zu tun, als das was ich von dir erwarte
und was du dir schuldig bist. Und ob nach
dem ersten Satz, den du ihm gesagt hast, ich nicht
ruhig diese hübsche Brosche werde tragen können.«
Sie nahm das Schmuckstück zwischen die Fingerspitzen
und drückte die Lippen darauf.
Und diese Worte sagte Anna Borromeo, um zu
probieren, das war es. Nicht glaubte sie daran, daß
Arnold vor Borromeo mit einem Bekenntnis hintreten
würde, aber sie wollte sehen, was daraus
werden würde, wenn die Stunde gekommen war.
Für jetzt hatte sie nur eines im Sinn: zu erfahren,
ob Friedrich Borromeo etwas ahnte oder wußte und
ob das unberührte Bett der heutigen Nacht auf dies
Wissen Bezug habe.
Arnold schämte sich und gab ihr recht. Aber er
erbleichte, wenn er das Bevorstehende im Bild zu
sehen versuchte, und hatte das Gefühl, als verbreitete
sich Blässe über Zunge und Gaumen ins Innere des
Körpers. »Ich denke daran,« sagte er umhergehend,
»ob Borromeo nicht in Podolin leben will. Ihn
wird es locken, allein zu sein und Ruhe zu haben.«
Sie gingen zusammen fort. Indem Arnold an
Annas Seite durch die Straßen ging, schnitt er sich
mit wilder Entschlossenheit von allem Vergangenen
ab und nahm sich vor, nur die Gegenwart zu leben,
den Augenblick zu nutzen, und was feindlich dagegen
aufstand zu vernichten. Daran klammerte er sich,
um sein Herz mit einem Anschein von Recht verhärten
zu können.
»Ist der Herr zu Hause?« fragte Anna Borromeo
sogleich, als ihnen das Mädchen geöffnet hatte, und
die Antwort lautete bejahend. »Gut,« fuhr Anna
fort, indem sie Schleier, Hut und Jacke abnahm,
»wir wollen in einer Viertelstunde zu Abend essen.
Benachrichtigen Sie den Herrn, daß ich auf ihn warte,
ich allein, verstehen Sie? Niemand ist sonst zugegen.«
Sie traten in das Speisezimmer. »Was heißt
das?« fragte Arnold. »Warum soll er nicht wissen,
daß ich da bin?«
Anna Borromeo ging nahe zu Arnold heran und
erwiderte, indem sie aufmerksam die Nägel ihrer Hand
betrachtete: »Er ist gestern abend gekommen, ohne
daß wir ihn gehört haben, und ich fürchte –«
Arnold machte einen Ruck mit dem ganzen Körper.
Dann schlug er plötzlich die Hände zusammen und
wandte sich ab. Anna blickte ihn strenge an. Das
Mädchen trat ein und berichtete: »Der gnädige Herr
hat mir nicht geantwortet.«
»Nehmen wir also einstweilen Platz, Arnold,« sagte
Anna in gesellschaftlichem Ton.
Kaum saßen sie, so öffnete sich die Türe und Borromeo
erschien auf der Schwelle. Und kaum hatte
er Arnold am Tisch erblickt, als sein Gesicht die weiße
Farbe verlor und sich rötete. Niemand hatte das je
zuvor an ihm beobachtet. Mit schlaffem, blinzelndem
Blick sah er Arnold an, dann trat er wieder zurück,
schloß geräuschlos die Türe und Anna und Arnold
waren wieder allein. Sie schwiegen lange.
»Deine Idee mit Podolin ist sehr gut,« sagte endlich
Anna Borromeo mit eigentümlichem Lächeln, »so
könnte es doch nicht weitergehen. Er hat ohnehin
schon lange aufgehört unter Menschen zu leben. Für
ihn ist es das beste und für uns ist es das ruhigste
und einfachste.«
Arnold antwortete nicht.
»Ich will nicht damit zögern, ich werde sogleich
mit ihm sprechen.«
»Ja, tu es nur,« sagte Arnold dumpf, und seine
Augen loderten in jener lügnerischen Entschlossenheit,
die ihn überfallen hatte.
Anna erhob sich und ging. Als sie auf den Korridor
trat, hörte sie sonderbare Laute. Der vordere
Teil des Flurs war erleuchtet; um zu Borromeos
Zimmer zu gelangen, mußte sie, schon im Halbdunkel,
um eine Ecke biegen. Aber hier sah sie auf einmal
Borromeo. Er stand regungslos und murmelte vor
sich hin. »Friedrich! Friedrich!« rief Anna erschrocken.
Er setzte zur Antwort sein Gemurmel fort, aus dem
sich schließlich die hörbaren Worte rangen: »Ich kann
nicht weiter, es ist finster.« Anna schluckte ihren
Schrecken hinab, ging zurück, zündete eine Kerze an,
wobei sie es vermied, einen der Dienstleute aufmerksam
zu machen, und leuchtete dann ihrem Mann
voraus.
Es war kalt in Borromeos Zimmer. Er nahm
einen rotkarrierten Schal und hüllte ihn um seine
Schultern. Anna stellte die Kerze auf den Tisch nieder
und blickte eine Weile sinnend in die Flamme. »Es
ist nun geschehen, Friedrich,« sagte sie dann. »Es
hat auch geschehen müssen, – aus vielen Gründen.
Doch du mußt dir selbst und uns das Überflüssige
und Quälende ersparen. Ich schlage dir vor, die
nächsten Jahre still auf dem Land zu verbringen.
Deine Nerven sind zerstört, und so wird es in jeder
Beziehung gut für dich sein.«
Borromeo stand, an die Tür gelehnt, fröstelnd,
regungslos. »Ich kann nicht auf dem Land leben,«
sagte er.
»Und in der Stadt fühlst du dich keineswegs wohl,«
sagte Anna liebenswürdig tadelnd. »Also wo willst
du denn leben? Im Nichts?«
»Im Nichts. Ganz recht. Im Nichts,« flüsterte
Borromeo.
