Der Mann von vierzig Jahren
Ein kleiner Roman
Man weiß von Sternen, die ohne ergründbare
Ursache ihr Licht verlieren, um entweder für
kurze Frist oder für immer in die Finsternis des
unendlichen Raums zu entschwinden; so gibt es
auch Menschen, deren Schicksal von einem gewissen
Zeitpunkt ab in Dämmerung und Dunkelheit gleitet.
Ein solcher Mann war der Herr von Erfft und
Dudsloch, der gegen das Ende der sechziger Jahre
des vorigen Jahrhunderts zwischen Würzburg und
Kitzingen im unterfränkischen Kreis lebte. Seine
Wirtschaft und seine häuslichen Angelegenheiten befanden
sich in gutem Stand; obwohl es ihm versagt
war, einen Luxus zu entfalten, nach dem er
sich bisweilen in müßigen Stunden sehnen mochte,
erlaubten ihm seine Vermögensverhältnisse doch,
alle Wünsche zu befriedigen, die durch phantasievolle
Neigung oder eingefleischte Gewohnheit in ihm
lebendig erhalten wurden. Die beiden Güter warfen
ein ansehnliches Erträgnis ab, die hypothekarische
Belastung einzelner Grundstücke und Neubauten
wurde mit jeder Ernte geringer, und ein Kapital,
das aus der Mitgift der Frau und den allmählich
angewachsenen Ersparnissen bestand, war in einem
Würzburger Bankhaus niedergelegt. Sylvester von
Erfft konnte mehrere Reitpferde und einen Kutschierwagen
halten, konnte ein ziemlich ausgedehntes
Waldland pachten, um sich dem Vergnügen der Jagd
hinzugeben, konnte mit Agathe, seiner Lebensgefährtin,
kleine Reisen nach einer nördlich oder südlich
gelegenen Residenz unternehmen, weil hier ein
Konzert, ein Theater, dort ein geselliger Zirkel lockte,
und war vor allem nicht daran gehindert, seine
Bibliothek zu bereichern, denn er war ein Mann
von Kenntnissen und lebhaften Interessen.
Doch an alledem fand sein heftiger Tätigkeitstrieb
kein Genügen. In seiner Jugend hatte er
mehrere Jahre in England verbracht, und nachdem
er geheiratet hatte und landsässig geworden war,
beschäftigten ihn lange Zeit hindurch allerlei Reformpläne;
er wollte das Pachtwesen und die Ökonomieverwaltung
nach englischem Muster einrichten; er
regte Versammlungen der Bauern an, in denen er
vorschlug, daß sie sich gegen den drohenden Industrialismus
und die wirtschaftliche Ausbeutung als
starke Gemeinschaft zur Wehr setzen möchten; er
ging sogar damit um, die Erbfolge in den deutschen
Adelsfamilien nach dem Vorbild der englischen
Aristokratie umzugestalten und richtete eine Eingabe
an den König, die von weitem Blick und Sachkenntnis
zeugte, aber nicht im mindesten beachtet
wurde, sondern ihm, als etwas davon verlautete,
unter seinen Standesgenossen Feindseligkeiten und
Spöttereien zuzog. Sein Schwager, der Major
von Eggenberg auf Eggenberg, stellte ihn sogar
wegen dieser närrischen Schrift, wie er sich ausdrückte,
zur Rede; Sylvester schlug es ab, sich zu
rechtfertigen, und lächelte nur, als der Major ihm
sagte, wenn er einen so unbändigen Tatendrang
verspüre, möge er sich doch wählen lassen und als
Abgeordneter nach Frankfurt gehen. Der Herr
von Bismarck sei ja im Begriff, Deutschlands leibhaftiges
Unglück zu werden, und man brauche
Männer im Kampf gegen diesen Drachen.
Von so beschaffener Politik wollte Sylvester
nichts wissen. Mehr als eine höfliche Teilnahme
konnte er denen nicht widmen, die das Räderwerk
der Staatsmaschine in Gang setzten; wer gut regierte,
war ihm schätzbar, den schlechten Herrn machten
eifrige Diener nicht besser. »Ich liebe meine Heimat,«
pflegte er zu sagen, »die Erde, die mich trägt und
nährt, aber es ist mir gleichgültig, was diese Erde
auf den Landkarten für einen Farbenrand hat, und
kein Minister kann von mir verlangen, daß ich ihm
meine Steuern mit einem patriotischen Jubelgesang
bezahle.« Wie so viele aufgeklärte und überlegene
Geister verstand er seine Zeit nicht recht. Es schien
ihm eine tote Zeit zu sein; eine leere und nüchterne
Zeit, eine Zeit der Spießbürger, der schlechten Musik,
der schlechten Bücher, der geschmacklosen Möbel und
des unfruchtbaren Geschwätzes. Ihm dünkte, man
mache nur deshalb soviel Lärm, weil man die Dinge
verwirren und die Ideen verfinstern wollte; er glaubte
nicht an eine gedeihliche Zukunft, ohne Hoffnung
blickte er auf sein Vaterland und ohne Anteil auf
die trügerische Erregung seiner Mitbürger, denn
alles, was er selbst zu ihrem Besten hatte vornehmen
wollen, war schmählich mißlungen.
Dadurch wurden aber sein Lebensmut und seine
Heiterkeit keineswegs getrübt. In den letzten Jahren
hatte er eine große Vorliebe für Gartenkünste gefaßt,
er hatte eine Orangerie gebaut und einen
Gärtner aus Richmond kommen lassen; mit diesem
beriet er stundenlang über die Anlage neuer Wege,
über Pfropfungen und Verpflanzungen. Agathe
unterstützte ihn dabei, soweit sie es vermochte, und
zu der Ritterlichkeit, die er gegen sie an den Tag
legte, gesellte sich Dankbarkeit. Sie war nur um
zwei Jahre jünger als er; dieser Umstand machte
sie um so mehr zu seiner Freundin; bei jedem vortretenden
Anlaß achtete er sie für gleichberechtigt.
Es gab auch Zank, denn er war jähzornig und nicht
ohne Launen, und Agathe war nicht die Person,
die sich sklavisch unterwarf, aber jedesmal fühlte
sie sich entzückt durch sein williges Bemühen, ein
Unrecht vergessen zu machen, das er ihr zugefügt.
Manchmal konnte er sie mit seinen Neckereien bis
zu Tränen bringen; dann nahm er am Abend
irgendein Buch mit schönen Gedichten und las ihr
vor. Im dritten Jahre ihrer Ehe war ihnen ein
Kind geboren worden, ein Mädchen; es hieß Silvia,
war jetzt sieben Jahre alt und sehr schön. Am
Vater wie an der Mutter hing es mit der überschwenglichen
Kraft, die der frühen Jugend eigen
ist, und mit seiner geschmeidigen Gestalt und seinem
heitern Antlitz wandelte er durch die Träume des
Kindes wie ein Gott.
Von irgendeinem Tage ab, niemand konnte genau
sagen von welchem, veränderte sich Sylvesters
Wesen ganz und gar. Eine unentschiedene, schwankende,
zweifelvolle Stimmung war ihm anzumerken, eine
Unlust, die sich bis zur Verdrossenheit steigerte und
die Agathe mehr und mehr Besorgnis einflößte.
Bisweilen versuchte sie es, ihn aus sich herauszulocken,
aber er antwortete nur mit einem Achselzucken
und einem fremden Blick. Er hörte auf,
sich mit Silvia zu beschäftigen; was er mit dem
Kind redete, klang gezwungen und zerstreut.
Umsonst grübelte Agathe über die Ursache der
Verwandlung nach. Umsonst ließ sie Leckerbissen
für ihn kochen; umsonst machte sie ihm einen englischen
Hühnerhund und ein neues Jagdgewehr zum
Geschenk; umsonst waren ihre Anstrengungen, ihn
aufzuheitern; er schien wie eingemauert. Eines Tages
trat sie in sein Zimmer und beobachtete ihn, wie er,
den Rücken gegen sie gekehrt, unbeweglich vor dem
Spiegel saß. Sie erschrak über den Ausdruck seines
Gesichts, den ihr der Spiegel zeigte. Sie näherte
sich ihm; er hörte sie nicht. Er hatte den Kopf
auf die Hand gestützt, und sein Blick war verloren
auf das Ebenbild gerichtet. Sein Auge war voll
Schwärze; um die Brauen hatten sich dunkle Entschlüsse
geballt wie Wolken um ein Gebirge; aus
den Lippen schien eine quälende Frage unhörbar
zu dringen. Agathe schlich davon, und als sie den
Flur erreicht hatte, rang sie stumm die Hände.
Ein anderes Mal geschah es, daß sie ihn, es war
mitten in der Nacht, in der Bibliothek unermüdlich
auf- und abgehen hörte. Sie lag im Bett, aber
schlafen konnte sie nicht. Je länger sie dem Geräusch
seiner Schritte lauschte, je wacher wurden ihre
Sinne. Endlich erhob sie sich, umhüllte die Schultern,
verließ das Zimmer und ging nacktfüßig die Treppe
hinauf. Leise pochte sie, denn sie wollte ihn nicht
überfallen, aber als sie die Klinke herabdrückte, merkte
sie, daß die Tür verriegelt war. Im selben Augenblick
erlosch der Schein in den Ritzen und Spalten, und
drinnen wurde es still. Kein Zweifel, daß er das
Klopfen gehört, und daß er wußte, Agathe sei es,
die vor der Schwelle stand. So genügt also,
dachte Agathe, das Bewußtsein meiner Nähe, um
ihn mit Furcht zu erfüllen, mit Furcht und mit
solchem Abscheu, daß er die Lampe ausbläst, um
mich zu verscheuchen.
Am andern Morgen übergab sie das Kind der
Pflege ihrer Wartefrau und fuhr zu ihrer Schwester
nach Eggenberg. Ihrem Gatten hinterließ sie ein
paar Zeilen, des Inhalts, daß sie Sehnsucht nach
der Schwester empfinde und sich für die Reise um
so leichter entschlossen habe, als sie annehme, daß
er ihrer nicht bedürfe und eine Trennung von acht
oder zehn Tagen ihm in seiner gegenwärtigen Verfassung
vielleicht willkommen sei. Sie lebte bei
Schwester und Schwager wie in einem peinvollen
Exil, doch stellte sie sich völlig harmlos, und kein
Wunsch, drohende Gefahren zu erörtern, war ihr
anzusehen; es widersprach dem Grundgefühl ihrer
Natur, eine Sache vor andere Ohren zu bringen,
die einer nur mit sich selbst und seinem Partner
ausmachen kann. Indessen wartete sie von Tag
zu Tag auf Nachricht; eine ihr eigentümliche Halsstarrigkeit
hinderte sie daran, die Frist zu brechen,
die sie sich selbst gesetzt, und als sie nach Verlauf
von eineinhalb Wochen wieder in Erfft eintraf, erfuhr
sie, daß Sylvester schon vier Tage vorher abgereist
war. Er hatte Adam Hund mitgenommen,
seinen Diener aus früheren Jahren, den er nach
seiner Verheiratung mit einer Aschaffenburger Bierbrauerstochter
als Verwalter in Dudsloch angestellt
hatte.
Kein Brief, kein Zeichen meldete ihr, wohin er
sich gewandt. Frau Österlein, Silvias Pflegerin,
erzählte, er sei in der Nacht zuvor an das Bett des
Kindes getreten, habe es aus den Polstern gerissen
und an seine Brust gedrückt; Silvia habe jedoch
fest geschlafen und von dem Zwischenfall nichts in
Erinnerung behalten. Fast gleichzeitig bekam Agathe
eine Post des Würzburger Bankhauses, worin ihr
ordnungsgemäß mitgeteilt wurde, daß Herr von
Erfft die Summe von zweitausend Talern behoben
habe.
Agathe begab sich in ihr Zimmer, setzte sich hin
und wühlte die Stirn in die Winkel beider Arme
wie in ein Versteck. Sie schämte sich vor dem
Mittagslicht, und die erste Frage an ihr Inneres
war, welchen Makel sie auf sich geladen, welche
Sünde sie unwissentlich begangen haben könne. Sie
war bereit, jeden Fehler in sich selbst zu suchen
und hätte sich eines Verbrechens bezichtigt, wenn
sie es nur zu entdecken vermocht und dadurch Klarheit
erlangt hätte. Das Herz, das ihr am teuersten
war, in geheimnisvoller Weise umschleiert zu wissen,
dünkte ihr unerträglich. Desungeachtet bewahrte sie
vor den Leuten ihre Haltung, und kein Späherauge
war imstande, hinter den wohlwollend ernsten Zügen
den nagenden Kummer zu bemerken.
So verging eine Woche. An einem Nachmittag
stand Agathe im Hof und sprach mit dem Inspektor,
da kam der Bote und reichte ihr einen Brief. Ohne
zu sehen, spürte sie, daß der Brief von Sylvester
war. Diesmal versagte die Selbstbeherrschung:
ihre Hand zitterte, ihr Gesicht erbleichte. Sie eilte
ins Haus; im Wohnzimmer mußte sie sich an die
zugeworfene Türe lehnen und die erregte Brust
erst ausatmen lassen, ehe sie die Briefhülle aufriß.
Dann las sie, und ihre angespannte Miene wurde
mit jeder Sekunde ruhiger, aber auch verwunderter.
Der sonderbare Mann schrieb ihr, als ob es die
natürlichste Sache von der Welt sei, daß er sich
fern von Haus und Hof befand und als ahne er
nichts von Agathes Herzensunruhe. Er wußte seine
Mitteilungen in einen anmutigen Stil zu kleiden;
es war seine vorzügliche Gabe von jeher gewesen,
aber nie früher und nie mit solchem Recht hatte
Agathe dieser Gewandtheit so tiefes Mißtrauen entgegengesetzt;
die glatten und schmuckhaften Wendungen
erschienen ihr wie Lügen, und sie bedurfte
der Mühe großer Selbstüberredung, damit die festgegründete
Achtung sich nicht verringerte, die sie
gegen Sylvester hegte. Er schrieb ihr von gleichgültigen
Bekannten, die er getroffen, von der Familie
des Präsidenten, wo er diniert, von der Einladung
des Großherzogs, nach Karlsruhe zu kommen, von
seiner Reiselust, von einem schlechten Theaterstück
das er gesehen; dann fuhr er fort: »Ich bewohne
zwei elende Zimmer im Gasthof, hoch oben im
dritten Stock, denn wegen der Nürnberger Messe
ist alles überfüllt. Doch hat mir dieses Ungemach
zu einem kleinen Abenteuer verholfen. In
dem Fenster gegenüber ist eines Abends ein junges
Mädchen aufgetaucht. Wir haben einander in
die Augen gesehen wie zwei Wesen von verschiedenen
Sternen. Sie ist mehr als jung, das
Blut in ihren Adern singt vor Jugend; dabei ist
sie melancholisch wie alle Aufwachenden, mit ihren
schwarzen Judenaugen klagt sie mir das Leiden von
vielen Geschlechtern, und ihre Gebärden sind unbeholfen
wie bei Gefangenen. Wenn ich mit de
Vriendts Schach spiele, denke ich an sie, wenn ich
durch die öden Säle der Residenz gehe, um meine
geliebten Tiepolos anzusehen, begleitet sie mich wie
eine flehende Sklavin. Rätst du mir, sie zu verführen,
Agathe? Sie zu verführen, nur um sie loszuwerden?
Ich weiß, du legst auf eine Treue kein
Gewicht, die sich nur um des Scheines willen behauptet.
Du hältst ja wenig von den Sinnenfreuden,
zu wenig vielleicht, um mich ganz zu verstehen. So
weit ich Tier bin, duldest du mich, deine Nachsicht
ist zu überirdisch, als daß sie mich nicht demütigen
sollte.«
Agathe ließ das Blatt sinken und ihre Augen
trübten sich gedankenvoll. Das klang wie Ironie; für
Ironie fehlte ihr das Verständnis. Nach einer Weile
las sie weiter: »Ich war nie der Ansicht, daß Blutstrieb
ein Brandmal der Kreatur sei. Soll ich meinen
Gelüsten eine Larve aufstecken, mit der sie heuchlerisch
in mein Leben grinsen? Liebe ist etwas sehr
Weihevolles, aber auch etwas sehr Irdisches, und
wir müssen nicht fürchten, gemein zu werden, wenn
wir unschuldig genug sind, unsern Körper zu achten.
Ich mache mir nichts aus der schmachtenden Orientalin,
ich mache mir aus keiner was, es ist nur
Begehrlichkeit, und nur lahme Seelen sind begehrlich.
Meine Seele ist lahm, Agathe, sie muß
geheilt werden. Ich werde meinen Aufenthalt verändern.
Wohin ich gehe, kann ich noch nicht sagen;
wann ich zurückkehre, kann ich auch nicht sagen.