»Willst du den Skandal?« fuhr die Frau ernster
fort. »Willst du, daß ich gehe?«
»Ich will nicht einsam draußen leben in der Natur,
Anna. Das macht mich kaput,« sagte Borromeo auf
einmal erregt, völlig gegen seine sonstige Art. Er
zitterte am ganzen Körper.
»Also willst du reisen, Friedrich?« fragte Anna
liebevoll.
Er schüttelte müde den Kopf.
»Höre mich,« begann Anna wieder. »Wie wäre
es, wenn du nach Podolin gingest und dort –. Man
würde dir die beste Pflege verschaffen ...« Sie
verstummte. Borromeo schaute seine Frau groß und
kalt an und erwiderte langsam: »Podolin? Ich?«
Er trat zum Tisch und stützte beide Arme auf die
Platte. »Eher gleich verdorren,« murmelte er vor
sich hin.
Anna Borromeo war verwundert. »Arnold will
es,« sagte sie, »er selbst macht dir das Anerbieten
und hält es für gut.«
Da fingen Borromeos Augen zu glühen an und
sein Gesicht überzog sich abermals mit Röte. »Arnold?«
fragte er und nickte dazu krampfhaft mit dem
Kopf. »Will –? Das ist nicht wahr! Das will
Arnold nicht! Das ist eine Lüge ... eine Lüge ist
es.« Er hatte den Arm ausgestreckt und deutete mit
dem sich bewegenden Zeigefinger ins Leere, als ob
er die Lüge mit Augen sehe. Sein ganzes Wesen
war unheimlich verwandelt.
Ängstlich haschte Anna nach seiner Hand. Borromeo
schloß einige Sekunden die Augen, atmete tief
und sein Gesicht erhielt wieder die frühere fahle
Färbung.
»Es ist nicht Lüge,« sagte Anna fast schüchtern.
Sie ahnte nicht, was in diesem Augenblick in dem
Manne vorging.
»Nun gut,« sagte Borromeo mit grüblerischem und
traurigem Ausdruck. »Podolin, – das ist schlimm,
schlimm für mich. Aus vielen Gründen, wie du dich
ausgedrückt hast. Aber,« er erhob nun wieder seine
Stimme, die dann nicht laut klang, aber unendlichen
Zorn und Kummer in sich zu verhalten schien, »aber
wenn Arnold vor mich hertritt und mir sagt: dies,
Onkel Borromeo, will ich, dies halte ich für gut,
nun, dann ... dann will ich nach Podolin.«
Anna senkte den Kopf, dachte noch eine Weile nach
und verließ stumm das Zimmer.
Sechsundfünfzigstes Kapitel
»Er will es nicht, Arnold. Er sträubt sich dagegen
wie gegen Feuer,« sagte Anna Borromeo, als
sie in das Speisezimmer zurückkam. »Er war so erregt,
wie ich ihn nie sah. Ich glaube, es wäre
schlecht für ihn, nach Podolin zu gehen.«
Arnold war verwundert. »Es muß ja nicht sein,«
antwortete er.
»Wenn Arnold vor mich hintritt und sagt, ich will
es, gut dann will ich gehn, sagt er. Das sind seine
Worte.« Anna legte sich ermüdet auf das Sofa.
Arnold verstummte. Die Vorstellung, daß Borromeo
wissen könnte, was ihn mit Anna verband, versetzte
ihn plötzlich in die größte Angst.
Am nächsten Tag erzählte Anna, daß Borromeo
dem Diener befohlen habe, sein Bett in dem Zimmer
aufzustellen, welches an sein eigenes stieß. Er irrte
durch die Räume im Haus, ging in das obere Stockwerk,
stellte sich zu den Dienstboten, ohne etwas zu
reden. Die Leute begannen sich vor ihm zu fürchten.
Bei Nacht öffnete er das Fenster und spähte die
Gasse hinauf und hinunter. So ging es bis zum
Ende der Woche. Sein Benehmen war stets sanft
und still. Und als am Montag Anna in ihrem Salon
Besuche empfing, stellte sich plötzlich auch Borromeo
ein, blickte jedem einzelnen mit besinnendem Ausdruck
ins Gesicht, setzte sich in die Nähe des Ofens
und schien aufmerksam den Gesprächen zu folgen.
Wenn ihn selber jemand ansprach, nickte er oder
schüttelte den Kopf. Er blieb sitzen, bis der letzte
gegangen war und bis Arnold kam. Nun schritt
Borromeo ruhig hinaus, wanderte eine Weile im
Flur auf und ab, bis er zusammenschreckte, sich umsah,
Hut und Mantel nahm und auf die Straße ging.
Annas Gemüt verdunkelte sich langsam unter dem
ihr unerklärlichen Blick Borromeos. Seine Nähe ließ
sie erstarren, sein nicht zu brechendes Schweigen erfüllte
sie mit Grauen. Sie getraute sich kaum mehr,
das Haus zu verlassen, und wenn sie mit Arnold
allein war, gerieten beide unwillkürlich in den Flüsterton.
Das ertrug Arnold nicht. So geduckt zu stehen
und auf das Ungefähre zu warten, folterte seinen
Stolz und vernichtete seine sanfteren Empfindungen.
Gelüst auf Gelüst siedete in seinem Herzen empor,
und er suchte Anna dorthin zu ziehen, von wo er
selbst sie vorher zurückgehalten hatte. Aber sie schien
wie gelähmt. Finde einen Rat! sprachen ihre Augen.
Er wollte nicht erkennen, was er hätte tun sollen,
und er vermochte es nicht mehr. Da dachte er
wieder an jenen ersten Ausweg: Podolin! Und er
gelangte zu dem Schluß, daß es ja nur auf ihn
selbst ankam, daß Borromeo die Entscheidung von
ihm selbst abhängig gemacht hatte. Er brauchte nur
zu reden. Als ob gemeinschaftliche Qual sie beide
in diesem Punkt erfülle, teilte er Anna ruhig mit,
was er für das beste halte. Sie stimmte ihm nicht
zu, riet aber auch nicht ab; sie schwieg.
So kam der Abend. Borromeo, hieß es, sei soeben
heimgekehrt. Arnold ging hinüber, pochte an
die Türe und trat ein. Borromeo saß am Tisch
vor der Lampe. Er erblickte Arnold, und es war,
als ob eine lang zurückgehaltene, gewaltige Angst in
seinem Gesicht nun offen zur Schau trete. Arnold
suchte sich durch den Anblick der im Zimmer verstreuten
Gegenstände zu sammeln. Dann begann er.
»Es ist besser für dich, dort einsam zu sein, als hier,«
sagte er unter anderm. »Podolin ist ja gewissermaßen
ein Familiensitz für uns geworden. Nichts wird dir
zur Behaglichkeit fehlen, und es wird nicht lange
dauern, bis du dich von deinem unerklärlichen Leiden
erholt hast. Podolin ist gesund für das Gemüt.«
Arnold konnte nicht anders, er mußte seinen Blick
in denjenigen Borromeos tauchen; er versuchte nicht
einmal, ihn abzuwenden. Und nicht vergaß er diesen
Blick, der durch Traum, Schlaf und Wachen seine
gleiche Gewalt behielt. Jetzt erst nahm er wahr, daß
Borromeo alles wußte. Aber das ließ ihn fast gleichgültig
gegenüber dem einen Wort, das aus Borromeos
Augen unsichtbar auf ihn zuströmte: Ungerechter!
Borromeo stand etwas schwerfällig auf und sagte
kurzangebunden: »Gut, ich gehe. Verlaß das Zimmer,
Arnold.«
Als Arnold draußen war, stellte sich Borromeo
aufrechter Haltung ans Fenster und weinte. Aber
er schämte sich seiner Tränen selbst vor der Nacht und
hätte gern seinen Kopf in die Erde gebohrt. Eine
Stunde verging. Der Diener brachte das Essen.
Borromeo gewahrte es nicht. Bis Mitternacht stand
er fast unbeweglich. Dann setzte er sich vor den
Schreibtisch, und sein Kopf sank auf die Brust. Bald
begann er zu träumen.
Er sah sich auf einer kleinen kahlen Insel vollkommen
allein; das Meer ringsum bewegte sich nicht,
sondern war still wie Blei. Darüber erwachte er,
aber das Entsetzen blieb. Er fürchtete sich vor Podolin
wie ein Kind vor dem Gang in die Finsternis. Aber
Arnold wollte es, und nicht aus Unterordnung oder
Einsicht fügte sich Borromeo, sondern um Arnold zu
beweisen, wie sehr er im Unrecht handle, denn Borromeo
fühlte, was bevorstand. Damit hatte er auch
abgeschlossen mit allem, was ihn an das Leben
knüpfte.
Der Diener Christian, ein anhänglicher Mensch,
der schon elf Jahre im Hause war, sollte Borromeo
begleiten und bei ihm bleiben. Er packte Wäsche
und Kleider in den Koffer und mittags um zwei Uhr
sollten sie zum Bahnhof fahren. Borromeo lag auf
dem Bett und stierte in die Luft. Sein Blick schien
sich nicht vom nächsten Umkreis seines Körpers entfernen
zu können. Oft seufzte er tief und lang.
Anna kam, gab dem Diener Aufträge, forderte von
ihm täglichen Bericht, dann stand sie stumm vor
Borromeo, der sich langsam erhob und an ihr vorbeiging.
Der Diener nahm den Koffer, Borromeo
folgte in gebeugter Haltung, blickte nicht vorwärts,
nicht seitwärts, sondern nur einwärts wie ein fast
Erblindeter. Anna zitterte über die ganze Haut, als
sie ihm nachblickte. Sie sperrte Borromeos Zimmer
zu und steckte den Schlüssel in ihre Tasche.
Eine halbe Stunde später kam Arnold. Er hatte
noch gestern telegraphische Anweisung für die Aufnahme
in Podolin getroffen und den dortigen jungen
Arzt, der alte war verstorben, mit einem Wagen auf
die Station bestellt. Das teilte er Anna Borromeo
mit, aber sie nahm es kühl auf. Schweigend saß er
bei ihr, bis sich ein trüber Zorn in ihm angesammelt
hatte. Er packte mit beiden Händen ihren Kopf, bog
ihn zu sich heran und fragte durch die Zähne, indem
er seine aufgerissenen Augen vor ihre halbgeschlossenen
hielt: »Sieht denn die Erfüllung anders aus als der
Wunsch?« Und Anna entgegnete flüsternd: »Ja.«
Da erhob sich Arnold, lachte und ging. Gern hätte
ihn Anna zurückgerufen, aber sie konnte nicht. Ihre
Neugierde hatte nichts mehr zu erwarten. Freiheit
und Geheimnislosigkeit war das, was sie am wenigsten
ersehnte. Sie versank in eine öde Trauer. Sie
trauerte darüber, daß sie sich von Arnold ihre Schulden
hatte bezahlen lassen, und vieles erschien ihr nur noch
gemein und häßlich, was vor der Erfüllung abenteuerlich
gewesen war. Zu rasch hatte sich alles erfüllt, zu
viel hatte er gegeben; zu viel und zu wenig, denn von
ihm selbst besaß sie nichts. Sie verwünschte ihr Leben.
In der Kanzlei und unter den Bekannten wurde
erzählt, Borromeo sei zur Erholung für einige Wochen
nach dem mährischen Landgut seines Neffen gereist.