Hab Geduld und vergiß für einige Zeit deinen
Sylvester.«
Es war Agathe zumute, als fließe Quecksilber
über ihre Finger. Sie faßte nicht die Worte; aus
einem vertrauten Antlitz sprach eine unbekannte
Stimme; ein böser Geist täuschte die Gestalt eines
Freundes vor. Er ist krank, fuhr es ihr durch den
Sinn, und da nun Silvia mit groß fragenden
Augen vor sie hintrat, als ahne das Kind den
Schmerz und Zwiespalt der Mutter und fordere
stumm eine entscheidende Handlung, beschloß sie
zu ihm zu gehen. Es war Abend geworden, als
sie diesen Vorsatz gefaßt hatte, sie schickte zum Inspektor
hinüber und bestellte den Wagen. Am andern
Tag, in ziemlich früher Morgenstunde, fuhr sie in
die Stadt.
Es war um eine Stunde zu spät.
Agathe stammte aus einer angesehenen Adelsfamilie,
die im Nassauischen begütert war.
Ihr Vater hatte lange Zeit in Frankreich gelebt,
hatte dann in Deutschland tätigen Anteil an der
Revolution genommen und war in den Märztagen
durch einen unglücklichen Schuß getötet worden. Sie
war die jüngste unter sieben Schwestern, die man wegen
ihrer Schönheit die Plejaden nannte. Ihren Gatten
hatte sie bei einem Hofball in Darmstadt kennen gelernt,
Sylvester stand damals im achtundzwanzigsten
Lebensjahr. Er hatte nicht die Absicht, zu heiraten.
Er hatte ein Vorurteil gegen die Ehe, das ihm berechtigt
schien, weil es durch vielfache Erfahrung
und mancherlei Einblick in das Eheleben anderer
Menschen erzeugt und erhärtet worden war. Er
wollte seine Freiheit nicht verlieren; er hatte Angst
davor, an ein Haus, an eine Stube, an einen Tisch
gefesselt zu werden; er wünschte nicht, seine Selbstbestimmung
einzubüßen; er trug kein Verlangen
nach Familienfrieden und ungestörter Idylle, er war
zu sehr an die Aufregungen des Ungefährs, an die
Zufälle und Abenteuerlichkeiten des Umherschweifens
gewöhnt. Er hatte viel von der Welt gesehen, aber
doch nicht genug, die Lockrufe in ihm waren noch
nicht verstummt. Dies alles sagte er Agathe. Er
sagte ihr, daß er nicht für sich bürgen könne.
Allein Agathe wußte ihn zu überzeugen, daß
eine gemeinschaftliche Existenz mit ihr zu seinem
Glück ausschlagen werde, und je länger er sie kannte,
je mehr war er geneigt, ihr zu glauben. Er nahm
eine Art von Tatkraft in ihr wahr, die er noch an
keinem menschlichen Wesen bemerkt hatte. Es war
die Tatkraft gewisser Pflanzen, die aus zartesten
Anfängen zu einer unwiderstehlichen Gewalt emporwachsen,
mit der sie Abgründe überbrücken und
Felsen zerreißen. Dieser nicht zu beirrende Wille
machte ihn zum Untertan Agathes, ohne daß er es
wußte. Er bewunderte sie, ohne es zu wissen. Sie
konnte ihn einfach rauben, denn der Widerstand,
den er ihrer Liebe entgegensetzte, hatte seine Quelle
in einer sonderbaren Furcht vor ihr, Furcht vor ihrer
Entschlossenheit, vor ihrem Mut, ihrer naiven Leidenschaft
und dem stürmischen Tempo, in dem sich ihr
Geist und ihr Herz bewegten, lauter Dinge, denen
er sich nicht gewachsen fühlte. Er war nicht stark
in Handlungen, nicht einmal in Überlegungen, nur
seine Eindrücke waren von großer Tiefe und Unvergeßlichkeit.
Sie liebte ihn mit dem ganzen Ungestüm
ihrer Natur. Er ließ sich von ihr lieben,
und an diesem Punkt begann seine Schuld. Obwohl
er ihre Liebe erwiderte, gab er sie nicht freiwillig
her, sondern er gewöhnte sich so daran, sein
Gefühl erobern zu lassen, daß er völlig passiv wurde
und jeden Zoll zu bezahlen versäumte. Sie verlebten
glückliche und reine Tage, aber Agathe bemerkte
nicht, daß sie ihrem Mann bequem wurde.
Sie schien ihm zur Gefährtin auserlesen, ja er sah
in ihr das Wunder einer Gefährtin, aber mit der
Zeit wurde ihm dies selbstverständlich. Sie ließ
ihm nichts zu erraten übrig, sie enthüllte sich in
jedem Augenblick, und in jedem Augenblick ohne
Rückhalt und ohne Vorbehalt. Wäre sie nicht so
reich erschaffen worden, in seiner Nähe hätte sie
bald verarmen müssen, denn alles was in ihm
schenken und bauen konnte, wurde ihr gegenüber
stumm und lustlos. Trotzdem war ihm ihre Gesellschaft
unentbehrlich, die Jahre gingen hin, die aufwachsende
und zum Menschen werdende Silvia
kettete sie noch fester aneinander, bis eines Tages
eine Unruhe in Sylvester erwachte, über die er sich
lange keine Rechenschaft geben konnte.
An einem Morgen fing es an, als er in ihr
Schlafzimmer trat. Agathe saß vor dem Spiegel
und frisierte sich. Dieses Schauspiel habe ich schon
viele tausendmal gesehen, zuckte es Sylvester durch
den Kopf. Agathe begann von Wirtschaftssorgen
zu sprechen, und er hörte nicht den Sinn ihrer
Worte, sondern nur den Klang ihrer Stimme. Und
irgend etwas in dieser Stimme, sei es der bekannte
Tonfall, sei es die bekannte Folge der Worte, erbitterte
ihn in einer höchst ungerechten und sein
eigenes Gefühl beleidigenden Weise. Er wartete,
welche Bewegung sie machen würde und riet im
stillen, daß sie den Kopf an einer genau von ihm
bestimmten Stelle fassen und auf die linke Hand
stützen würde. Es geschah so, und seine Erbitterung
verwandelte sich in Widerwillen. Er sah ihre auf den
Stühlen liegenden Kleider, die Schuhe, Bänder und
Wäschestücke, und jeder einzelne dieser Gegenstände
vermehrte seinen unheimlichen Haß. Die Decke ihres
Bettes war zurückgeschlagen, und der Geruch des
Frauenkörpers, der dem Linnen zu entströmen schien,
erweckte keine Begierde oder Zärtlichkeit mehr in ihm.
Von jener Stunde an wuchsen Unlust und Unzufriedenheit
beständig in seinem Innern. Daß sie
darunter litt, blieb ihm nicht verborgen, und er
freute sich dessen; ihm war, als müsse er Rache an
ihr üben, ihm war, als hätte er durch Agathe seine
Jugend verloren, als wäre sie die Diebin seiner
Illusionen und seiner Hoffnungen. Die zehn Jahre,
die er an ihrer Seite verbracht, erschienen ihm wie
ebenso viele Jahre der Verbannung und der Kerkerhaft.
Eine schreckliche Angst vor dem Altwerden
packte ihn, und der Spiegel wurde ihm zum Zeugen
der Zerstörung. Der Anblick der Furchen auf seiner
Stirn und der Unebenheiten seiner Wangen verfinsterte
seinen Geist, und oft, wenn er über den
Vernichter grübelte, der so tückisch unter der Epidermis
wühlte, über dies langsame Hinschwinden
und Niederbrennen, erfaßte ihn eine quälende, aber
in ihrem innersten Kern beglückende Sehnsucht, die
er anfangs nicht zu betäuben versuchte.
Eines Nachmittags saß Agathe mit der kleinen
Frau des Inspektors zusammen. Sie schwatzten über
Frauensachen, Sylvester hatte am Tisch Platz genommen
und las in einem Buch; bisweilen blickte
er zu den beiden hinüber und da bemerkte er, daß
die kleine Inspektorin ebensooft einen raschen, erkundenden
Blick auf ihn warf. Er beobachtete sie
schärfer, und sie spürte es sofort, denn sie versteckte
die Füße unter dem Kleid, und Schultern und Arme
zeigten jene koketten halben Bewegungen, die zu
gefallen berechnet sind. Es lag darin etwas Belebendes
für Sylvester. Die sinnliche Strömung,
die zwischen ihm und dem fremden Weib entstanden
war, machte ihn feurig und froh. Er erhob sich
und ging an den Frauen vorüber, und er tat es
nur deshalb, damit er im Vorübergehen mit seinem
Ärmel das Gewand der Inspektorin streifen konnte;
in der Sekunde, in der es geschah, glaubte er sie
zu besitzen; in derselben Sekunde wurde ihm auch
bewußt, daß er fort mußte, fort von Agathe und
dem Kind, daß er dadurch seinen Untergang vielleicht
herbeiführen würde, daß aber sein Bleiben
diesen Untergang nicht verhüten könne. Er stellte
sich dann hinter Agathes Stuhl, Agathe schaute zu
ihm empor, und sie lächelte vergnügt, weil sie ihn
lächeln sah. Aber sein Lächeln galt nicht ihr, es
galt der andern, die auch zu ihm aufblickte. Und
obwohl ihm Agathes Züge vertraut und angenehm
vertraut waren, da ihre Art zu sprechen, zu denken,
zu lachen, zu weinen ihnen die ihm allein enträtselbaren
charakteristischen Formen verliehen hatte, obwohl
ihr Antlitz ihm wie ein Gefäß voll zarter und
heiliger Erlebnisse war, die sein Dasein verändert
und verschönert hatten, hingen seine Gedanken und
Empfindungen doch an dem gewöhnlichen und leeren
Gesicht der Fremden, die nichts weiter als hübsch
war, hübsch, jugendlich und unbekannt.
Er hatte danach die Inspektorin weder gesprochen,
noch hatte er das flüchtige Spiel zum zweitenmal
anzufangen versucht. Aber er hatte sich selbst begriffen.
Er sah ein Gleichnis für seine Not. Jemand
will eine Reise antreten; auf dem Weg zum Bahnhof
begegnet ihm ein Freund, der ihm die Reise
dringend widerrät; die Gesellschaft des Freundes
entzückt ihn, sie verbringen Tage, Wochen, Jahre
miteinander, endlich aber schlägt dem Zurückgehaltenen
das Gewissen; war es gleich kein bestimmter Auftrag,
der ihn einst zu der Reise veranlaßt, so war
es doch sein innerer Trieb; ihm ist, als sei er sich
selber ungehorsam gewesen, als habe er sich selbst
betrogen; ihn peinigt der Gedanke an die Schönheit
der Landschaften, die er nicht gesehen hat, an die
Möglichkeiten und Aussichten, die ihm entgangen
sind, und mag sein gegenwärtiges Glück noch so
groß sein, das Gefühl des unwiederbringlichen Verlustes
wird ihn nicht zur Ruhe kommen lassen.
Sylvester wollte noch einmal frei sein. Weiß
ich denn, an welchem Tag sich die Pforte hinter
mir schließen wird? fragte er sich. Weiß ich denn,
was mich hinschleudern, kraftlos, wunschlos, müde
machen wird? Ihm tauchten Bilder auf von mannigfacher
Lockung. Es riefen ihn Stimmen von allen
Seiten. Er wollte leben, ohne Ziel und ohne Maß
leben. Nicht der Luxus der Städte, nicht Feste und
Geselligkeit zogen ihn hin; es kam wie von einem
Traum. Ergreifen und ergriffen werden waren
Worte, vor denen er wie vor einem Urwald stand.
Wenn er an die unendlichen Gestaltungen des Lebens
dachte, überlief ihn ein Schauer, den er seit seiner
Jugend nicht mehr verspürt hatte. Er taumelte
dahin und suchte Platz. Die Vielzahl der Wege
berückte seine Augen. Eine wechselvolle Erwartung
stürmte wie Brandung in ihm. Es mußten nicht
nur lächelnde Gesichter sein, auch Tränen zu sehen
war er bereit. Schon ahnte er, wie sein Herz verstrickt
wurde; noch ist es nicht zu spät, sagte er sich,
noch ist der wunderbare Magnetismus in mir, den
ich verloren zu haben gefürchtet. Und darauf eben
kam es an. Dies war zu erproben. Seine Seele
war erfüllt von einer Schar bunter Genien; wenn
er im Walde ging oder einsam lag und vor sich
hinsann, gewahrte er Frauen und Mädchen mit
schönen Augen und schönen Haaren; sie warteten
auf ihn; jede war in einer stillbeschlossenen Bewegung;
jede beglückte ihn durch ihre eigentümliche
Weise, zu sein. Aber auch die Wirklichkeit hatte
einen neuen Zauber für ihn gewonnen: eine, die
am Brunnen stand und Wasser schöpfte; eine, die
am Fenster ihrer Kammer saß und zum Mond
emporschaute; eine, die hinterm Zaun auf ihren
Geliebten wartete; eine, die verschleiert in einem
Wagen zur Kirche fuhr; eine, die vor seinem Blick
errötete und sich dann niederbeugte, um ihr Schuhband
zu knüpfen. Jede hatte ihr Geheimnis; die
Augen einer jeden Frau waren geheimnisvoll; er
liebte ihre Augen bis zum Schmerz; jedes Auge
war ihm eine unerforschte Welt; dies war das
Göttliche, das Geisterhafte; aber das Sinnliche,
das Nahe waren ihre Hände, sanfte, stolze Wesen
für sich, sonderbar entkleidet, herrlich gegliedert, unbewußt
die gehütetsten Regungen verratend.
Sein Herz verschmachtete nach Zärtlichkeit, denn
es war ihm klar geworden, daß er die Leidenschaft
nicht kannte. Er hatte geliebt, oft und heftig; er
hatte als junger Mann vieles Ungewöhnliche erlebt
an Begegnungen, an Hingabe, manche Stunde der
Gnade und der Lust, manche Wochen des Rausches,
manche Nacht jener halb gern gelittenen Leiden, die
traurig und erfahren machen, aber ein Gefühl, das
alles bisherige Leben tötet und ein neues dafür
schafft, das auflöst und sammelt in einem Atem,
von dem jeder zu wissen scheint und zu welchem
doch nur Gottes Lieblinge erwählt werden, das
kannte er nicht. Er wollte es kennen lernen. Und
wenn er heimkehren mußte, ohne es gefunden zu
haben, dann wußte er wenigstens, daß es ein
solches Gefühl für ihn nicht gab.
Die junge Jüdin erschien immer zu einer bestimmten
Stunde des Abends am Fenster.
Die Gasse, die Sylvester von ihr trennte, war nicht
zwei Armlängen breit. Man mußte nur vermeiden,
sich über das Sims zu beugen, dann konnte man
von den tief unten gehenden Menschen nicht gesehen
werden. Nachbarn waren nicht zu fürchten;
auf der einen Seite endeten beide Häuser im
Straßeneck, auf der andern erhob sich ein
Torturm.
Der von einer Lampe erhellte Raum, in den
Sylvester täglich schauen konnte, hatte grüne Tapeten;
an der gegenüberliegenden Wand hing das
Bildnis eines alten Mannes, der einen goldnen
Becher in der Hand trug. Sylvester hörte, wie
drüben die Uhr tickte; auf ihrem geschweiften Mahagonigehäuse
stand ein alabasterner Adler mit ausgebreiteten
Flügeln.
Schon am ersten Abend hatte Sylvester das
Mädchen beobachtet. Schweren Herzens war er
im dunklen Zimmer herumgegangen, zu vergessen
gewillt, daß er ein Haus auf dem Rücken schleppte
und daß ein Weib ihm folgte, unfühlbar fesselnd;
da sah er wie in einem Panorama durch die beiden
geöffneten Fenster beider Häuser die an den Tisch
hingelehnte Gestalt; eine Hand, die den Kopf stützte,
lag im schwarzen Haar vergraben, das Gesicht hatte
einen Ausdruck von träumerischem Enthusiasmus,
aber die feuchten Augen besaßen die Glut einer
Nonne, die sich mitten im Gebet an eine sündhafte
Vision verliert.
So sehen sie aus, dachte Sylvester, die
Schläferinnen, wenn das Seelchen zwischen Jubel
und Qual seiner selbst inne wird. Ein Weib zu
belauschen, das sich allein wähnt, das heißt, der
Natur ihr am meisten bewachtes Geheimnis zu
entreißen, dachte er weiter; wie nackt ist solch
ein Seelchen, wie menschenhaft! Bittet und lockt,
wenn das Schicksal schweigt, und zuckt und
wimmert, wenn es spricht. Er war versucht, sie
anzurufen.