Aber auch andere Gerüchte tauchten auf und züngelten
umher, die auf Anna Borromeo Bezug hatten. Sie
spürte es, denn Leute wie sie, die nur durch die
Luft dieser besonderen Welt ihr besonderes Leben
führen, erleiden eine Art Tod, wenn sie sich nicht
mehr ebenbürtig geachtet wissen. Seltsam, von der
Stunde an, wo Borromeo aus dem Hause gegangen,
waren Anna und Arnold wie voneinander abgeschnitten.
Ruhelosigkeit und Zerfahrenheit herrschten
in Arnolds Verrichtungen. Er war so sehr mit sich
selbst beschäftigt, daß alles außerhalb Liegende seine
Wichtigkeit eingebüßt hatte. Und doch, wenn er zu
dem Punkte kam, wo es hätte hell werden können,
so blieb er stehen und begann zu träumen. Er verlor
Appetit und Schlaf, er verlor die Teilnahme an den
Menschen, die ihn bewundert und geliebt hatten. Er
verlangte Rechenschaft von sich, aber bei der ersten
Erwiderung, die seine Vernunft oder sein Herz gab,
schauderte er zurück. Er hatte kein Maß für den Lauf
der Tage, er achtete die Zeit nicht mehr. Eingefangen
und verstrickt erschien er sich, verschlungen von
etwas Ungeheurem. Er spürte die Erschütterung
eines Sturmes, aber nicht er selbst litt darunter, sondern
ein von ihm abgelöstes Wesen, das im leeren
Raume umhertrieb wie ein Fahrzeug ohne Ruder
und Mast. Kaffeehaus, Theater, Spiel, Gesellschaft,
alles zog ihn an und stieß ihn, kaum genossen, wieder
ab. Er konnte nicht begreifen, was denn eigentlich
mit ihm geschehen sei, und er hegte fieberhafte
Wünsche, wünschte eine neue Erde zu finden, einen
andern schweifenden Stern, um dort von neuem zu
beginnen, was hier so widernatürlich sich in Unheil
und Mißgeschick gebohrt hatte. Beständig glaubte
er, glühende Luft zu atmen und eine wunderliche
Scheu erfüllte ihn, zu denken und zu schauen. Oft
saß er allein und starrte, wie ein Schiffbrüchiger aufs
Wasser starrt, das immer ruhiger zu werden droht
und sich weigert, selbst den Balken weiterzutreiben,
an den er sich hält.
Eines Abends gegen die Dämmerstunde, es ging
schon tief in den Herbst hinein, suchte er Anna Borromeo
auf. Sie zeigte ihm die Berichte Christians und
des Arztes aus Podolin. Beide hatten sich einander
zu verhehlen gesucht, was dort vorging, aber das
letzte Schreiben des treuen Dieners lautete wie folgt:
»Gnädige Frau, der gnädige Herr sieht jetzt immer
Gesichter in der Luft. Er glaubt, jemand will ihn
totschlagen. Er will auch keine Speise nehmen, der
gnädige Herr, weil er glaubt, jemand will ihn vergiften.
Er sagt, er hört Stimmen, und der Doktor
von Podolin sagt, der gnädige Herr verliert den Verstand.
Er sagt auch, der gnädige Herr, er will ans
Gericht gehen, um sein Recht zu erhalten.«
Anna Borromeo las vor. Arnold hatte die Lehne
eines Stuhles gepackt, sie gegen die Knie gedrückt,
so fest, daß die Lehne plötzlich am Sitz entzweibrach.
Mit einem sonderbaren Laut sprang er auf, trat ans
Fenster, erblickte aber nichts als den Nebel, der sich
bläulich-weiß wie Milch an die Scheiben drückte.
Dann murmelte er einen Gruß, warf draußen in
aller Hast den Mantel um und ging. Ihm brannte
das Gesicht, der Hals, die Brust und die Füße. Er
lief durch die Straßen, als ob Leben und Tod von
der Schnelligkeit seines Schrittes abhänge, um plötzlich
stehen zu bleiben und mit zusammengeballten
Händen und verzweiflungsvoll aufgerissenen Augen
wie ein dem Fieberbett Entlaufener um sich zu
blicken, an eine Hauswand gelehnt, in den Nebel
tastend, als ob er ein Gebilde seiner Phantasie wäre.
Da sah er gegenüber auf der andern Seite der Straße
die geöffneten Türen einer Kirche. Ein feierliches
rötliches Dunkel dehnte sich in dem leeren Raum.
Er ging hinüber, betrat die Kirche, sank in einer
finstern Ecke auf die Knie und betete, betete hastig,
aufblicklos, glaubenslos, mit verschlossener, stürmischer,
stürmisch einen Abgrund hinunterrollender Seele.
Siebenundfünfzigstes Kapitel
Er kam auf die Straße und sah nichts; er
sah nicht einmal die Straße, viel weniger die
Menschen. Er taumelte mehr, als daß er ging; er
flüsterte, seufzte und machte mit den Armen trunkene
Bewegungen. »Ja ja,« rief er stehen bleibend und
den Arm in die Höhe streckend, einem alten Mann
nach, der stillzufrieden an ihm vorbeigegangen war,
»ja ja.« Der Alte drehte sich um, stutzte und lachte.
Zu Hause machte er in allen Zimmern Licht. An
den elektrischen Flammen war ihm nicht genug, er
zündete auch noch Kerzen an. Es war ihm kalt, wie
wenn er aus der Ofenwärme eines Zimmers auf
ein Eisfeld getreten wäre. Kein Gegenstand vermochte
den Blick seiner Augen zu fesseln; eine gerechte
und furchtbare Macht rollte plötzlich den Faden
seines Lebens nach rückwärts ab und zwang Arnold,
sich umzuwenden und der Gewalt zu folgen. Die
ersten Stunden der Nacht vergingen in einer vollkommenen
Besinnungslosigkeit. Er eilte unaufhörlich
durch die Flucht der Zimmer. Völlig erschöpft
warf er sich endlich auf ein Sofa. Dennoch nahte
Bild auf Bild, quälend wie die Träume an der
Grenze des Erwachens. Er legte den Kopf zwischen
die Hände und schlief ein, gerade als der erste Tagesstrahl
die Finsternis draußen durchbohrte. Er träumte,
er säße auf einem armseligen Leiterwagen, welcher
durch Schnee und Regen nach Podolin fuhr. Ein
fürchterlicher Blitz erleuchtete das Dunkel und Arnold
sah, daß er gegen Borromeo die Peitsche schwang.
Denn kein Pferd war vorgespannt, sondern Borromeo
zog das knirschende Gefährt durch den tiefen Schlamm
und Morast, und beim Aufflammen des Blitzes gewahrte
Arnold die angespannte Nackenhaut und den
müde gesenkten Kopf. Plötzlich aber wandte sich
Borromeo, schritt auf Arnold zu und wollte reden,
da erwachte Arnold von der Berührung des Dieners,
der seinem Herrn gefällig zu sein glaubte, wenn er
ihn aus so unbequemer Schlafgelegenheit half.
Er ging ins Badezimmer, ließ einen kalten Wasserstrahl
über den Kopf laufen, trocknete und kämmte
sich und verließ das Haus. Langsam schritt er durch
den unbeweglichen Morgennebel. Nach einer halben
Stunde stand er vor dem Haus, wo einst Verena
gewohnt hatte. Eine Stimme erhob sich aus der
Ferne, rief, rief ... Arnold konnte nicht verstehen.
War es Verenas Stimme? Fremd war ihm Verena.
Wie dunkel lagen die Wege!
Valescott begegnete ihm. »Wie sehen Sie aus,
lieber Freund!« rief der Leutnant. »Ihnen ist nicht
wohl, wie? Soll ich einen Wagen besorgen? den
Arzt benachrichtigen?« Nichts von alledem. Arnold
entzog sich dem Besorgten. Jedes menschliche Gesicht
flößte ihm Furcht ein, denn in jedem sah er
verwandelt sein eigenes, aller guten Triebe beraubt,
leer, dünkelhaft und lügnerisch.
Ohne daß ein Vorsatz seine Schritte gelenkt hätte,
befand er sich plötzlich vor dem Nordbahnhof. In
der Halle studierte er den Zugsplan und sah, daß
er in einer Stunde nach Podolin fahren konnte. Er
kaufte ein Billett, setzte sich im Wartesaal in einen
dunkeln Winkel, und so, ohne Reisegepäck, in wüster,
geschlagener Dumpfheit, bestieg er auch den Zug.
Achtundfünfzigstes Kapitel
Der Nebel bedeckte das Land und schien die Bewegung
und das Klappern der Räder zu dämpfen.
Schwarze Bäume streckten mit verzweifelter Gebärde
ihre Äste in den Qualm. Mitten auf freier Strecke
mußte der Zug halten, und die Bediensteten liefen
rufend hin und wieder. Arnold stieg aus und ging
langsam neben einem Acker zur Maschine, vor welcher
der Leichnam eines Pferdes hingestreckt lag. Geschäftig,
aber untätig standen die Leute beisammen. Arnold
wandte sich ab; der Kopf des toten Tieres erinnerte
ihn an sein Traumpferd. Angst und Ahnung ließen
seine Züge zusammenschrumpfen wie den Schwamm
eine Faust.
Das Zeichen zur Weiterfahrt wurde gegeben.
Arnold setzte sich wieder in seine Ecke, Minute auf
Minute rollte hörbar an seinem Ohr vorbei und
mischte sich mit den Millionen der schon verflossenen.
Leicht glaubte Arnold diejenige herausklauben zu
können, während welcher er auf so rätselhafte Weise
sich selbst verloren hatte. Aber alle sahen einander
gleich; stumm wie Holzscheite schwammen sie auf dem
glatten Strom der Zeit ins Ewige hinaus.
Die Station kam, in der Arnold den Zug verließ.
Weit und breit war kein Wagen zu haben. Er mußte
zu Fuß nach Podolin. Der Boden war hart, wenn
auch nicht gefroren. Von oben schien Gott gegen
die Erde zu blasen, worauf das Nebelwerk widerwillig
verflog. Wie in die Tiefe eines Trichters blickte
ein Stück hellblauen Himmels herab. Leer und still
dehnte sich das Land. Auch vor Arnolds Schritten
wich der Nebel zurück, bis er sich allmählich gegen
den Horizont drängte. Die Sonne beschien ihn bräunlich
golden und nur den Fluß entlang türmte er sich
noch wie eine fabelhafte Bergkette.
Es war drei Uhr nachmittags, als er durch eine
Biegung des Wegs rechts den Hügel von Podolin
gewahrte. Er ging links gegen den Ansorge-Hof;
auf dem hölzernen Steg, der über den Fluß führte,
blieb er stehen und schaute ins Wasser. Jetzt erst
dachte er daran, wen das heimatliche Haus drüben
beherbergte, und eine finstere Verzagtheit ergriff von
ihm Besitz. Morastig und faul wie das Wasser unten
erschien ihm sein Inneres, und er lehnte sich mit
einer Inbrunst an das schwache Holzgeländer des
Stegs, als fürchte er, selbst das dunkle Abbild seines
Ichs zu verlieren, welches der Wasserspiegel zurückgab
und welches ihm doch wenigstens seine eigenen
Züge, seine Augen, seinen Mund, seine Arme zeigte.
Er ging weiter und trat ins Haus, als Ursula gerade
mit mehlweißen Händen aus der Küche kam.
Freude schien die Alte über sein Kommen nicht zu
empfinden. Die Luft im Hause war verändert.
Ursula, die hier ihre eigentliche Heimat gefunden
hatte, fühlte sich nun unbehaglich. In dem schmalen
Flur ging Arnold auf und ab; Ursula beobachtete
ihn traurig und etwas erstaunt. Sie fragte, wo er
sein Reisegepäck habe, doch er antwortete nicht. Er
könne nur in der Hinterstube wohnen, fuhr sie betrübt
fort, die drei andern Zimmer hätten der Herr
Onkel und Christian inne.