Eine leichte Unruhe in den Zügen des Mädchens
belehrte ihn über die Kraft, die der ungewußte Blick
eines andern auszuüben vermag. Sie erhob sich
plötzlich und ging zum Fenster, um es zu schließen.
Ihr Körper war enttäuschend klein, in der Senkung
der Schultern verriet sich Zaghaftigkeit als eine
gewohnte Last. Sylvester beugte sich über die
Brüstung, und das Mädchen stieß einen hauchenden
Schrei aus; es duckte den Kopf und starrte in das
jäh emporgetauchte, unbestimmt erhellte Gesicht des
fremden Mannes. Aber er haschte förmlich nach ihr,
er hielt sie fest durch Blick und Willen. Er
redete; er wußte, daß er nicht laut sein durfte; in
zwei Sätzen erriet er sie ganz, ihr Leben, ihre
Wünsche, ihre Träume, und sie, nicht ahnend, wie
leicht dies sei, umklammerte mit den Fingern den
Fensterpfosten und staunte ihn groß an. Die nie
Umworbene braucht nur begehrt zu werden, und
sie begehrt selbst; sie gleicht dem Schlafwandler,
der beim ersten Laut aus Menschenmund sich gefangen
gibt; ihre Liebe ist Vorrat, ihre Hingebung
der Fall einer reifen Frucht, ein Abenteuer verleiht
ihr Bestimmung.
Den Mut zu antworten fand sie noch nicht.
Aber es folgten andere Abende. Sie war immer
zu dieser Stunde in der Wohnung allein. Sie
ging zum Fenster wie ein Hungriger zur Mahlzeit.
Sie fragte nicht: wer bist du da drüben? sie glaubte
an den unerwartet Erschienenen blindlings. Vielleicht
hielt sie ihn für einen jungen Menschen, doch um
sie zu täuschen, hätte es der Dunkelheit kaum bedurft,
sie sah nur, wonach sie verlangte. Ihre
Ausdrucksweise war der eines Kindes ähnlich, ihr
Vertrauen zur Welt war durch den Argwohn eines
tyrannischen Vaters nur um so schrankenloser geworden.
Sie hieß Rahel und sie war achtzehn
Jahre alt. Ihr Vater war ein Antiquitätenhändler,
und so lange Rahel denken konnte, lebte er einsam
mit ihr in diesem schmalen, hohen und finstern Haus.
Ihre Mutter hatte sie nicht gekannt, sie wußte
nichts von ihr, der Vater sprach nie von ihr.
Während des Tages mußte sie bei ihm drunten
im Laden bleiben; hinter dem Laden war eine
kleine Küche, und dort kochte sie. Es war ihr verboten
mit den Menschen zu reden. Wenn es dunkel
wurde, sperrte der Vater den Laden zu, schleppte
seine Geldtruhe über die drei Stiegen hinauf, und
dann ging er zum Gottesdienst. Seine Furcht vor
den Menschen grenzte an Wahnsinn. Zitternd lag
er in seinem Bett, wenn des nachts die Trunkenbolde
auf der Straße lärmten, und stets verzerrte
sich angstvoll sein Gesicht, wenn der Bäcker am
Morgen die Hausglocke zog. Er bewachte jeden
Blick und Atemzug der Tochter; als sie einmal
einem Vorübergehenden, der sie um den Weg gefragt,
Auskunft erteilt hatte, kauerte er bei ihrer
Rückkehr in den Laden in seinem Polsterstuhl und
heulte dumpf in sich hinein, so daß sie mit Beteuerungen
und ihren eigenen Tränen seinen Kummer
stillen mußte. Ohne seine Begleitung durfte sie
nicht über die Straße gehen, und er geriet schon
in Unruhe, wenn sie die Augen aufschlug. So
war ihr die Welt zum verbotenen Fest geworden, und
wenn es eine Ungeduld gibt, die Ketten sprengen
und Kerkermauern stürzen kann, die ihre war von
solcher Art.
Die abendliche Fensterstunde war schon Erlösung;
das Beisammensein mit der Straße als Abgrund
dazwischen reizte Sylvester zu verwegenen Plänen;
Rahel ließ sich genügen, bis sie die schürenden
Worte des Freundes besser begriff. Ihr war ja
das Wort noch neu; es mußte keimen, vom Mund
zum Ohr konnte es noch nicht Beute der Sinne
werden, aber von der Nacht zum Morgen schlug
es Wurzeln, und dann kam sie erglüht wieder.
Sie war ohne die Gabe der Verstellung; ihre Freude,
ihre Hoffnung, ihr Erstaunen, alles prägte sich in
frische Münze des Ausdrucks um; wenn er ihr
Blumen hinüberreichte, wurde sie stumm und bleich
vor Dank, und sogleich malte sich die Ratlosigkeit
in ihren Zügen, wie sie das Geschenk vor den Augen
des Vaters verbergen könne.
Einmal brachte er ihr rote Rosen; sie geriet außer
sich; sie hatte nicht gewußt, daß man im November
Rosen haben könne, und sie schaute ihn an wie
einen Zauberer. Mit einem fast verstörten Entzücken
fragte sie wieder, wohin sie damit solle; Sylvester
sagte, sie möge sie unter das Kopfkissen ihres Bettes
legen, doch eine, bat er, möge sie an ihrer Brust
bewahren. Sie nickte, und ein Lächeln huschte über
ihr Gesicht; da verlangte er, daß sie es vor seinen
Augen tun solle, aber sie fragte verwundert, weshalb
er dies wünsche. Er antwortete nur, indem er
seine Bitte dringlicher wiederholte. Rahel schüttelte
betrübt den Kopf. Nun stellte sich Sylvester verletzt,
und sie, mit erstickter Stimme, beschwor ihn,
von solcher Forderung abzulassen. Er entgegnete
kalt, ob sie an ihrer Schönheit zweifle, er selbst
müsse zweifeln, weil sie sich so ziere, und sogleich
machte er Anstalten sich vom Fenster zu entfernen.
Als sie sah wie ernst es ihm schien, war sie bereit,
ihm zu willfahren, und obwohl ihr anzumerken
war, wie sie sich vergebens mühte, den Sinn seines
Willens zu ergründen, öffnete sie ihr Gewand und
steckte die erblühteste unter den Rosen zwischen das
Hemd und den Körper.
Sylvester gewahrte die weiße Haut; dunkel bewegt
faltete er die Hände gegen Rahel. Endlich
verstand sie ihn. Wie ein Licht strahlte es aus ihren
Augen, in dieser Sekunde erwachte das Weib in
ihr. Es drängte sie, seine Hinneigung, von der sie
Gewißheit zu haben glaubte, zu belohnen und ihm
durch eine Tat zu beweisen, daß sie sie verdiene;
da streifte sie mit einer keuschen Lässigkeit Kleid und
Hemd völlig von den Schultern und der Büste
herunter und stand vor ihm wie eine Herme aus
Opal. Es sah aus, als ob der Lampenschein ihren
Leib durchglühe, und die schöne Rose, deren Stengel
noch innen hinter dem Gürtel festgehalten war,
glich zwischen den weißen Brüsten einem Wundmal.
Ein süß bescheidener Triumph lag in ihrer Haltung,
und während Sylvester sie regungslos anschaute,
grüßte sie ihn mit einem fast mütterlichen Neigen
des Hauptes, dann schloß sie das Fenster und zog
die Gardine zu.
Es wird Zeit, dies Gespinst zu Ende zu spinnen,
sagte sich Sylvester in einer angenehmen Trunkenheit;
es soll mich nicht fesseln, es soll mich nur
beschäftigen. Am andern Abend warf er ihr ein
Briefchen hinüber, dessen sorgsam berechnete Leidenschaftlichkeit
Rahels Herz entflammte. »Komm zu
mir,« hatte er geschrieben, »komm, wenn es Nacht
ist, komm zu einem Durstigen, du selbst Verschmachtete.
Laß mich nicht unwürdig um dich betteln,
Glück ist ein schnellbeleidigter Gast, nur einmal
wirft es dir den goldnen Schlüssel auf den Weg.
Keine Reue ist brennender als die um das Versäumnis.
Das Schicksal prüft dich, sei nicht sparsam
mit dir, sonst rächt es sich durch einen Geiz, der
dich für immer zu fruchtloser Sehnsucht verdammt.
Komm, ich warte. Nenn' am Tor meinen Namen,
frag' nach meinem Diener, er soll dich über die
Treppen geleiten.«
Den Abend darauf stand er wieder am offenen
Fenster. Ein kalter Regen fiel. Vom Dom schlug
es sieben, es schlug viertel und halb acht, und die
dumpfen Schritte der auf der Gasse Gehenden
klangen spärlicher. Rahels Fenster blieb geschlossen.
Will sie mir nicht einmal Antwort geben? dachte
er zornig, und er fühlte wieder jenen bleiernen Überdruß
in sich aufsteigen, der ihn solange beherrscht
hatte. Aber jetzt knarrte hinter ihm die Türe seines
Zimmers. Er wandte sich langsam um. Die Lampe
war nicht angezündet, es flackerte nur eine Kerze
auf dem Tisch. In dem entstehenden Luftzug wehte
der Vorhang wie eine Fahne weit ins Zimmer
hinein. Rahel schritt zögernd über die Schwelle,
machte leise die Türe zu, blieb dann stehen und
drückte die Hände gegen die Brust. Sie heftete
die Blicke auf den Boden, und ihr Gesicht hatte
einen Ausdruck von Tiefsinn und Verlorenheit.
Sylvester ging auf sie zu und schloß sie in seine
Arme. Sie wagte ihn anzusehen; ihre Augen schienen
zu flehen: sag' mir, wer du bist. Er spürte den
warmen Körper unter dem Gewand, er spürte das
zärtlich ungestüme Blut, doch in seine Freude mischte
sich eine wunderliche Trauer, und je länger er sie
hielt, je kühler wurde ihm ums Herz. Nachdenklich
strich er mit der Hand über Rahels Haar, und
ebenso nachdenklich küßte er die Schaudernde auf
die Stirn und auf die Augen; plötzlich lauschten
beide erschrocken. Vom Flur herein drangen streitende
Stimmen. Gleich darauf wurde die Türe mit Heftigkeit
geöffnet und ein alter Mann mit einem weißen
Bart trat ein.
Bei seinem Anblick duckte sich Rahel; ihr Kopf
fiel wie gebrochen gegen die Brust. Sylvester wollte
den Eindringling zur Rede stellen, aber er begegnete
einem Blick voll solcher Raserei, daß ihm der Mut
verging und er sich nur mit einer fragenden Miene
an seinen Diener Adam Hund wandte, der mit
philosophischem Ernst auf der Schwelle stand und
einem Wachtposten glich, dem man zu seiner Verwunderung
das Gewehr weggenommen hat. Eine
Magd und ein Kellner hatten sich in den stattgefundenen
Wortwechsel gemengt und spähten neugierig
ins Zimmer.
Eine Weile betrachtete der alte Mann stumm
seine Tochter. Die unzähligen Falten in seinem
Gesicht sahen aus wie Striche auf einem radierten
Blatt; die weißen Haarringeln, die von der Stirn
herabfielen, waren naß vom Regen. Auf einmal
packte er das Mädchen bei den Haaren und warf
es nieder; Sylvester und Adam sprangen herzu,
aber er rollte die Augen wie ein Wahnsinniger und
stieß mit den Füßen nach ihnen. Mit einer Kraft,
die ihm niemand zugetraut hätte, schleifte er Rahel
an den Haaren zum Zimmer hinaus, über den Flur,
über die Stiege hinunter, so daß man die Schuhe
der Unglücklichen auf den Stufen klappern hörte,
schleifte sie drunten an einigen Leuten vorbei, die
versteinert zuschauten, weil das Entsetzliche des Vorgangs
jeden Entschluß lähmte, schleifte sie über den
Gang bis zum Tor und dann noch über die Straße
in sein Haus. Während alles dies mit ihr geschah,
hatte das Mädchen nicht einen Laut hören lassen.
Zu spät gewann Sylvester Besinnung und Überlegung
zurück. Als er die Treppe hinuntergerannt
und vor dem Haus des Händlers angelangt war,
hatten sich ungeachtet des strömenden Regens eine
Menge Menschen in der engen Gasse versammelt.
Sylvester rüttelte an der Tür, sie war verriegelt.
In seiner Erregung forderte er die Umstehenden auf,
daß sie ihm helfen möchten, das Schloß zu sprengen,
doch keiner folgte seinem Geheiß, spöttisch und finster
sahen sie ihn an. Da kehrte er um, und als er
über die Stiege hinaufging, fand er einen von
Rahels Schuhen dort liegen. Er hob ihn auf und
nahm ihn mit. In der Wohnung des Juden blieb
es den ganzen Abend über dunkel. Niemals erfuhr
Sylvester, auf welche Weise der Alte von
Rahels Flucht unterrichtet worden war, ob sie ihm
selbst einen Hinweis gegeben, ob ihr Gefühl und
Trieb sie verraten, ob er die Gefahr mit dem Instinkt
der Argwöhnischen gewittert und sie heimlich
beobachtet hatte, ehe sie selbst noch gewußt, was
in ihrem Innern vorging.
Sylvester benutzte einen Teil der Nacht dazu,
um seine Koffer zu packen. Am andern Morgen
reiste er ab.
Als Agathe in der Stadt ankam, blieb ihr die
Beschämung nicht erspart, von den Hotelbediensteten
erfahren zu müssen, daß Herr von Erfft
abgereist sei. Kaum brachte sie es über sich, zu
fragen, ob er nicht eine Adresse hinterlassen habe.
Die Antwort lautete verneinend.
Dann stand sie auf der Straße und überlegte.
»Zum Baron de Vriendts,« befahl sie dem Kutscher.
Der Domherr Baron de Vriendts wohnte in
einem alten palastähnlichen Hause am Residenzplatz.
Sie wurde über eine breite, mit roten Teppichen
belegte Stiege in einen Saal geführt und übergab
dem livrierten Diener ihre Karte. Aus einem entfernten
Raum tönte das Spiel einer Orgel. De
Vriendts galt für einen großen Liebhaber der Musik,
und man erzählte sich, daß eine junge Verwandte
bei ihm lebe, manche behaupteten auch, daß es eine
Fremde sei, ein elternloses adeliges Mädchen, das
eine Virtuosin auf der Orgel war.
In früheren Jahren war de Vriendts häufiger
Gast bei Sylvester und Agathe gewesen; jetzt litt
er dermaßen am Podagra, daß er nicht mehr sein
Zimmer, geschweige denn die Stadt verlassen konnte.
Das körperliche Übel hatte auch seiner Umgänglichkeit
Abbruch getan; so oft Sylvester in der Stadt
gewesen, hatte er gegen Agathe Klagen geführt über
die zunehmende Verdüsterung des einst so lebensfrohen
Mannes.
Der Lakai kam zurück und sagte, Hochwürden
lasse bitten. Sie ging durch ein Zimmer, in welchem
Kupferstiche hingen und alte geschriebene Folianten
auf schmalen Pulten lagen, und durch ein zweites,
in dem sich eine Münzensammlung befand. Dann
mußte sie über einen Korridor schreiten, der Diener
öffnete die Tür, und eine überheizte Luft schlug ihr
entgegen. Bei ihrem Eintritt hörte das Orgelspiel
auf, sie vernahm einen raschen, leichten Schritt
hinter dem Instrument und sah durch den Spalt
einer sich schließenden Tapetentür ein weißes Gewand.
De Vriendts lag in einem Polstersessel;
seine Füße staken in dicken Verbänden. Auf einem
Tischchen vor ihm war ein Schachbrett aufgestellt,
und die majestätisch hinrollende Fuge schien ihn nicht
daran gehindert zu haben, die Position auf dem
Brett zu studieren. Neben ihm in einem Käfig mit
versilberten Stäben hockte ein grüner Papagei unbeweglich
wie aus Stein; zwischen dem Kamin und
der Türe hingen sechs venezianische Marionetten,
deren bunte Kleider und wilde Gesichter etwas Gespenstisches
hatten. Agathe erschrak bei dem Anblick
de Vriendts. Sein Gesicht war eingefallen
und aschfahl; die furchtbare Häßlichkeit der Züge
wurde nur durch den Ausdruck des Leidens gemildert.
Die Entfleischtheit des Kopfes bot einen schaurigen
Gegensatz zu dem dicken und aufgequollenen Körper,
aus dem hart und laut ein gepreßter Atem brach.
Agathe mußte sich Gewalt antun, um ihr Entsetzen,
in das sich Abscheu mischte, zu verbergen. De
Vriendts lud sie mit einer mühsam liebenswürdigen
Bewegung zum Sitzen ein. »Wie jung Sie sind,
wie schlank,« sagte er mit einer hohlen, gellenden,
angestrengten Stimme, und etwas wie Neid und
Haß war in seinen höchst unruhigen Augen.