Arnold stellte sich auf die Schwelle zur Küchentüre
und lehnte die eine Schläfe gegen den Pfosten,
während Ursula hantierte und dabei erzählte. Sie
buk einen Obstkuchen für Borromeo; nur dies esse
er bisweilen, sonst verweigere er fast alle Nahrung.
Er sei sehr ruhig, nur in der Nacht fange er oft an
zu phantasieren, aber niemand könne etwas davon
begreifen. Es dürfe nie finster sein, er fürchte sich
vor der Finsternis. Bevor er sich niederlege, schliche
er zehnmal zu den Türen, um zu sehen, ob sie fest
verschlossen seien. Oft lasse ihm dieser Gedanke auch
im Schlaf keine Ruhe, und Christian müsse dann mit
der Kerze in alle Winkel leuchten. »Der hiesige
Doktor behauptet,« fuhr Ursula fort, »daß die Einsamkeit
an allem schuld ist und daß jetzt nichts mehr
zu machen ist. Er ist unheilbar. Jede Woche läuft
uns auch eins vom Gesinde davon. Sie sind abergläubisch
und ängstigen sich vor dem guten Herrn
wie vor dem Teufel.«
Arnold ging wieder in den Flur zurück. Er trat
an die Türe von Borromeos Zimmer und legte die
Hand auf die Klinke. Er wagte nicht einzutreten,
ihm schwindelte. Unsicheren Schrittes ging er auf
den Hof und sah vom Zaun aus gegen die Fenster.
Dann eilte er in den Park. Er atmete schwer. Plötzlich
aber stand er still und klammerte den einen
Arm um eine Föhre. Mit aller Gewalt sammelte
er sich zu einem Entschluß. Seine Stirn und Blicke
waren gesenkt, als er zum Haus zurückging. Ohne
weiteres Zaudern öffnete er die Tür zum Zimmer des
Oheims.
Borromeo saß einige Schritte vom Fenster entfernt
und schaute, eine steinerne Unbeweglichkeit in allen
Gliedern und selbst im Gesicht, gegen die Landschaft
hinaus. Sein Bart war vollständig grau geworden.
Der ziemlich kahle und seltsam abgeplattete Kopf mit
der niedrigen Stirn hatte etwas von einem aufgesetzten
Wachsmodell. Die Hände waren gelb und
schmutzig. Sehr langsam wandte Borromeo den Kopf
gegen die Türe. Das Geräusch des Eintretenden
war längst verklungen, aber es schien, als brauchten
die Laute zehnfache Zeit, um zu seinem Ohr zu gelangen.
Er blickte Arnold ins Gesicht. Sein Blick
schien nicht sehen, sondern nur tasten zu können. Er
fletschte die Lippen und lächelte endlich, wobei Geifer
in den Bart rann.
Schrecklich hob und spannte sich Arnolds Brust. »Onkel
Borromeo, kennst du mich nicht?« fragte er endlich.
»Hä –?« machte Borromeo. Es war ein empfindungsloser
Laut, von einer Bewegung des Mißtrauens
begleitet. Auf einmal sagte er, indem er
beide Hände zur Höhe des Halses erhob: »Zurückgesetzt
... sie lauern ... man muß vo–orsichtig
sein ... Sie sperren einen sonst ins Kloster ...«
Arnold, als ob er einen Faustschlag auf den Hinterkopf
erhalten hätte, wankte und streckte den Arm aus.
Borromeo verdrehte ängstlich die Augen und wollte
sich erheben. Da nahm sich Arnold zusammen und
verließ den Raum.
Neunundfünfzigstes Kapitel
Draußen überfiel ihn eine betäubende Schlafsucht.
Er taumelte in das Zimmer, das Ursula inzwischen
notdürftig für ihn hergerichtet hatte, warf
sich auf die nackte Matratze und schlief ein.
Nach Mitternacht erwachte er, erhob sich, suchte
Licht zu machen, fand aber weder Streichhölzer, noch
Kerze. Er tastete sich, nachdem er den Mantel umgeworfen
hatte, in den Flur, fand aber die Haustüre
versperrt. Er überlegte, ob er Ursula wecken solle;
er lehnte die Stirn an die kalte Mauer, und feurige
Gebilde erschienen vor seinen ungewissen Augen. In
seinem Innern war eine ahnungsvolle Stille eingetreten.
Wenige Minuten, und er kehrte zurück und
stieg durch das Fenster in den Hof, zog vor dem
frostigen Anhauch der Nacht den Mantel fest über
der Brust zusammen, und bald hatte er das Haus
weit im Rücken.
Das Land lag dumpf und schwarz. Wie er so
ging, schien es, als suche er auf dem Boden etwas,
das ihm gehörte. Mit feuchten Augen blickte er in
das Dunkel und rief plötzlich aus: »Bezahlen! das
ist das große Wort, bezahlen!«
Auf einer hügeligen Erhebung des Bodens blieb
er stehen. Fern, hinter dem fernsten Waldrand
glühte der schwarze Himmel rot. Ein Brand schien
dort zu wüten, aber der runde, abgegrenzte Feuerfleck
sah mehr wie das geöffnete Tor zu einer unbekannten
Welt aus. Arnold spürte, wie eine geistergleiche
Hand Trübes und Ungleiches aus seinem
Innern entfernte und wie das ungeduldig pochende
Herz sich ausdehnte und freier zu schlagen begann.
Bezahlen, dachte er, das ist es. Nicht darum handelt
es sich, von neuem hinauszugehen und zu probieren,
ob das Schlechte nicht wiederkommt. Nicht darf man
sich betrügen und glauben, ein neues Leben ist da,
wenn man nur das alte vergessen kann. Und wie
sehr ich vergessen kann, das hat sich gezeigt. Wenn
ich das Gute und Große vergessen konnte, um wie
viel eher werde ich das Schlechte und Gemeine vergessen.
Leicht ist es, sich selber zu betrügen und zu
glauben, du bist besser geworden, nur weil du gesehen
hast, wie schlecht das Schlechte ist. Habe ich
nicht erfüllt, wozu ich mich ausersehen hatte, so ist
auf ewig verloren, was mir bestimmt war. Es ist unrechtmäßig,
glücklich werden zu wollen, wenn man
schlecht gelebt hat. Ich darf mich nicht schleppen mit
dem Vergangenen und ich darf es nicht hinter mich
werfen, – was muß ich also tun, damit Gerechtigkeit
entsteht?
Mechanisch streckte er die Arme aus, und es war
ihm, als könne ihn die Erde nicht länger tragen.
Schauer auf Schauer überflutete ihn. Undeutlich
und fieberhaft zuerst, dann, indem die Wölbung
seiner Brust und seiner Stirne sich furchtbar spannten,
erst Gedanke, dann Gefühl, dann zusammenrauschend
und -stürzend, erhob sich eine Stimme wie der Flügelschlag
eines heranschwebenden Vogels: Nur wenn du
nicht mehr bist, wird auch dein Übel nicht mehr sein;
erst aus der sühnenden Tat erwacht das Bessere wieder!
Er sank zu Boden. Seine Finger bohrten sich in
den Sand, Wange und Kinn wurden von einem
Strauch geritzt, Krämpfe durchzuckten seinen Körper.
Wann hat es begonnen? grübelte er; an welchem
Tag, zu welcher Stunde? Langsam hat mich ein
Ungeheuer umschlungen, und seine Kunst war es,
mich müde und faul zu machen. Eingeschläfert hat
es mein Herz und dann entzwei gerissen. Bezahlen
mußt du, Arnold, bezahlen!
Als er sich erhob, wuchs wie neugeboren auch sein
ganzes Wesen empor, gesammelt, friedlich und fest.
Er war sich selber dankbar, und als ob er in einer
dazwischenliegenden, dunklen Zeitspanne nur mit
einem kleinen Teil seiner Sinne gelebt hätte, fühlte
er sich jetzt, fühlte er klar und leicht den menschlichen
Sieg über die ungefähren, blind niederreißenden
Schicksalsmächte.
Der östliche Himmel kam ins Glühen. Mit einem
seltsam kühlen und heiteren Lächeln setzte Arnold
seinen Weg fort. Er verfolgte gespannt das Auseinanderfließen
der flammenden Cirruswölkchen und
wie der Himmel mit jeder Minute klarer und strahlender
wurde, als hätte ihn eine verborgene Quelle mit
Bläue übergossen. Die Luft war frisch und dünstelos.
Als Arnold nach Podolin kam, war es schon
ziemlich weit im Vormittag, aber die Häuser sahen
aus, als lägen sie noch im Schlaf.
Bei der Werkstatt eines Mechanikers blieb Arnold
stehen und betrachtete die ausgehängten Flinten und
Hirschfänger. Die Werkstatt lag einige Treppen
tiefer als die Straße. Arnold ging hinunter und
verlangte einen Revolver. Er wählte eine billige
und gewöhnliche Waffe, bezahlte den geringen Preis
und empfahl sich freundlich. Er schritt den Hügel
hinan, kam wieder in die freie Landschaft und sah
plötzlich hinter dem Zaun ihres Gärtchens Agnes
Hanka. Sie schüttelte Zwetschgen von den Bäumen
und sah gesund aus. Kaum hatte sie Arnold erkannt,
als sie freudig winkend zum Pförtchen schritt und
ihm schüchtern lächelnd die Hand reichte. »Ich weiß,
daß Sie mit Alexander befreundet sind,« sagte sie,
»da sind Sie also auch mein Freund.«
Arnold errötete. Er begriff in diesem Augenblick,
was ihn und Hanka auseinandergerissen hatte. Kopfschüttelnd
antwortete er: »Hanka und ich sind Freunde
gewesen; wir sind es nicht mehr durch meine Schuld.«
Agnes lächelte, wie Frauen über Männerumtriebe zu
lächeln pflegen. Sie nahm es nicht recht ernst. Indem
sie offen in Arnolds frisches und von innen
strahlendes Gesicht blickte, welches keine Übernächtigkeit
zeigte, lud sie ihn zu einem Butterbrot und einem
Glas Wein ins Haus. Sie wünschte stets zu geben;
da dies für sie am leichtesten und unverfänglichsten
war, machte sie ihre Speisekammer zu einem Vorzimmer
ihres Herzens.
Arnold hatte Hunger und nahm die Einladung an.
Alsbald setzte Agnes Brot, Schinken, Butter, Honig
und eingemachte Früchte vor ihn hin, rückte einen
Stuhl an die andere Seite des Tisches und sah gerührt
und dankbar dem eifrig Essenden zu, denn sie
hatte seit langer Zeit keinen Gast mehr in ihrem
Hause gehabt. Arnold erzählte mit Vorsicht von
Hanka, denn er erinnerte sich, daß er gewisse Geheimnisse
vor Agnes nicht preisgeben dürfe. Als er
genug gegessen, getrunken und erzählt hatte, erhob
er sich, reichte der lieben Wirtin die Hand und ging.
In ziemlich weitem Bogen führte sein Weg gegen
den Ansorge-Hof. Als er das Haus betrat, erfuhr
er von Ursula, daß um sieben Uhr morgens ein Arzt
und ein Wärter angekommen seien und schon zwei
Stunden später seien Borromeo und Christian mit
jenen beiden wieder abgereist. Arnold zuckte zusammen,
als er dies vernahm, wie wenn sich längstvergessenes
Unheil wieder vor seinem inneren Blick entfalte; aber
dies war nur ein letztes Gedenken. Ruhig wanderte
er eine Zeit über im Hof auf und ab. Dann trat
er von neuem ins Haus, suchte einen Bogen reinen
Papiers aus der Lade, wo dergleichen verwahrt
wurde, setzte sich nicht ohne Umständlichkeit an einen
Tisch und schrieb: »Der Ansorge-Hof fällt nach
meinem Tode mit allem beweglichen und unbeweglichen
Gut an unsere alte Dienerin Ursula Kämmerer.