Stockend brachte Agathe ihr Anliegen vor und
fragte, ob de Vriendts nicht wisse, wohin sich Sylvester
gewandt habe. De Vriendts zog die Brauen
hinauf und erwiderte, er wisse nichts von Sylvester,
der seit vier Tagen nicht mehr bei ihm gewesen sei.
Er heftete einen mißtrauischen Blick auf Agathe
und fragte ein wenig lebhafter: »Ja, ihr lieben
Leute, wart ihr denn nicht glücklich miteinander?«
»Ich war der Meinung, daß wir glücklich seien,«
antwortete Agathe leise, »aber für das Glück bin
ich vielleicht doch nicht mehr jung genug. Mit
siebenunddreißig Jahren muß eine Frau verzichten
lernen, scheint mir.«
De Vriendts legte den Kopf zurück und mit
gleichgültiger Miene schloß er die Augen.
»An wen könnte ich mich nur wenden?« fuhr
Agathe ebenso leise fort. »Ich will ja alles hinnehmen,
ich will ja warten, aber einen Grund will
ich wissen.«
De Vriendts hob jäh den Kopf und sah böse
aus. »Wenn Sie den Weg nicht scheuen und übles
Gerede nicht fürchten, dann erkundigen Sie sich doch
bei Ursanner,« stieß er fast schadenfroh hervor.
»Hat er denn mit Ursanner verkehrt?« fragte
Agathe verwundert.
»Nichts natürlicher, als daß einer mit dem Teufel
anbindet, wenn er von Gott verlassen ist,« versetzte
de Vriendts höhnisch.
Agathe versuchte einzulenken. »Sylvester war
in früheren Jahren sehr befreundet mit Achim
Ursanner,« sagte sie schüchtern.
»Das mag ja sein, jeder Verbrecher war einmal
unschuldig, Ursanner wahrscheinlich auch. Und
damit ich's Ihnen nur offen gestehe: als man mir
hinterbrachte, daß Sylvester mit diesem Menschen
zusammenkommt, habe ich ihn gebeten, mein Haus
zu meiden.«
Ein Frösteln lief Agathe über den Rücken.
Das war der jahrtausendalte, unversöhnliche
Geist der Kirche, der ihrem Herzen fremd blieb.
Sie beschloß, zu Ursanner zu gehen.
Sie schien zu vergessen wo sie war. Vor den
Fenstern lag ein dicker Nebel, der das Zimmer mehr
und mehr verdunkelte. Die Schachfiguren verloren
ihre Farbe und sahen aus wie eine Schar von
Gnomen. Es war ein wunderschönes Elfenbeinspiel;
die Türme hatten goldene Fähnchen auf ihren
Basteien.
Unten auf der Straße zogen Soldaten mit
dumpfem Gleichschritt vorüber. De Vriendts hatte
Agathes Schweigen geschont, weil er ihr Zeit geben
wollte, sich zu sammeln. Nun, da er seiner Christen- und
Priesterpflicht genügt zu haben glaubte, veränderte
sich sein Wesen völlig. »Sie leben doch,
Frau Agathe, Sie leben,« sagte er, und sein Genießermund,
der alle Leckerbissen des Daseins gekostet
hatte, wölbte sich gierig-schlaff, »ihr Lebenden
wißt nicht, was das heißt. Ich, sehen Sie, ich
habe nur noch einen Wunsch, ich möchte noch einmal
singen hören. Nicht von einem Mann, Männer
dürften eigentlich nicht singen. Auch nicht von einer
Frau, Frauen sind schon zu erfahren, das himmlische
Instrument in ihrer Kehle ist verstimmt. Was ich
meine, ist der Gesang vor den Toren des Lebens,
der von Sünde und Tod nichts weiß, der die Wollust
heiligt und das Blut süßer macht. Wenn ich das noch
einmal hören kann, will ich meine letzte Flasche Bocksbeutel
entkorken, den ältesten, der so jung und sanft
wird mit der Zeit und will ihn schlürfen, bis sich der
kleine Rausch in den großen Tod verwandelt hat.«
Er griff nach einer Zeitung, die neben ihm lag.
»Haben Sie von Gabriele Tannhauser gelesen?«
»Von der Sängerin?«
»Schon nennt man sie die Göttliche. Alle
Journale sind voll von ihr. Morgen singt sie in
Karlsruhe. Ich werde hinfahren und wenn man
mir vorher die Beine amputiert.«
Agathe hatte ein seltsames Gefühl von Scham.
Der ekstatische, ja fast irre Blick aus den blaßgrünen
Augen des Greises ängstigte sie. De Vriendts
beleckte mit der Zunge seine Lippen, faltete
die Hände und fuhr mit heiserer Stimme fort:
»Haben Sie nie die Erfahrung gemacht, daß man
eine Blüte mit anderen Augen ansieht, als mit
bloß neugierigen oder bewundernden, wenn man
sie noch in der Knospe gesehen hat? Es mag jetzt
vier Jahre her sein, im Herbst, da fuhr ich von
Rom nach Deutschland und mußte in Augsburg
übernachten. Am Abend ging ich durch die Straßen,
traurig und verstimmt, da komm' ich ans Theater
und lese auf dem Zettel, daß ›Lucia di Lammermoor‹
aufgeführt wird. Die Vorstellung hat schon
angefangen, ich kaufe mir ein Billett, und mit
geringer Erwartung geh' ich hinein. Das Theater
ähnelt einem Stall, überall riecht es nach Öllampen,
kaum hundert Personen sitzen schläfrig herum, und
das Orchester macht einen Lärm, daß mir die Ohren
weh tun. Nicht viel anders sieht es auf der Bühne
aus, Akteure und Aktricen sind mit schmierigen
Lappen bekleidet und singen zum Steinerweichen.
Auf einmal erscheint da ein Persönchen und erhebt
seine Stimme und mir ist, als ob Rom ein
böser Traum sei und Florenz eine Hölle und Deutschland
ein Grab. Mir ist, als juble der süßeste von
allen Engeln über die Auferstehung der Toten, mein
Herz wird klein und groß, meine Augen füllen
sich mit Wasser, die Hände zittern mir, und als
der Vorhang fällt, wanke ich hinaus und lese auf
dem Zettel: Gabriele Tannhauser. Ich habe sie
dann gesehen. Ein jämmerlicher Bursche, den sie
Direktor nannten, hat mich hinter die Kulissen geführt.
Sie saß auf einem Pappendeckelfelsen und
blickte mich mit großen, grauen Augen fremd an.
Sie konnte nicht älter als achtzehn Jahre sein.
Ich nahm ihre Hand und küßte sie und sagte:
später werden Könige dasselbe tun. Sie erhob sich
und ihre Augen leuchteten. Es war etwas Erschütterndes
in diesem zuversichtlichen und zugleich
demütigen Glanz. Ich ging weg wie ein neuer
Mensch, und nicht zwei Jahre hat es gedauert, da
klang dieser Name aus der Dunkelheit in die beglückte Welt.
Nun möchte ich sie noch einmal
hören.«
Agathe schwieg. Sie wußte nichts zu sagen.
Halb war sie erstaunt, halb von ihren quälenden
Gedanken abgezogen. Sie stand auf und verabschiedete
sich.
Sie aß bei einer alten Verwandten zu Mittag,
schrieb dann mehrere Briefe und bestellte den
Wagen, um nach Randersacker zu fahren. Als sie
der alten Dame sagte, daß sie zu Ursanner wolle,
bekreuzigte sich diese und schüttelte entsetzt den
Kopf.
Achim Ursanner war der Sohn eines Flußbaumeisters,
eines angesehenen und in seinem Fach
tüchtigen Mannes. Seine Mutter war eine Französin
gewesen, aber gerade diesem Umstand verdankte
er eine fast trotzige Liebe für sein Vaterland,
für deutsches Wesen und deutsches Leben. Er
hatte die Rechte studiert und dem Wunsch seines
Vaters gehorsam die Laufbahn eines Staatsbeamten
gewählt. Sein Talent, seine Tatkraft wie auch einflußreiche
Verbindungen brachten ihn rasch in die
Höhe, und mit dreißig Jahren war er bereits
Kabinettschef im Ministerium. An dieser Stelle
machte er sich zum erstenmal durch ein reformsüchtiges
Treiben unliebsam bemerkbar, aber je mehr
man diese Eigenschaft bekämpfte, je stärker trat sie
hervor. Es erregte Aufsehen, als er nach vielen
Bemühungen die Wiederaufnahme eines Prozesses
durchsetzte, in dem nach seiner Meinung ein ungerechtes
Urteil gefällt worden war; es erregte nicht
minder Aufsehen, als er in einer Druckschrift gewisse
Mängel der Justiz und der Verwaltung rücksichtslos
an den Pranger stellte, und bald begnügte
er sich damit nicht mehr, sondern ging dem Schlendrian
der Behörden, der Bestechlichkeit der Beamten,
dem Servilismus der Hofschranzen, der Verbrüderung
der Profitmacher und der Nachlässigkeit in der Führung
öffentlicher Geschäfte mit einer solchen Wut und Bitterkeit
zuleibe, daß er eines Tages kurzerhand den Abschied
erhielt und der König ihm befehlen ließ, die
Hauptstadt zu meiden. Seine Frau, eine Münchener
Kaufmannstochter, die er ein Jahr zuvor geheiratet
und die ihn durch Anmut und leichte Lebensart bezaubert
hatte, war bei dieser Nachricht wie aus den
Wolken gefallen, denn sie hatte sich um das, was
ihn erfüllte und gefährdete, nicht im geringsten bekümmert.
Es hatte begonnen als ein Funken; vielleicht
mit einem Ärger, vielleicht mit dem Erstaunen
über eine versäumte Handlung der Billigkeit;
der Widerstand, den sein männliches Eingreifen
erfuhr, hatte ihn erhitzt. Nach und nach mußte
er wahrnehmen, daß er einem solchen Widerstand
überall dort begegnete, wo er das Unrecht
in Recht verwandeln wollte, daß es der Widerstand
der Trägen, der Aufruhr der Bequemen
war. Jetzt wurde ihm Lebensziel, was vorher nur
Wallung gewesen. Sein ganzes Inneres entflammte
sich gegen eine zerrüttete, verdorbene,
faulende Welt.
Er ging in die Heimat. Seine Frau folgte ihm,
mißvergnügt durch die Aussicht auf dauernde ländliche
Langeweile und empört durch den erzwungenen
Verzicht auf ihre gesellschaftliche Stellung in der
großen Stadt. Die Seinen empfingen ihn kalt.
Der Vater grämte sich über den Zusammenbruch
der Hoffnungen, die er auf den einzigen Sohn
gesetzt, zu Tode; die Mutter war verständnislos
und den Einflüssen geistlicher Berater unterworfen.
Ursanner nahm dies alles hin. Er publizierte eine
Rechtfertigung, die eine glühende und beispiellos
kühne Anklage gegen die Regierung war. Er nannte
sich herausfordernd den Deutschen; die Deutschen,
an die er sich wendete, von Mal zu Mal freier,
gesammelter, bewußter und beredter, denen er den
Wurzelfraß ihres nationalen Haders, ihrer Kleingeisterei,
ihrer Verlogenheit und Selbstgenügsamkeit
aufdeckte, nannten ihn den Feind. Er war so gefürchtet
als gehaßt. Das Brandmal eines Verräters
haftete ihm an, in dessen Seele die heißeste
Liebe für sein Land und für sein Volk wohnte. Als
es gar noch bekannt wurde, daß er mit Ferdinand
Lassalle in brieflichem Verkehr stand, dem Erzketzer
und Demagogen, verließen ihn selbst die wenigen,
die bis dahin wenn auch nicht zu seiner Sache,
so doch zu seiner Person gehalten hatten. Damals
hatte sich auch Sylvester von Erfft von ihm zurückgezogen — gezwungenermaßen,
um nicht selbst von
seinen Freunden gemieden zu werden.
Aber es war Achim Ursanner vom Schicksal
nicht bestimmt, auf dem geraden und zweifellosen
Wege des geistigen Kampfes zu bleiben. Die Umstände
rissen ihn ins Kleine und Gemeine und verzehrten
dort seine Kraft. Ein Jahr nach dem Tod
des Vaters starb auch die Mutter. Bei der Testamentseröffnung
stellte sich heraus, daß sie einen Teil des
Grundbesitzes, einen Weinberg und mehrere Äcker,
dem nahegelegenen Karmeliterkloster vermacht hatte.
Achim Ursanner bestritt die Gültigkeit dieser Schenkung
und strengte einen Prozeß gegen das Kloster an.
Sein Einspruch wurde zurückgewiesen; er appellierte;
er brachte Zeugnisse bei, die klärlich bewiesen, daß
seine Mutter in ihren letzten Lebenstagen in getrübter
Geistesverfassung gewesen. Der Prozeß lief
von Instanz zu Instanz und kostete Geld über Geld.
Indessen hatte sich Jakobe, seine Frau, innerlich von
ihm abgekehrt. Ihr Betragen gegen ihn wurde
feindselig und sein Schmerz war groß, als sie es
nicht mehr vor ihm verbarg, daß sie mit den Karmelitern
im Einverständnis war und in ihm, wie die
Mönche sie gelehrt, eine Art von bösem Dämon
erblickte. Als er eines Tages von der Stadt zurückkehrte,
war Jakobe mit den beiden Kindern verschwunden.
Er liebte die Kinder bis zur Vergötterung,
und von der Stunde ab war sein einziges
Bestreben, wieder in ihren Besitz zu gelangen. Er
verwandte darauf seine ganze Umsicht und Energie,
alle Erfindungsgabe und allen Mut. Die Spuren
der Flüchtigen zogen ihn nach den verschiedensten
Gegenden des Landes, ja bis nach Tirol und Verona.
Diese Reisen, das Aufgebot von Helfern und die
Besoldung der Advokaten verschlangen nahezu sein
ganzes Vermögen, und obgleich der Kampf, den er
im Finstern und gegen die Finsternis führte, sein
Herz zermalmte, erlahmte der Wille nicht. Nach
dreizehnmonatlichen Fahrten entdeckte er Jakobes
Aufenthalt. Sie befand sich in einem Dorf in der
Nähe von Nancy, in der Wohnung einer Generalswitwe,
und von dort fuhr sie bisweilen nach Paris,
um sich zu zerstreuen. Nachdem Achim das Versteck
gefunden, traf er alle Vorbereitungen, um die
Kinder zu rauben, und als Jakobe wieder einmal
von ihnen wegfuhr, wartete er den späten Abend
ab, stieg durch ein Fenster in das Haus, nahm die
schlafenden Kinder, von denen das eine sieben, das
andere sechs Jahre alt war, aus den Betten und
entfloh mit ihnen, ohne daß er gesehen wurde. Ein
Wagen zum nächsten Bahnhof stand bereit, und
zwei Tage darauf befand er sich mit den beiden
Kindern wohlbehalten in Randersacker. Aber jetzt
erst erhob sich die wahre Hölle gegen ihn. Jakobe
rief die Gerichte an. Er konnte erhärten, daß ihn
sein Weib ohne Rechtsgrund verlassen, daß sie ihm
die Kinder böswillig genommen und daß er in
erlaubter Notwehr gehandelt, als er sich wieder in
ihren Besitz gesetzt hatte. Neue Prozesse kamen in
Gang. Das Schlimmste war, daß die Bevölkerung
gegen ihn aufgehetzt wurde. Er konnte kaum mehr
wagen, auf die Straße zu gehen. Die Fülle der
Verleumdungen, der Beleidigungen und des niedrigsten
Unflats machte ihn krank vor Ekel. Sein Haus
glich einer Festung. Er mußte von weit her und
gegen hohes Entgelt Leute kommen lassen, die ihm
dienten und seine Kinder beschützten. Er mußte
täglich und stündlich gewappnet sein gegen den
Andrang eines verrohten und mißleiteten Pöbels.
So standen die Dinge um Achim Ursanner, als
Agathe sich anschickte, ihn zu besuchen.
Das Haus lag auf einem Hügel, und ein
Schlangenweg führte hinauf. Agathe ließ
den Wagen unten halten. Es fiel ihr auf, daß
zwei junge Burschen am Tor oben standen und ein
Pfeifensignal gaben, als sie den Weg hinanschritt.
Jetzt erschien Achim Ursanner selbst, warf einen
spähenden Blick auf Agathe und kam langsam
hügelabwärts. Erst als er vor ihr stand, erkannte
er sie, lüpfte den Hut und bot ihr zum Gruß die
Hand.
Er war ein ziemlich kleiner Mann von gedrungenem
Körperbau, kurzhalsig und breitbrüstig;
das Gesicht war von einem rötlichbraunen Bart
umrahmt, und er trug eine Brille mit dicken Hohlgläsern,
hinter denen die Augen bisweilen rasch und
erregt aufblitzten. Seine Züge hatten einen träumerischen
Ausdruck, und der Mund war von fast frauenhafter
Weichheit.
»Was führt Sie zu mir, gnädige Frau?« fragte
er mit tiefer, verwunderter Stimme, während er an
Agathes Seite umkehrte. Agathe schüttelte den Kopf,
wie wenn ihr die Antwort nicht leicht fiele. Als
sie in den Hof getreten waren, schlossen die beiden
Wächter das Tor zu. Drei riesige Doggen sprangen
herbei und umschnupperten Agathe mißtrauisch. Das
Innere des Hauses zeigte Spuren der Vernachlässigung,
die dem Auge einer Frau nicht entgehen konnten.
Von den Wänden war an vielen Stellen der Mörtel
abgefallen, Diele und Treppen waren seit langem
nicht gescheuert, und die Türklinken waren rostblind.
Ursanner schien die Gedanken Agathes zu erraten;
sein resigniertes Lächeln wollte sagen: ein Kranker
putzt sich nicht. Er geleitete Agathe in ein großes,
niedriges Zimmer zu ebener Erde, zündete, da es
schon dunkel wurde, die Hängelampe an und schaute
nun seiner Besucherin ruhig forschend ins Gesicht.
In seiner Haltung, in seinem Auge war etwas von
einem Läufer, der stille steht und sich besinnt, etwas,
wovon Agathe ahnungsvoll ergriffen wurde, so daß
ihr plötzlich der Grund ihres Hierseins klein und
unwichtig vorkam und sie nur mit Überwindung die
Frage nach Sylvester über die Lippen brachte. Sie
hatte sich niedergesetzt und blickte zaghaft zu Ursanner
empor. Da er stumm blieb, fühlte sie das Unzulängliche
der bloßen Frage und fügte in mattem
Ton eine Erklärung ihrer seltsamen Situation hinzu.
»Ich weiß nichts von ihm,« antwortete Achim
Ursanner, genau wie de Vriendts geantwortet hatte.
Dann fuhr er fort: »Wir trafen uns eines Tages
in der Stadt, als ich ins Pfandhaus ging. Anfangs
war er verlegen, aber dann begleitete er mich
bis hier heraus. Ich mußte ihm von meinen Umständen
berichten, und er hörte mir geduldig zu.
Er bot mir Geld an, aber ich schlug es aus. Ein
Mann, der Weib und Kind hat, darf keinem andern
Mann Geld borgen. Er sagte mir, daß er reisen
wolle, und ich beglückwünschte ihn dazu. Und als
er fortging, versprach er, mir zu schreiben. Er hat
mir wohlgetan, es waren ein paar menschliche
Stunden, wir haben uns sogar noch geduzt wie in
früherer Zeit, als wir beim Regiment standen.«
»Er wollte Ihnen also schreiben?« unterbrach
Agathe den hastig Redenden.
»Ja, er wollte schreiben. Sein Händedruck, als
wir schieden, hatte auch etwas Bindendes, und das
war nicht der Fall, als wir uns vor Jahren zum
letztenmal die Hand reichten. Er hatte vielleicht
eingesehen, daß er treulos gewesen, er, gerade er,
mit dessen Namen ich den Himmel gegrüßt hätte.
Aber was soll mir Reue? Ich hab' ihn ja noch
immer gern, doch ein Freund, der vor mir steht
und bereuen muß, läßt mein Herz nicht froh
werden.«
Wie verändert er ist, dachte Agathe; Achim
Ursanner war ihr noch gegenwärtig als eine Gestalt
von eigentümlicher Helligkeit, die Wärme mitteilte
und Offenheit natürlich machte, als ein Mann, dessen
ordnender Verstand jedem Gespräch einen erquickenden
Fluß verlieh und dessen Humor und stille Überlegenheit
jeden Gegenstand adelte, den sein Wort
berührte. So hatte sie ihn vor acht oder neun
Jahren gesehen, als Sylvester den Jugendgefährten
in sein Haus geführt hatte; jetzt aber schnürte sich
in seiner Nähe ihre Brust zusammen, und die ganze
Atmosphäre des Hauses erdrückte sie. Sie beugte sich
weit vor, stützte beide Ellenbogen auf die Knie, legte
die Wangen zwischen beide Hände und mit ernsten
Augen, zwangvoll und furchtsam zugleich, bat sie
ihn, er möge ihr erzählen, was sich in seinem Leben
ereignet hatte; denn obwohl sie vom Hörensagen
mancherlei wußte, und Sylvester bisweilen diese
oder jene Neuigkeit über Achim aus der Stadt mitgebracht
hatte, verlangte sie jetzt doch nach anderm
Aufschluß und sie schämte sich, daß sie nur kannte,
was die betrügerische Fama verbreitet hatte.
Er willfahrte ihr. Er erzählte. Er ging im
Zimmer auf und ab, und es war, als spreche er
zu den Wänden. Seine Sätze waren kurz, scharf,
schneidend. Jeder einzelne enthielt eine Tatsache
und nichts weiter. Es war aufregend, ihn zu hören.
»Nun ist es soweit gekommen, daß Bäcker und
Krämer mir nichts mehr verkaufen wollen,« schloß
er seinen Bericht; »Leute, denen ich einst geholfen
habe, spucken aus, wenn sie mich sehen. Kinder
und Weiber laufen vor mir davon. Heute habe
ich sieben Drohbriefe erhalten, anonym natürlich.
Die Bauern werfen mir Steine auf die Acker, des
Nachts demolieren sie den Zaun und wollen meine
Hunde mit vergiftetem Fleisch umbringen. Wer
mich nur grüßt, der ist schon verfemt, und es war
kein kleines Wagnis von Sylvester, zu mir zu kommen.
Sie, Frau Agathe, scheinen nicht recht gewußt zu
haben, was Sie taten. Ich bin vogelfrei. Wer
mich besudelt, verdient sich einen Gotteslohn. Ich
bin wie ein Aas, an dem sich die Raben mästen.
Nun, wir wollen sehen. Es wird sich ja zeigen,
wieweit die menschliche Niedertracht zu gehen vermag;
es ist eine wahre Begierde in mir, ihre Grenzen
kennen zu lernen; so sonderbar es klingt, ich bin
immer wieder überrascht, wenn sie sich in einer
neuen Entfaltung zeigt.«
Agathe hatte allmählich die Augen gesenkt und
blickte wortlos zur Erde. Hie und da lief ein
Frösteln über ihre Glieder, und es kam ihr vor,
als hätte sie bis zu dieser Stunde nicht geahnt, in
was für einer Welt sie lebte. Ihr ward es dunkel
im Gemüt, und so beredt auch ihr Schweigen für
Ursanner war, sie selbst nahm es für einen Beweis
von Schwäche, ja von Mitschuld. Sie legte die
Hand über die Augen. Achim setzte seine Wanderung
durch das Zimmer unermüdlich fort. An den
Fenstern trug jemand eine Pechfackel vorüber, und
die Flamme war wie ein Band gebogen.
»Wollen Sie mich nicht zu Ihren Kindern
führen?« ließ sich Agathe endlich vernehmen. Ursanner
nickte, sie stand auf und folgte ihm durch
den Korridor über den Flur in den ersten Stock.
Er öffnete eine Türe und sie blieb auf der Schwelle
stehen. Die zwei blondlockigen Knaben saßen auf
der Erde und blickten in ein Bilderbuch. In der
Ecke zwischen Ofen und Wand hockte ein alter
Knecht mit der Tonpfeife im Mund und schlief.
Die Kinder waren blaß und einander ähnlich wie
Zwillinge. Sie bewegten kaum die Köpfe, als die
Tür aufging, sie schauten nur schief zum Vater
und zu der fremden Frau hinüber. Agathe trat
zu ihnen, bückte sich und redete zärtlich auf sie
ein. Doch sie schwiegen trotzig, und auf den
Lippen des älteren Knaben zeigte sich ein sonderbar
lauerndes Lächeln. Ratlos sah Agathe Achim
Ursanner an, und sie bemerkte, daß seine Züge
sich verfinstert hatten und daß sein Mund zuckte.
Sie erhob sich. »Ich muß jetzt gehen,« sagte sie,
»ich möchte am Abend zu Hause sein. Werden
Sie mir Nachricht geben, wenn Ihnen Sylvester
schreibt?«
»Das werde ich, Frau Agathe, das werde ich
unbedingt,« versicherte Ursanner in seinem treuherzigen
Ton. »Und wenn Sie erlauben, will ich
auch Ihren Besuch erwidern, sobald ich aufatmen
kann,« fügte er hinzu; »mir ist, als müßte ich
Ihnen danken, und vielleicht darf ich's, denn sind
Sie auch nicht meinetwegen gekommen, so weiß
ich doch, daß Sie ein zweitesmal meinetwegen
kommen würden. Stimmt es?«
»Es stimmt,« antwortete Agathe, und sie selbst
fühlte etwas wie Dankbarkeit. Er begleitete sie
hinunter zum Wagen; die drei großen Hunde standen
um ihn her, und ihre Augen glühten aus der Dunkelheit.
»Was raten Sie mir zu tun?« fragte Agathe,
während ihre Hand schon den Griff der Wagentüre
gefaßt hatte.
»Wenn ich mir den Eindruck zurückrufe, den
Sylvester auf mich machte, so muß ich sagen, er
ist auf keiner guten Bahn,« entgegnete Ursanner.
»Es ist am besten, wenn Sie ganz stille bleiben.
Seien Sie großmütig. Es gibt im Leben jedes
Mannes eine Zeit, wo er Gott verliert, und wenn
er da einen Menschen hat, der ihn liebt, was ist
natürlicher, als daß der ein wenig Gottes Rolle
übernimmt? Ich hätte nicht gedacht, daß zwischen
euch beiden solche Dinge passieren könnten, aber
eine Ehe ist für den Dritten so ziemlich das Geheimnisvollste
auf der Welt. Und Mann und Weib,
was wissen sie voneinander? Die Nähe macht grausam,
die Ferne blind, Gefühle sind vergeßlich, Worte
Luft. Und trotzdem, glauben Sie mir, wird mit
einem Wort oft viel erreicht. Manchmal, wenn ich
so zwei Leutchen zanken hörte oder einander stumm
zerfleischen, war ich versucht, ihnen zuzurufen: Kinder,
warum sagt ihr euch denn nicht das richtige, gute
Wort? So geht's mir auch im Theater, wenn die
Herrschaften einander Szene machen. Es ist sehr
viel Freiwilligkeit in dem Bösen, das Eheleute einander
zufügen, und jede Liebestat will sich rächen
durch eine Hassestat. Seien Sie großmütig.«
Mit fast ungestümer Bewegung streckte Agathe
dem Freunde die Hand hin, und er preßte sie fest in
der seinen. Dann stieg sie ein, nickte noch einmal
aus dem Fenster, und die Pferde zogen an.
Agathes Herz war schwer. Sie konnte die zwei
Kinder nicht vergessen, das sonderbar lauernde
Lächeln des einen Knaben, den schlafenden Knecht
hinterm Ofen und Achim Ursanners zuckenden Mund.
Es lag für sie eine Unheilsverkündigung in dem
Bild, und ihr dünkte, sie sei mit dem nahenden
Unheil verkettet.
War dies die Ursache, daß sie sich entschlossener
als bisher in ihre Lage fand? War es die Vergleichung
der Schicksale, die sie geduldiger stimmte,
ernster, gesammelter? Sie wandte ihre ganze Aufmerksamkeit
der Wirtschaft zu, überwachte die Lieferung
des Holzes und der Viktualien, die Ausbesserung
der Pflüge und Wagen, die Pflege der Tiere in
den Ställen und rechnete jeden Samstag mit dem
Inspektor ab. Ihr Einblick wurde tiefer, ihre Kenntnis
der Verhältnisse gründlicher und im Umgang
mit den angestellten Leuten zeigte sie sich verständig
und durchaus fähig zu regieren. Aber ihr war,
als ob sie Fleiß und Mühe ans Bodenlose verschwende,
als sie eines Tages von dem Würzburger
Bankier abermals eine Bescheinigung darüber erhielt,
daß an Herrn von Erfft nach Paris dreitausend
Taler geschickt worden seien.
So wußte sie also wenigstens, wo er war.
Bisweilen kam die Inspektorin mit ihrer Geige,
Agathe setzte sich ans Klavier, und sie spielten eine
Mozartsche Sonate. Bisweilen las sie, doch selten
mit Anteil. In manchen Stunden war Schwermut
unabweisbar, und wenn man nach innen
weinen kann, sie spürte solche Tränen; dann floh
sie den Anblick aller Menschen, die auf dem Gut
um sie waren, stieg in das Turmzimmer über dem
Hause und schaute regungslos in die winterliche
Landschaft, bis es Abend wurde.
Einmal erspähte Silvia, wohin die Mutter ging
und folgte ihr. Das kluge Kind stand lange vor
der Türe und wagte nicht, sie zu öffnen; schließlich
setzte es sich nieder, und seine schönen Augen füllten
sich mit Traurigkeit. Es war kalt da oben, der
Wind heulte im Sparrenwerk, und wenn der Schnee
über die Ziegeln rutschte, klang es, als ob Geisterfüße
über das Dach trippelten. Es wurde dämmerig
und Silvia schien es, daß sie ganz allein auf der
Welt sei. Sie lehnte den Kopf an einen schrägen
Balken und gedachte ihres Vaters. Sie malte sich
aus, wie er in der Fremde unter vielen Menschen
herumirrte und wie er den Weg nach Hause nicht
mehr finden konnte, weil überall der Schnee zu
hoch war. Da knarrte die Tür, und Agathe, den
Pelzmantel um die Schultern, trat heraus. Sie
erblickte das Kind sich zu Füßen, erschrak und kniete
nieder. Silvia umhalste die Mutter, ohne zu sprechen;
Agathe bedeckte die Frierende mit ihrem Mantel,
hob sie auf und trug sie hinab. Am Kamin in
der Bibliothek setzte sie das Kind auf ihren Schoß
und erzählte ihm das Märchen vom Wacholderbaum.
»… und als ein Monat vorbei war, da war
der Schnee vergangen, und zwei Monat, da war
es grün, und drei Monat, da kamen die Blumen
aus der Erde, und vier Monat, da drängten sich
alle Bäume in dem Holze und die grünen Zweige
waren alle ineinander gewachsen. Dort sangen die
Vöglein, daß das ganze Holz erschallte, und die
Blüten fielen von den Bäumen. Da war der fünfte
Monat vorbei und die Frau stand wieder unter dem
Wacholderbaum, dort sprang ihr das Herz vor Freude,
und sie fiel auf die Knie. Und als der sechste Monat
vorbei war, da wurden die Früchte dick und stark
und sie wurde ganz still und im siebenten Monat,
da griff sie nach den Beeren und aß sich satt und
wurde traurig und krank. Der achte Monat ging
hin und sie rief ihren Mann und weinte und sagte:
wenn ich sterbe, begrabt mich unter dem Wacholderbaum.
Da war sie getrost, und im neunten Monat
kriegte sie ein Kind so weiß wie Schnee und so rot
wie Blut, und als sie das sah, freute sie sich so,
daß sie starb.«
Silvia schaute drein wie eine Frau, und Agathe
fuhr in ihrer Erzählung fort.
Am andern Tag kam ein reitender Bote von
Achim Ursanner. Er brachte einen Brief des Inhaltes,
daß Sylvester aus Paris geschrieben habe.
»Ich will Ihnen die Epistel nicht schicken,« schrieb
Ursanner, »wozu auch? Er versteckt ja nur sein
Gesicht. Er berichtet von der Schönheit einer
Tänzerin, und daß irgendeine Gräfin eine Liebschaft
mit ihrem Kutscher hat, daß der Marquis de Luzon
aus Indien zwei Tiger mitgebracht hat, daß einer
gewissen Kreolin ganz Paris zu Füßen liegt, und
daß man beim spanischen Gesandten auserlesene
Weine trinkt; er schwärmt von den exotischen Blumen,
die das Fräulein von Feurquiéres züchtet und von
der Juwelensammlung des Herzogs von Praslin;
von dem Bild eines berühmt gewordenen jungen
Malers, von einer Begegnung im Versailler Schloß,
von einer Bootsfahrt in Passy, von lustiger Gesellschaft
auf dem Montmartre und von einem Feuerwerk
im Luxembourg. Genug an dem, es ist Schaum.
Mancher setzt sich einen bunten Kranz aufs Haupt,
wenn ihn das schlechte Gewissen nicht schlafen läßt.