Mein in ungarischen Staatspapieren auf der Depositenbank
liegendes Barvermögen im Betrage von
achtmalhundertvierzigtausend Gulden laut Kontokorrent
vom 1. Juli a. c. vermache ich meinem
Freunde, dem Statthaltereibeamten Ludwig Wolmut,
zurzeit in Graz. Er soll es auf eine solche
Weise verwenden, die dem in unsern gemeinschaftlichen
Gesprächen oft aufgestellten Ideal angemessen
ist. Ich vertraue ihm. Bei klarem Bewußtsein meiner
selbst und in gerechter Selbstbestimmung habe ich dies
niedergeschrieben zu Podolin in Mähren, am 27. Oktober.
Arnold Ansorge.«
Sechzigstes Kapitel
Es war zwei Uhr nachmittags, als Arnold das
Haus verließ.
Er ging ein Stück am Fluß entlang, bis er zu
einem verwahrlosten Hüttchen kam. Am Ufer hockten
ein Mann und ein Weib und flickten Netze. Im
Wasser lag ein kleines Boot. Arnold bat die Leute
um das Fahrzeug; er wolle nur bis zum Wald hinunter
rudern. Zugleich gab er dem Mann ein Guldenstück
und stieg ein. Stehend, mit der Stange stieß
er das Boot flußabwärts, wobei er lange Ruhepausen
machte, um den strahlenden Himmel oder
sein dunkleres Abbild im dunklen Wasser zu betrachten.
Es schien ihm, als gleite er zwischen zwei
Himmeln dahin.
An einer ziemlich einsamen Stelle, wo der Wald
an beiden Ufern dicht zum Wasser trat, legte Arnold
an und kettete das Boot an einen Stamm. Seine
Blicke fielen auf das hellgrüne Moos, den Blätterteppich,
die glitzernden Gräserspitzen, das Mückengewimmel
in der weißlichen Luft, durch gelbe und
goldene Sonnenstrahlen schießend. Er horchte auf
das feine Sausen des Windes hoch in den Kronen,
auf vielfältige, schläfrige, halberstorbene Laute,
Zweigeknacken, Blätterrascheln, das Flattern kleiner
Vögel. Die meisten Sträucher waren schon kahl;
auf einem kleinen Wiesenstück standen Hunderte
violetter Herbstzeitlosen. In der Tiefe des Forstes
ertönte Hundegekläff, dann ebenso fern das Knallen
einer Peitsche. Bisweilen stieg ein Hauch wie Nebel
zwischen den Stämmen empor.
Die Sonne war am Sinken. Rötlich zitterten die
Tannennadeln in der Luft. Der Himmelsausschnitt,
den eine Lichtung wahrnehmen ließ, veränderte sein
sattes Tiefblau ins Grünlich-Violette. Arnold legte
sich auf eine Schicht von braunem Nadelwerk. Mit
der Hand haschte er nach den Fäden des Altweibersommers,
die ihn umschwebten. Vertieft blickte er
dann auf einen Ameisenzug neben seiner Schulter,
und er fühlte sich klein wie eine Grille und betrachtete
liebend diese Welt der Ameisen und den Wald der
Gräser von unten und innen. Seine Züge wurden
noch ruhiger als bisher, aber auch ernster. Er rückte
ein wenig hinauf, um sich bequem an den dicken
Stamm der Föhre lehnen zu können, die von allen
ringsum am höchsten ragte, als erste das Abendrot
an ihrer Spitze auffing und im Osten zugleich den
Mond begrüßte. Arnold pflückte einen Grashalm
und zog ihn lächelnd durch den Mund, so daß die
tauige Feuchtigkeit seine Lippen erfrischte. Dann
öffnete er den Rock und das Hemd, zog den Revolver
aus der Tasche und drückte die Laufmündung fest
gegen die linke Brust.
Produziert von Markus Brenner und dem Online Distributed Proofreading Team für das Project Gutenberg.
Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf
Grundlage der dritten und vierten, vom Autor neubearbeiteten Auflage
erstellt. Die nachfolgende Tabelle enthält eine Auflistung aller
gegenüber dem Originaltext vorgenommenen Korrekturen.
- S. 082: [Komma entfernt] als fürchtete er sie zu zerzausen.,
- S. 090: tyranischem Übereinkommen → tyrannischem
- S. 102: [evtl.: »Mundwinkeln«] in den Mundwickeln war Feuchtigkeit.
- S. 125: [Anführungszeichen ergänzt] »Wir können uns auf einen großen
- S. 126>: [vereinheitlicht] darauf lächelte auch Emmerich Hyrtl → Emerich
- S. 131: kann kein Schlacht gewinnen → keine
- S. 144: Hals verschwand im Pelz der Mantels → des Mantels
- S. 148: [Anführungszeichen ergänzt] ist dem Teufel zu schlecht.«
- S. 215: einen Salon, in welchen die Sessel → welchem
- S. 226: zwei Billete zum Konzert → Billette
- S. 237: [Punk ergänzt] und darauf sitzenbleiben.
- S. 255: [Anführungszeichen ergänzt] daß du mich liebst«,
- S. 286: die Augen vor Erstauen herausfallen → Erstaunen
- S. 295: [Anführungszeichen] eine Schulter.« Sie haben → Schulter. »Sie
- S. 323: es war ihn dabei zumut → ihm
- S. 324: plauderte im melancholischer Selbstvergessenheit → in
- S. 337: »Glaubst du, ich rechne auf dich«? → dich?«
- S. 339: Ich wolle doch einmal sehen → wollte