Ich denke viel an Sie, aber ich kann nicht kommen,
damit ist alles gesagt. Letzten Sonntag ist von der
Kanzel herunter gegen mich gepredigt worden. Leben
Sie wohl. A. U.«
Es ist alles aus, dachte Agathe, und sie spürte,
wie es in ihrem Herzen dunkel und öde wurde,
während sie langsam in den Flur ging, um den
Boten zu entlohnen.
In Karlsruhe machte Sylvester Station. Er besuchte
mehrere Freunde, ging zu Hofe und wurde
zu einer Soiree im Schloß geladen. Vorher hatte
er einen ganzen Nachmittag darauf verwendet, sein
Gesicht verjüngen zu lassen, und zwar durch Adam
Hund, der sich auf diese Kunst meisterlich verstand.
Er hatte alle Utensilien in einem schwarzlackierten,
länglichen Kasten, der mit seinen silbernen Spangen
wie ein kleiner Sarg aussah; es befanden sich in
ihm Rasiermesser, Schneide- und Brennscheren, Feilen,
Bürsten, Pinsel und Kämme, Puderschachteln und
Salbentuben, verschiedene Gläser mit Essenzen, eine
Spritze mit kölnischem Wasser, und auf der inneren
Seite des Deckels war ein geschliffener Spiegel angebracht.
Adam Hund war ein magerer Mann; dennoch
wirkte er fett; alles war hell an ihm, das Haar,
das Gesicht und die Augen; dennoch machte er einen
finstern und unzufriedenen Eindruck, wenigstens solange
er nicht redete; er glich einem Kavalier, dennoch
erweckte er ein Gefühl von Fadenscheinigkeit.
Diese widerspruchsvolle Person, bei der man an
allen Ecken und Enden auf die Gegensätze der
menschlichen Natur stieß, hatte sich zu Sylvesters
Ergötzen immer mehr als ein unversöhnlicher Weiberfeind
entpuppt. Das sechsjährige Zusammenleben
mit der bösen Bierbrauerstochter hatte ihn mit
tödlichem Haß gegen das andere Geschlecht erfüllt.
Er war im Besitz einer Liste, die in alphabetischer
Reihenfolge alle schlechten Eigenschaften aufzählte,
die er an den Frauen entdeckt hatte; nämlich: Aberglauben,
Dummheit, Eifersucht, Eigensinn, Habsucht,
Hoffart, Klatschsucht, Launenhaftigkeit, Leichtsinn,
Lügenhaftigkeit, Naschhaftigkeit, Neid, Neugier, Prahlsucht,
Putzsucht, Rechthaberei, Sinnlichkeit, Spottsucht,
Streitsucht, Vergnügungssucht und Verschwendungssucht.
»Und in diesen Pfuhl von Qualitäten
werfen Millionen von Männern ihre arme
Seele,« pflegte er auszurufen, mit einer Gebärde
wie Hamlet, wenn er seiner Mutter den Geist zeigt.
Zuerst hatte er nicht recht begriffen, welchen Zweck
die Reise seines Herrn verfolgte. Der Zwischenfall
mit der schönen Jüdin klärte ihn in einer angenehmen
Weise auf. Er war überzeugt, daß sich
Sylvester in einer Lage befand, die der seinigen sehr
ähnlich war, nur daß er es nicht bei untätigem
Groll bewendet sein ließ, sondern tätige Rache übte.
Er soll nur möglichst viele von den langhaarigen
Satanstöchtern ins Unglück stürzen, sagte sich Adam
Hund, damit sie endlich das Kuschen lernen, und
er hatte das Gefühl, einer Jagd beizuwohnen, die
seine Dienste als Aufpasser und Spurenfinder in
Anspruch nahm.
Während er Sylvesters brünettem Haar einen
jugendlicheren Schnitt gab, dann den Schnurrbart
zurechtstutzte, hierauf das Gesicht mit Fett bestrich,
wie einen Teig knetete und wie eine Metallplatte
rieb, erzählte er die Stadtneuigkeiten, die er ausgekundschaftet
hatte. »Es soll jetzt eine Sängerin
hier sein, die das ganze Mannsvolk behext,« sagte
er; »der Erbprinz ist jeden Tag im Theater, wenn
sie spielt, und es heißt, daß man ihn ins Ausland
schicken will, um ein Malheur zu verhüten. Ein
Legationsrat soll sich ihretwegen erschossen haben,
und in Stockholm, man sollte nicht glauben,
daß es dort droben so hitzige Leute gibt, hat sich
ein Buchhändlersgehilfe aus Liebe zu ihr ins Meer
gestürzt. Gabriele Tannhauser heißt die Kanaille.
Das flötet und lockt, bloß damit unsereiner den
Verstand verliert. Soll ich ein Billett besorgen,
Herr Baron?«
»Also um meinen Verstand ist dir nicht bange?«
fragte Sylvester lachend.
»Nein, Herr Baron; wenn einer die Schliche
kennt, droht ihm keine Gefahr. Sobald ich merke,
daß mich jemand mit einem Köder fangen will,
werde ich doch nicht hineinbeißen; ich lauf' auch
nicht davon, im Gegenteil, ich nehme mir den saftigen
Köder vom Haken und verspeise ihn, dann hat der
Angler das Nachsehen und ich hab' meine Freude.«
»Na ja, von dir kann man etwas lernen,« entgegnete
Sylvester trocken.
Adam Hund hatte seine Arbeit vollendet. Er
zog den Frisiermantel von Sylvesters Schultern,
und mit liebkosend gespitzten Lippen blies er einige
Härchen vom Halse weg. Sylvester trat vor den
Spiegel und halb mit Spott, halb mit Befriedigung
betrachtete er sein Bild. Er sah jung und gesund
aus. Seine Augen glänzten. Er lächelte, um seine
Zähne zu prüfen; sie hatten eine erfreuliche Weiße
und Dichtigkeit. Nun vollendete er seinen Anzug
und verließ trällernd das Zimmer. Wenn jetzt
noch die Sonne schiene, wäre ich ein glücklicher
Mensch, dachte er in einem eigentümlichen Zustand
von Vergessen und Erwartung.
Er ging ins Kasino und hörte, daß an allen
Tischen von dem Konzert gesprochen wurde, das
Gabriele Tannhauser an diesem Abend veranstaltete.
Er wurde gefragt, ob er eine Eintrittskarte habe
und mußte verneinen. »Und Sie haben sie noch
nicht gehört?« — »Nein.« — »Nie gehört?« —
»Nie.« — »Und wollen abreisen, ohne sie gehört
zu haben?« — »Was soll ich tun?« — »Es ist die
letzte Gelegenheit, vielleicht auf Jahre; sie geht jetzt
nach London und dann, wie es heißt, nach Amerika.« — »Wenn
ich Ihnen raten darf, so zahlen
Sie jeden Preis für ein Billett.« — »Man hat mir
keines angeboten.« — »Lassen Sie mich dafür sorgen,
ich werde mich an den Impresario wenden.«
Nach einer Stunde erwies es sich, daß auch
dieser Versuch erfolglos gewesen war. Sylvester
gab sich ohne sonderliches Bedauern zufrieden. Die
allgemeine Erregung berührte ihn peinlich, zumal
er auch Leute von ihr angesteckt sah, für die die
Kunst nicht mehr war als etwa ein Hanswurst auf
dem Marktplatz.
Er setzte sich an den Lesetisch und vertiefte sich
in den Bericht über die letzte Rede, die der Bundeskanzler
im preußischen Landtag gehalten hatte. Der
Mann interessierte ihn, als Mann noch mehr denn
als Politiker; seine Worte hatten etwas Unbedingtes,
doch ihre Kraft wurde durch vielfach bedingte Verhältnisse
scheinbar zerbrochen. Er stand wie in einer
Wolke des Zorns, man spürte den Willen eines geborenen
Herrschers und ein Feuer, das in Sylvester
den Wunsch nach fruchtbarer Werktätigkeit erweckte.
Es war ein Augenblick, wo er plötzlich die Zeit
empfand wie sonst nur sich selbst, ihrer Gärungen
inne ward wie des unterirdischen Rollens eines
fernen Erdbebens und seiner zuschauenden Dumpfheit
sich schämte.
Während er noch las, trat einer von den Herren,
die ihm so ungestüm zugesetzt hatten, in Begleitung
eines älteren Mannes zu ihm, den er als Graf
Blumau vorstellte; der Graf hatte ein Billett zu
vergeben, da seine Frau verhindert war, das Konzert
zu besuchen. Sylvester nahm es mit Dank und
fuhr ins Hotel zurück, um den Frack anzuziehen.
Vor dem Konzerthaus war große Auffahrt. Um
acht Uhr sollte die Produktion beginnen, doch um
halb neun war noch ein Teil des Publikums in
der Eingangshalle vor den Türen festgekeilt. Endlich
befanden sich alle Zuhörer auf ihren Plätzen.
Der Raum war so voll, daß die Köpfe sich auf
unbeweglichen Körpern zu drehen schienen. Der
Lärm der Stimmen glich dem Brummen und Feilen
einer ungeheuren Dampfsäge, und die Hitze stieg
von Minute zu Minute. Sylvester saß in der Mitte
des Saals, dessen beide Seiten glatte weiße Wände
hatten; in halber Höhe der hinteren Schmalwand
war eine Galerie, deren Sitze für die Mitglieder
des Hofes und einige bevorzugte Würdenträger bestimmt
waren.
Plötzlich erschallte eifriges Händeklatschen, dann
richteten sich die Operngläser auf die Sängerin, die
das Podium betreten hatte. Sylvester verschränkte
die Arme über der Brust, was ein Ausdruck von
Kritikbereitschaft war, denn wie es bei eitlen Menschen
oft der Fall ist, waren ihm die Huldigungen unbehaglich,
die man einer Person darbrachte, für die
er selbst nichts fühlte und deren Leistungen er aus
Widerspruchsgeist skeptisch zu beurteilen schon jetzt
entschlossen war.
Ihr Gang ist zu bedächtig, um auf Temperament
schließen zu lassen, nörgelte er; dieses Allerweltslächeln,
das jedem Laffen schmeicheln soll, ich kenne
es; der Klavierspieler hat die Physiognomie eines
Dorfschulmeisters, seine rote Nase erweckt geringe
Hoffnung auf seine Fähigkeit; wozu flüstert sie mit
ihm? Komödie. Im übrigen ist sie gut gewachsen,
das Gesicht ist fein, obschon von deutlich slawischem
Schnitt, die Hände könnten kleiner sein, und die Toilette
betont allzu absichtlich eine bescheidene Führung.
Die ersten Takte von Schuberts Wandererlied
unterbrachen Sylvesters übellaunige Betrachtungen.
Es trat eine so lautlose Stille ein, daß es schien,
als hätten die Menschen von dem Augenblick an,
da sich oben die singende Stimme erhob, keinen
Atem, ja keine Seele mehr in ihrem Leib, als zucke
keine Wimper mehr an ihnen, als höre ihr Blut
auf zu fließen. Es war eine Bezauberung, die
nicht so sehr von der Kunst Gabriele Tannhausers
herkam, von der Kraft und Fülle des Organs,
von der Weichheit und dem seltsam matten Glanz
ihrer Töne, von der Leichtigkeit des Ansatzes, dem
Schmelz und der vogelhaften Natürlichkeit der Übergänge,
obgleich sie diese Eigenschaften, die von zeitgenössischen
Kennern zur Genüge gepriesen worden
sind, in hohem Grade besaß und dabei jene letzte
Meisterschaft erst ahnen ließ, die als Versprechen noch
köstlicher ist denn als Erfüllung, — es war eine in
ihrem Herzen wohnende Gewalt, die ihr die Menschen
unterwarf, das unbewußt Bewußte eines allgemeinen
Leidens, das von stummen Generationen jahrhundertlang
gesammelt wird, um in einem begnadeten Wesen
als Gebet und Klage, Tröstung und Jubel aufzublühen,
es war das, was jede Brust fühlt und doch
nur vom Genius verkündet werden kann, das
schmerzlich Entselbstete, unschuldsvoll Prophetische,
dem auch die vollendetste Kunst nur Krücke und
Behelf ist.
Sylvester sträubte sich noch immer, trotzdem er
jene traumhafte Schwäche empfand, die sich bei
starken Gemütsaffekten einzustellen pflegt, ja er
wehrte sich mit einer Art von Verzweiflung, die ihn
später erstaunte und ihm zu denken gab. Das Lied
war noch nicht ganz zu Ende, als auf den Galerielogen
ein störender Lärm hörbar wurde, der eine
nachhaltige Erregung und entrüstete Rufe veranlaßte.
Viele Leute wandten sich um, auch Sylvester schaute
hinauf, und er gewahrte, daß zwei Lakaien einen
Mann auf einem Liegesessel bis an die Brüstung
trugen und ihn dort niederstellten. Der Mann,
der auf dem Sessel lag, war de Vriendts. Es
graute Sylvester bei dem Anblick dieses Gesichts,
welches dem eines halbtoten Affen ähnelte. Mit
überquellenden Augen starrte de Vriendts auf das
Podium, und seine Kinnlade schlotterte. Gabriele
Tannhauser stutzte; sie schien den tosenden Beifall
nicht zu hören; auf ihren Wangen zeigte sich eine
zarte, fieberische Röte; sie begann das zweite Lied:
In questa tomba; ihre Augen waren unausgesetzt
auf das ihr gegenüber befindliche Gesicht des Domherrn
gerichtet, auf dieses entfleischte Gesicht, dessen
fressende, angstvolle und krankhafte Gier, dessen
vom Tod gezeichnete Häßlichkeit auf einmal wie
ein Alpdruck über dem ganzen Saal lastete. Auch
in Gabrieles Augen war Angst; der gespenstische
Kopf erschien ihr wie eine Drohung; sie empfand
ihre Jugend, ihre Macht, ihre Freiheit als Güter,
die sie nur geraubt; sie erinnerte sich dieses Gesichts,
sie hatte es irgendwo gesehen, und während sie
nachdachte, klang ihre Stimme reiner, rührender
und flehender. Das Publikum raste, als sie geendet
hatte, aber auf der Galerie war ein bestürztes
Zusammenlaufen. Man sah den Domherrn mit den
Händen in die Luft greifen; röchelnde Laute drangen
herunter. Nach einer Weile kamen die Lakaien und
trugen den Sterbenden hinaus. Der Zwischenfall
wurde herumerzählt und zu deuten versucht. Im
Nu bildeten sich Legenden, die den Enthusiasmus
für Gabriele Tannhauser steigerten. Als sie die
letzte Note gesungen hatte, glaubte sich Sylvester
in einem Haufen von Wahnsinnigen. Auf dem
Podium erhob sich ein Berg von Blumen, junge
Männer stürmten hinauf, junge Mädchen knieten
auf den Stufen, aber Gabriele blickte gelassen in
den Tumult; sie hatte den Kopf gesenkt und ihre
niedere Stirn war kindlich verzogen.
Sylvester wurde von mehreren Bekannten um
seinen Eindruck befragt. Er zuckte die Achseln. »Ich
finde nicht, daß sie das ist, was die Welt aus ihr
macht,« antwortete er, »ich vermisse Schwung und
Leidenschaft. Sie hat noch nichts erlebt, dessen bin
ich sicher. Vielleicht ist sie gar nicht fähig, etwas
zu erleben.« Das klang plausibel, und die es vernahmen,
machten ein tiefsinniges Gesicht.
Am andern Abend, bei der Soiree im großherzoglichen
Schloß, lernte er Gabriele Tannhauser
kennen. Sie wechselten nur wenige Worte. Er
fragte sie, ob sie im Frühling in London singen
werde; er selbst sei im Begriff, nach Paris zu gehen,
doch sei es wohl möglich, daß ihn sein Weg auch
nach England führen werde.
»Ja, Sie sollten nach London kommen,« erwiderte
sie, ohne ihn anzublicken und wahrscheinlich
auch ohne an ihn zu denken, »dort ist das Leben
unmittelbarer als irgend sonst in der Welt.«
»Was könnte es Ihnen bedeuten, wenn ich käme,
einer unter den Millionen,« sagte er lächelnd.
Der Unmut, der über Gabrieles Züge flog, zeigte,
wie müde sie solcher Redensarten war. Sie reichte
einem Offizier den Arm, der sie zum Tanz aufforderte.
Sylvesters Eigenliebe war verletzt, und
er suchte eine Gelegenheit, um die Sängerin noch
einmal an sein Gespräch zu fesseln. Es war vergebens,
und er überredete sich, daß ihm die Meinung,
die sie von ihm hatte, gleichgültig sei. Doch war
sein Ehrgeiz erwacht, und allmählich bildete sich ein
Kreis von Menschen um ihn, die er durch seine
Unterhaltung entzückte. Ohne daß er sich darüber
klar wurde, entfaltete er diese Gabe nur für das
junge Weib, das ihm so schnöde den Rücken gekehrt
hatte.
Als er in der Nacht nach Hause kam, berichtete
Adam Hund, daß der Domherr noch während des
Transports auf der Straße verschieden sei. Wie
schade, war Sylvesters erster Gedanke, ich hätte
über de Vriendts mit ihr sprechen können. Unzufrieden
und voll von Wünschen begab er sich
zu Bett.
Unter demselben Dach wohnte in dieser Nacht
Gabriele Tannhauser. Es war spät; zu wissen,
daß alle Menschen schliefen, tat ihr wohl. Sie saß
mit einem Buch bei der Lampe; auf dem Tisch vor
ihr stand eine Schale mit Äpfeln.
Ihr war, als müsse sie die Zeit, die sie in Gesellschaft
verlor, dadurch wieder einbringen, daß sie sich
dem Alleinsein möglichst lange hingab. Die von
keinem häßlichen Gedanken, von keiner unsteten
Empfindung getrübte Ruhe ihres Antlitzes bezeugte,
wie natürlich ihr diese Gewohnheit war.
Sie bedurfte der Menschen kaum. Sie hatte
keine Freundin, keinen Freund. Allen, die sich um
sie bemühten, begegnete sie mit Güte, und angeborene
Liebenswürdigkeit verurteilte sie dazu, auch gegen
die Aufdringlichen Geduld zu üben. In jeder Stadt
waren Personen, denen sie für Dienstleistungen und
Beweise der Ergebenheit verbunden war, Frauen
und Männer, mit denen sie gern verkehrte und für
die sie eine lebhafte Anhänglichkeit verspürte, aber
in Wahrheit hätte sie sie entbehren können. Seit
Sziralsky, ihr wunderbarer alter Lehrer, gestorben
war, hatte sie sich an keinen Menschen mehr so
innig angeschlossen, um nach seiner Nähe zu verlangen.
Mit Anna Ewel, ihrer Zofe, einer Postmeisterstochter
aus Gabrieles böhmischem Heimatsdorf,
reiste sie umher, an keinem Ort verweilend,
von Gasthof zu Gasthof, von Land zu Land, ohne
Erregung, ohne sonderliche Neugier, ohne Launen
und ohne zu ermüden.
Der beständige Wechsel ihres Aufenthalts verhinderte
die Menschen, sich ihrer zu bemächtigen
und sie mit Forderungen zu quälen, die sie nicht
erfüllen konnte. Ihre anmutige, immer gleiche
Freundlichkeit war wie eine Lichtflut um sie gebreitet,
die es schwierig machte, sie genau zu sehen,
und so wußte niemand auf der Welt, wie es eigentlich
mit ihr beschaffen und welch ein merkwürdiges Kind
Gottes dieses junge Geschöpf war, das mitten im
Strom des Lebens und im Glanz des Ruhmes sein
Glück in der Einsamkeit suchte.
Sie hatte keine Familie. Vater und Mutter
waren tot, ein Bruder war vor zwei Jahren bei
Königgrätz gefallen. Wenn sie ihrer Heimat gedachte,
sah sie ein karges Hügelgelände, eine Straße,
die in dunkle Wälder führte, einen regungslosen
Teich, auf dem Gänse und Enten schwammen,
gelbhäutige Kühe, arme Häuser, ein armes gedrücktes
Volk, und über alldem einen blassen Himmel
bei Tag und am Abend funkelnde Sterne. Schwermütige
Abende, wenn aus den Schenken die Tanzmusik
klang oder in einem Zigeunerlager eine Geige
fiedelte, Licht um Licht in den kleinen Fenstern erlosch
und der Mond wie eine glühende Glocke aus
den geheimnisvollen Tiefen der Erde emporstieg.
Erinnerte sie sich während des Singens daran, gewahrte
sie dies Bild, das im Frühlingswerden oder
in der Herbstesneige die Seele mit Frieden und
Trauer erfüllt hatte, so zerflossen die vielen, ihr
zugewandten Gesichter in Dunst, und nur die Augen
strahlten ihr noch entgegen, fremd und fern.
Sie war nicht von der Art jener Künstlerinnen,
denen ihr Auftreten zur festlichen Gefahr wird. Sie
gehörte nicht zu denen, die ein Publikum schmähen,
vor welchem sie zittern. Sie kannte nicht das Fieber
der Vorstunde und die großen Gebärden des Erfolges.
Sie war keine Diva, sie war ein junges
Mädchen, das sang. Die Kunst gab ihr keinen
Rausch und keine Ernüchterung, sie war ihr weder
Lust noch Plage, sondern eine Pflicht. In ihr war
ein Quell, der überströmte und überströmen mußte,
wenn er sie nicht ersticken sollte. Sie arbeitete
täglich viele Stunden, doch niemals mit Angst um
die ihr gewordene Gabe. Sie hatte Ehrgeiz, aber
nicht den zerstörenden und herztötenden; ihr Ehrgeiz
glich dem jener mittelalterlichen Ritter, die Gut und
Blut daran setzen, um ihren Schild fleckenlos zu erhalten.
Es war eine dumpfe Bescheidenheit in ihr;
den Gang aufs Podium oder auf die Bühne trat
sie mit einem für ihre Umgebung unbegreiflichen
Gleichmut an; sie ihrerseits hatte kein Verständnis
für die Ränkesucht und das würdelose Treiben
mancher Fachgenossen, und deshalb spielte sie nur
noch ungern auf dem Theater.
Jeden Morgen erhielt sie Liebesbriefe und
Blumen. Die Briefe verbrannte, die Blumen verschenkte
sie. Ehedem hatte sie eine Leidenschaft
für Blumen gehabt, jetzt machte sie sich nichts mehr
daraus und grollte ihnen, daß sie solchem Zweck
dienen mußten. Der Gedanke an Liebe hatte nichts
Befeuerndes für sie, er besaß nicht einmal die Kraft,
sie zu erwärmen; es entstand keine Hoffnung aus
ihm, höchstens in seltenen Augenblicken eine Furcht.
Bisweilen kam es vor, daß sie über sich selbst erstaunte,
wenn sie sich so zugeschlossen fand, so kühl,
so sehnsuchtslos, so allein im Raum, und sie konnte
wünschen, eine Stimme zu vernehmen, die sie noch
nie gehört und einen Blick zu spüren, der noch
nie auf ihr geruht. Aber nicht mehr als eine
Stimme und einen Blick, nicht mehr; zu viel war
schon die Hand, die fremde Hand, die heiß sein
konnte, zu viel das Wort, das lügen konnte. Ihr
war dunkel zumute, als habe ihre Seele beim Eintritt
ins Dasein den mystischen Befehl empfangen,
niemals Flamme zu werden für eine andere Seele.
Jugend und Gesang waren wie zwei ineinandergewebte
Schleier, die sie nicht emporheben durfte,
wenn sie nicht nackt und wehrlos dem Schicksal
preisgegeben sein wollte.
Es gab aber auch Stunden, wie die der heutigen
Nacht, wo ihr Inneres von einer gleichsam nur
geträumten Unruhe erfüllt war, wo ihre Augen
sich groß öffneten wie die eines erwachenden Kindes
und sie sich fragte: Wer bin ich? Was wird aus
mir?
In seiner Knabenzeit hatte Sylvester einmal im
Herbst in einer Kammer einen Korb mit
frischen Trauben entdeckt. Es war nicht Hunger,
was ihn getrieben, darüber herzustürzen. Da es
die ersten Trauben des Jahres waren, hatte auch
die Freude am Anblick der schönen Dolden, das
Entzücken, sie greifen zu können, seine Gier erweckt.
Er war niedergekniet, hatte jauchzend zwei
Hände voll gepackt und dann das Gesicht, den
Mund, die Zähne förmlich in die Trauben vergraben,
so daß der ausgepreßte Saft nicht nur
über den Gaumen hinab, sondern auch über das
Kinn und die Kleider träufelte.
Daran mußte er manchmal während seines
Pariser Aufenthaltes denken. Es war dieselbe Lust
an der Fülle, dasselbe unbedachte, gefräßige Ansichreißen.
Jeder Tag hatte siebzehn Stunden, oft
auch mehr, und keine Stunde war reizlos. Er
hatte gewichtige Empfehlungen mitgebracht, wurde
glänzend aufgenommen und führte das Dasein
eines großen Herrn. Er wußte sich zu kleiden, er
verstand Geld auszugeben, seine Umgangsformen
waren ohne Tadel, er hatte Bildung und Geschmack,
kein Wunder also, daß man sich um seine Person
stritt. Ihm selbst schien es, als hätten seine besten
Talente bis jetzt geschlummert, als sei er seiner
Fähigkeiten jetzt erst sicher und brauche nur zu
wählen unter den Zaubermitteln, durch die man
die Menschen erobert. Desungeachtet war nichts
von Krampf und künstlichem Feuer in seiner Lebensführung.
Was an ihm gefiel, war seine kräftige
Männlichkeit, eine Grazie des Geistes, die dem
Deutschen doppelt angerechnet wurde, und jener
angenehme Witz, der nicht verwundet und andere
witzig macht.
Eine ununterbrochene Kette von Vergnügungen
hielt ihn gefangen. Die körperliche Frische, die er
mit triumphierendem Behagen täglich spürte, besiegte
jeden Widerstand und gab ihm das Bewußtsein
der Leichtigkeit und mühelosen Erneuerung.
Ich habe zehn Jahre lang gespart, sagte er sich,
nun kann ich Preise bezahlen, die mich nicht
schrecken, so hoch sie auch sein mögen.
Sie waren hoch. Nicht gewillt, sich mit äußerer
Repräsentation und einem oberflächlichen Gesellschaftstreiben
zufriedenzugeben, suchte er ohne Scheu
Gebiete auf, wo die menschliche Existenz nicht bloß
wie ein harmloses Wasser flutet, wo nicht gefälliger
Schmuck und leer verpflichtende Worte über den
Mangel ernsthafter Verbundenheit hinwegtäuschen,
sondern wo aus tieferen Schlünden die Elemente
rauschen und der sich bewahren möchte, zur Entscheidung
aufgefordert wird. Er lernte das Paris
des zweiten Kaiserreichs gründlich kennen. Ein
Schauder erfaßte ihn, wenn er dieser aus trunkenen
Mänaden und wahnsinnigen Silenen gemischten
Tänzerscharen inne wurde; wie da alles nur noch
Schall war, was sonst ein Volk aus seinem Taumel
riß, wie jeder nur von Gnaden des Momentes
lebte, aus hohlem Überschwang Freude saugte und
seinen dürftigsten Götzen zum Idol aufputzte; wie
die Schatten vergangener Größe umherschlichen,
um Almosen der Ehre zu erbetteln, wie jedes Fest
zum Bacchanal wurde und Schönheit und Unschuld
flüchtiger waren als der Seufzer eines Ertrinkenden,
dies erfuhr Sylvester nicht ohne Zurückbesinnen und
Zukunftsfurcht. Aber er wollte nicht Beobachter
sein, er wollte mit diesen leben.
So blieb ihm keine Stätte des Lasters unbekannt,
kein Ort, wo die Ausgestoßenen von lüsternen
Jägern gestellt wurden, keiner von den Sümpfen,
auf deren Grund das Verbrechen wie giftiges Reptil
hauste und auf deren buntem Spiegel mancherlei
bewimpelte Fahrzeuge schwimmen. Er knüpfte Beziehungen
mit einer Italienerin an, die berühmt
kleine Hände und Füße hatte; nach einer Woche
verabscheute er sie; er machte auf einem öffentlichen
Ball am Boulevard St. Michel die Bekanntschaft
einer Strumpfwirkerstochter, die ein unstillbares
Verlangen danach hatte, ein Diamanthalsband
zu besitzen; er kaufte ihr nur einen Ring,
und ihr Gewissen schwieg bei seiner Werbung. Sie
glich einer Nordländerin und hatte das Blut einer
Wilden. Ihre Launen ermüdeten ihn, und er verließ
sie. Hinter einer kleinen Kirche im Quartier
latin wohnte ein Arzt, dessen junge Frau so fromm
war, daß das ganze Viertel darüber spottete. Ein
Student, der hoffnungslos in sie verliebt war, erzählte
Sylvester von ihr. Um sie zu sehen, ging
er in jene Kirche, besuchte dann eines erfundenen
Leidens halber den Arzt und war bald häufiger
Gast im Hause. Er umstrickte die Frau, sie verfiel
ihm, aber der Gatte war nicht blind; was sich
zwischen den beiden ereignet hatte, wußte kein
Mensch; eines Tages waren sie aus Paris verschwunden.
Erbeuten und wegwerfen; bewahrte das Gedächtnis
einen Namen, ein zartes Wort, eine seltene
Gebärde, so war die Mühe belohnt; Gestalt und
Wesen schwanden hin. Wer Blüten pflückt, will
oft kaum riechen; den Strauß in der Hand, mag
er ihn schon nicht mehr weiter tragen, und schleudert
er ihn fort, ist er sorgloser geworden. Aber Sylvester
hatte eine schwere Sorge. Seine Geldmittel
verringerten sich schnell. Die dreitausend Taler,
die er hatte schicken lassen, waren verbraucht. Er verlangte
einen Kreditbrief auf zehntausend Taler und
berechnete, daß er ihn nach drei Monaten erschöpft
haben würde. Eine gleichgroße Summe lag nicht
mehr bereit. Ein Bankier riet ihm, Börsenpapiere
zu kaufen, doch er fand das Geschäft zu unsicher
und zu langwierig. In der Neujahrsnacht kam er
in Begleitung mehrerer junger Engländer in ein
Haus, wo Bakkarat gespielt wurde. Er beteiligte sich
am Spiel und gewann neunzehnhundert Franken.
Acht Tage später ging er wieder hin und gewann
über viertausend Franken. Nach einiger Zeit wollte
er zum drittenmal sein Glück versuchen, aber da
verlor er. Es waren zwar nur dreißig Goldstücke,
aber der Verlust ärgerte ihn, und er wollte ihn
am andern Tag wieder einbringen. Er verlor.
Nun hatte er keine Ruhe mehr und wähnte, das
Glück erzwingen zu müssen. Allnächtlich saß er
bis gegen die Morgenstunde am grünen Tisch,
ruhiger als alle anderen Spieler und von einer
seltsamen Neugier erfüllt, zu erfahren, wann das
Mißgeschick aufhören wurde, ihn zu verfolgen.
Nach Verlauf eines Monats hatte er zweiunddreißigtausend
Franken verloren. Um seine Schulden
tilgen zu können, mußte er das ganze Depot erheben,
das sich noch in Würzburg befand. Darauf
schrieb er an den Inspektor nach Erfft, es müsse
eine Anleihe aufgenommen werden, ein ihm bekannter
Agent in München, an den er sich gleichfalls
brieflich wandte, sollte dazu behilflich sein.
Unter großen Schwierigkeiten wurden zwanzigtausend
Taler flüssig gemacht. Sylvester spielte
trotzig weiter, und in einer Woche verlor er die
Hälfte dieser Summe. Nun erkannte er das Vergebliche
seines Eigensinns, und da ihn nicht so sehr
die Leidenschaft als der Wille beherrscht hatte, das
dumme, blinde Ungefähr zu lenken, bedurfte es
nur eines Entschlusses, um ihn von seinem verhängnisvollen
Weg abzubringen. Freilich trug dazu
ein Ereignis bei, das auch wie ein Spiel begonnen
hatte, aber mit Trauer und Vernichtung enden sollte.
Durch einen jungen Marineoffizier, den er im
Salon der Prinzessin Mathilde kennen gelernt hatte
und der ihm eine herzliche Freundschaft entgegenbrachte,
war er in das Haus des Lords Albany
gekommen. Lord Cecil Albany war ein Mann von
ungeheurem Reichtum, der es liebte, die Wintermonate
in Paris zu verbringen und sich durch seinen
Aufwand in großen Respekt gesetzt hatte. Er hatte
in der Rue St. Honoré einen Palast gemietet und
sah jeden Abend die vornehme Welt bei sich. Doch
geschah dies nur seiner Frau zuliebe, er selbst war
ziemlich menschenscheu und die ihn näher kannten,
schilderten ihn als einen trockenen, hochmütigen und
rohen Patron. Lady Evelyn war eine echte Engländerin,
schlank, anmutig, äußerlich kühl, doch in
irgendeiner Art heimlich besessen. Es war eine unverhehlte
Tatsache, daß sie den Lord wider ihren
Willen und nur auf den Befehl ihrer Eltern geheiratet
hatte. Sie hatte erklärt: Wenn man mich
zu dieser Ehe zwingt, so werde ich alles tun, um
mich zu rächen. Das Zusammenleben mit Lord
Cecil bestärkte ihre Abneigung, und es galt für ausgemacht,
daß sie ihren Gatten betrog. Doch ging
sie dabei mit List und Heimlichkeit zu Werke, und
der Lord hatte bis jetzt nicht die geringste Ursache
gehabt, sich über sie zu beklagen.
Sylvester fand sogleich den Ton, der ihrem
romantischen Wesen zusagte, er gewann ihr Vertrauen,
und nach kurzer Zeit standen sie im innigsten
Einverständnis. Sie ergötzte Sylvester, und er konnte
sie nicht ganz ernst nehmen, obgleich er das Pflanzenhafte
an ihr wahrnahm, das allerdings nur in dieser
besonderen Atmosphäre eines Treibhauses gedeihen
konnte.
Seit sie seine Geliebte war, besuchte sie ihn in
seiner Wohnung; nun geschah es aber, daß Lord
Cecil nach London reisen mußte und seine Rückkehr
erst für das Ende jener Woche in Aussicht stellte.
An einem Abend ging Sylvester zu Lady Evelyn,
und die Vorsicht vergessend, die sie beide bis jetzt
beobachtet, blieben sie bis weit über Mitternacht
beisammen. Als Sylvester durch den beleuchteten
Flur zum Tor schritt, wurde die Nachtpforte gerade
von außen geöffnet, und zu seinem peinlichen Erstaunen
sah er Lord Albany hereintreten. Der Lord
stutzte, griff aber dann nach seinem Hut und grüßte
Sylvester mit außerordentlicher Höflichkeit. Darauf
wandte er sich zur Treppe, und Sylvester verließ
ziemlich beruhigt das Haus.
Indessen rief der Lord sämtliche Diener und
Dienerinnen herbei, bedeutete ihnen, im Vestibül
zu warten, forderte von einem der Mädchen ein
gewöhnliches Kleid, und nachdem er es erhalten
und über den Arm geworfen, betrat er das Schlafzimmer
seiner Frau. Er brauchte keinen andern
Beweis ihrer Schuld als den Umstand, daß sie im
Bette lag. Mit eisigem Gesicht befahl er ihr, sich
zu erheben, warf ihr das Gewand hin und hieß
sie es anzuziehen. Sie gehorchte zitternd. »Nur
wenn Sie augenblicklich das Zimmer und augenblicklich
mein Haus verlassen, können Sie sich eine
körperliche Züchtigung ersparen,« sagte er. Sie sah
ihn an und wußte, daß sie nichts zu hoffen habe.
Sinnlos vor Scham und Angst eilte sie hinaus,
durch das Spalier der regungslosen Dienstleute
hinunter auf die Straße. Lord Cecil sperrte das
Tor hinter ihr zu und bewachte es eine Stunde
lang, um zu verhüten, daß einer von den Leuten
ihr folge und Hilfe leiste.
Erst drei Tage später gelangte die Kunde dieses
Vorfalls zu Sylvester; da Lord Albany selbst sich
in Schweigen hüllte, konnte das Gerücht nur durch
die Mitteilungen der Dienerschaft in die Welt dringen.
Man war entsetzt, man schüttelte den Kopf, und die
Gespräche erschöpften sich in ausschweifenden Vermutungen.
Sylvester war froh, daß nirgends sein
Name genannt wurde, aber der Gedanke an das
Schicksal der unglücklichen Evelyn verfolgte ihn beständig.
Daß sie nicht zu ihm gekommen war und
keine Nachricht gab, zeigte, daß auch sie das Spielerische
und Haltlose ihrer gegenseitigen Beziehungen
empfunden hatte, und seine Sorge um sie verdoppelte
sich. Nach einigen Wochen erzählte ihm der Marineoffizier,
Lady Evelyn habe Mittel gefunden, nach
Essex zu kommen, wo ihre Eltern wohnten, habe
sich ihrem Vater zu Füßen geworfen, sei aber von
diesem mit großer Härte abgewiesen worden, da in
den Augen eines anständigen Engländers ein Ehebruch
unauslöschlichen Makel mit sich bringe, und
eine Frau, die solcher Sünde überführt worden, von
der menschlichen Gesellschaft verstoßen und auf ewig
gebrandmarkt werden müsse. Einer ihrer Brüder
habe ihr aus Mitleid eine geringe Summe Geldes
zugesteckt, und damit sei Evelyn nach London gegangen,
wo sie ein unstetes, ja, wenn man den
Versicherungen des Sir Randolph Canning, eines
Vetters von Lord Albany glauben wolle, verworfenes
Leben führe. Sir Randolph behaupte nämlich, sie
sei jede Nacht in einer berüchtigten Opiumkneipe
im Norden der Stadt zu sehen.
Es kam der Juni, und Sylvester ließ sich von
seinen englischen Freunden überreden, mit ihnen
nach London zu gehen. Er entschloß sich um so
leichter dazu, als er in den Pariser Zirkeln plötzlich
eine feindselige Haltung gegen seine Nationalität
spürte, eine Gespanntheit und zunehmende Kälte,
die er sich nicht erklären konnte und die jedenfalls
durch gewisse politische Machenschaften und Hetzereien
begründet war. Eines Abends, im Foyer der Oper,
stellte er den Herzog von Montmorency zur Rede,
der in seiner Gegenwart eine spöttische Bemerkung
über die »Prussiens« gemacht hatte, und es wäre
zum Duell gekommen, wenn nicht einsichtige Vermittler
den Streit geschlichtet hätten. Eben jener
Sir Randolph, ein jüngerer Sohn des Lord Winchester,
lud ihn ein, die Herbstmonate auf seinem Schloß
in Bangor an der Irischen See zu verbringen. Er
versprach es.
Schon die ersten Londoner Tage zogen ihn in
eine verwirrende Geselligkeit und die Anforderungen
wuchsen mit der Bereitschaft, sie zu erfüllen. Eines
Morgens nahm er eine Zeitung zur Hand, und sein
Gesicht verfärbte sich, als er unter den Todesanzeigen
die Nachricht vom Hinscheiden der Lady Evelyn
Albany las. Lord Cecil verkündete es in Ausdrücken
geziemenden Schmerzes und teilte mit, daß sich die
Leiche in seinem Haus am Trafalgar Square befinde
und er daselbst die Kondolenzvisiten annehmen
werde. Noch am Vormittag erhielt Sylvester den
Besuch eines jener Alleswisser, die über die Ereignisse
in der großen Welt genau unterrichtet sind
und vernahm von ihm, daß man die arme Evelyn
vor zwei Tagen gegen Morgengrauen in einem
Elendsviertel bewußtlos auf der Straße gefunden
habe. Sie sei ins Hospital geschafft worden, habe
dort nur noch ihren Namen flüstern können und
dann sei ihre Seele entflohen. Lord Cecil wurde
verständigt; dem Tod gegenüber zeigte er sich wenn
auch nicht versöhnt, so doch der äußeren Pflichten
seiner Stellung eingedenk; durch ihren Tod wurde
die grausam in den Schlamm des Lebens hinabgeschleuderte
Evelyn wieder zur Lady Albany und
alles was geschehen war, seit sie sich entwürdigt,
wurde einfach als ungeschehen betrachtet.
Sylvester zögerte lange, bis er den Entschluß
faßte, in Lord Cecils Haus zu gehen. Aber er
glaubte es dem Andenken Evelyns schuldig zu sein,
ihrem irdischen Rest einen Abschiedsgruß zu erweisen.
Er wählte eine Stunde, wo er sicher war,
daß man unter vielen Leuten seine Anwesenheit nicht
beachten würde. Jedoch seine Erwartung traf nicht
zu. Als er in den Saal kam, in welchem die Tote
auf einem mit schwarzem Sammet ausgeschlagenen
Katafalk lag, waren die meisten Besucher schon
weggegangen, und einige Personen, die flüsternd in
einer Ecke des Raumes standen, waren ebenfalls
im Begriff, sich zu entfernen. Sylvester trat an
den Sarg und blickte in das ergreifend zerstörte,
unendlich abgehärmte Antlitz, dessen starre Ruhe zu
trügen schien, und dessen Blässe phosphorisch leuchtete.
Während er noch niederschaute, sah er plötzlich dicht
neben sich Lord Cecil Albany. Der Lord hatte die
Hände auf dem Rücken, wandte Sylvester den Kopf
langsam zu und sagte mit heiserer Stimme: »Sie
war schön, nicht wahr?« Sylvester zuckte zusammen,
die Augen des Lords verdrehten sich unheimlich,
als er seine Worte wiederholte: »Sie war schön,
nicht wahr?«
Da senkte Sylvester die Stirn, kehrte sich um
und ging schweigend hinaus.
Seiner selbst überdrüssig sein ist schrecklicher als
sterben. Jeder Gedanke wird Anklage, das
Herz erstickt in Melancholie, der Schritt spottet seines
Zieles, nur Ekel saugt das Auge aus den Dingen,
die Hand, wonach sie auch greift, sie hält nichts,
der Mund mag nicht mehr reden, das Ohr nicht
hören. Sich auskleiden am Abend, sich anziehen
am Morgen, wozu? Und die Menschen, was soll
ihre Eile frommen, ihr Gelächter, ihr Nein und Ja,
ihr Schön und Häßlich; wie zwecklos dies Anzünden
von Lichtern und Auslöschen von Lichtern, dies Abreisen
und Wiederkommen, der Schmuck von Wänden,
die Zierat der Städte, all dies Vergebliche, ach, so
furchtbar Vergebliche!
Unheilvoller als vor Monaten in der Heimat
gewann solche Stimmung Macht über Sylvester.
Er blieb tagelang in seinem Zimmer, schloß die
Läden zu und lag in der Dunkelheit. Jedes fremde
Gesicht war ihm unerträglich und jeder Laut von
der Straße verstörte ihn. Wenn der treue und
besorgte Adam an die Türe pochte, antwortete er
zuerst überhaupt nicht, dann übermannte ihn der
Zorn und er befahl ihm unter Schimpfworten, sich
zu trollen. In später Nacht ging er aus, um zu
essen und kehrte oft hungrig wieder heim. Am
liebsten weilte er am Fluß, in später Nacht; beugte
sich über ein Brückengeländer und sah zu, wie das
Wasser floß und Barken und kleine Dampfer dahin
glitten. Er wollte sich nicht Rechenschaft darüber
geben, was er unterlassen. Er war nicht gewohnt,
über sich nachzudenken. Sein Schmerz hatte nichts
mit seinen Handlungen zu schaffen, obwohl er sich
klar darüber war, daß er nichts Gutes und Heilsames,
sondern nur Schädliches und Schlechtes durch
sie hervorgebracht hatte. Erinnerte er sich an die
Begegnungen der letzten Zeit, an die Abenteuer und
Verstrickungen, so fand er sich um so leerer und
kälter, je deutlicher er sie vergegenwärtigte, und
Evelyns bleiches Totenantlitz hatte nur einen Flammenschein
in die Kälte und Armut seiner Brust
geworfen wie eine Fackel in die Ruine eines Hauses.
Sein Schmerz strömte aus dem allertiefsten Grund
des Lebens, und mit ihm stieg zuweilen eine unermeßliche
Sehnsucht empor, in deren Umklammerung
er sich ohnmächtig hinschleppte.
Einmal träumte ihm, er sei mit Adam Hund
von Erfft aufgebrochen. Sie ritten durch den Wald,
Adam mit einer brennenden Fackel voraus. Es ist
eine stürmische Nacht, die Zweige krachen und seufzend
biegen sich die Stämme. Eine Regenflut prasselt
nieder und verlöscht die Fackel. Die undurchdringliche
Finsternis tötet alle Hoffnung in Sylvester,
und er kann nichts denken als das eine: nur nicht
zurück, nur nicht mehr nach Hause. Er spürt den
warmen Leib des Pferdes und vernimmt Adams
häufigen Zuruf, der sich seiner Nähe versichert. So
irren sie viele Stunden lang umher, und als der
Morgen graut, fangen die Pferde an zu wiehern,
und Sylvester gewahrt durch Nebel und Regen
hindurch sein Haus. Darüber empfindet er eine
solche Verzweiflung, daß er sich über den Hals des
Pferdes beugt und ihm ein Messer in die Brust
stößt. Ein Blutstrahl quillt auf, steigt immer höher
empor und leuchtet wie Feuer. Adam ist verschwunden,
das Haus ist leer, Sylvester sucht und
weiß nicht wonach, keuchend läuft er durch unbekannte
Räume, die Luft ist rot von der Blutfontäne,
er sinkt erschöpft zu Boden und erwacht.
Bei diesem Erwachen faßte er den Vorsatz, wieder
unter Menschen zu gehen, damit die in seiner
Nähe lebten, nicht das beständige Schauspiel selbstzerstörenden
Tuns vor Augen hätten. Er rief Adam
zum Rasieren, der schleppte mit heller Freude seinen
Kasten herbei und behandelte Sylvester wie einen
von Krankheit Genesenden; im übrigen war er schlecht
auf England zu sprechen, weil er nirgends Suppe
zu essen bekam, und nannte die Engländer traurige
Hungerleider. Seine Gefräßigkeit wuchs im selben
Maß wie seine zarteren Bedürfnisse schwanden.
Nur um die Zeit zu füllen ging Sylvester am
Abend ins Coventgarden-Theater, nicht weil Gabriele
Tannhauser dort sang. Um so unerwarteter war
der tiefe Eindruck, den sie auf ihn machte. Zwei
Tage später traf er sie auf einem Rout bei der
Herzogin von Devonshire. Sie gewahrte ihn, als
er unter die Türe trat, schien sich seiner zu erinnern
und lächelte ihm flüchtig zu. Da sie von
Bewunderern umlagert war, verschmähte er es, zu
ihr zu dringen. Es fiel ihm auf, daß sie sich ganz
und gar nicht als Dame gab, ganz und gar nicht
als Stern für eine entzückte Menge, aber er vergaß
nicht, wie schlank und fein sie dastand, spärlich in
Gesten und wachsam hinter ihren besonderen Verschleierungen.
Die vielfachen Wege des gesellschaftlichen Lebens
hatten Stationen, auf denen man sich immer begegnete.
Schon am andern Tag sah er Gabriele
auf einem Ball bei Lady Tankarville wieder, und
am darauffolgenden bei einem Diner im Hause des
Lord Keith. Sie hatte großen Erfolg in London,
alle jungen Männer lagen ihr zu Füßen, und ehrwürdige
Granden des Reichs gehörten zu ihren
Anbetern. Sie schien es kaum zu merken. Die
Last der Verpflichtungen, die ihr der Ruhm auferlegte,
bedrückte sie. Sie klagte gegen Sylvester,
daß sie unter dem Klima leide. Er riet ihr körperliche
Bewegung an, empfahl ihr zu wandern, zu
reiten und machte sich erbötig, sie bei Ausflügen
zu beschützen. »Ich bin ein armer Sklave,« antwortete
sie, »ich kann mein Joch nicht abtun.«
Im Herbst wolle sie sich erholen, sagte sie; sie sei
von den Cannings eingeladen, nach Bangor zu
kommen und habe die Absicht, einige Wochen dort
zuzubringen. Es berührte sie nicht unangenehm,
als Sylvester ihr mitteilte, daß auch er in Bangor
sein werde. Sie fand Gefallen an der Unterhaltung
mit ihm. Sein offenes, geistig durchwühltes Gesicht
hatte ihre Sympathie erweckt.
Sylvester hatte eine alte Freundin in London,
eine Frau von Rhynow, die Gattin eines Konsuls.
Sie war förmlich verliebt in Gabriele, der sie in
dem fremden Land viele Dienste leistete, und da
sie ein Vergnügen daran fand, Menschen zusammenzubringen,
die sie gern hatte, lud sie Gabriele und
Sylvester häufig zur Teestunde ein. Übertriebenes
Zartgefühl ließ sie glauben, daß das harmonische
Gespräch der beiden durch ihre Gegenwart gestört
werde, und so ging sie meist aus dem Zimmer,
nachdem sie ihre Gäste bewirtet hatte. Die Zurückgelassenen
mußten ihre Situation scherzhaft nehmen,
wenn sie ihnen nicht verfänglich scheinen sollte.
Gabriele war ohne Arg, auch gegen sich selbst.
Sie war der Nähe eines Menschen froh, der fest in
seiner Welt stand und ihre Empfindlichkeit gegen
dieselbe Welt milderte. Sie durfte immer wieder
in ihre Einsamkeit zurückkehren, sie hatte die Sicherheit,
sich nicht verlieren zu können und als sie erfuhr,
daß er verheiratet sei, wuchs ihr Vertrauen
gegen ihn, ein mädchenhafter Zug und ein philiströser
zugleich. Sylvester betonte sein Gefühl der
Freundschaft; er sagte, daß sein Herz müde sei, und
er glaubte es. Der Magnetismus, den zu erproben
er ausgezogen, er spürte ihn nicht mehr; er hatte
ihn verschwendet, in Kleinmünze zerstückt. Er hielt
sich für unfähig, zu entflammen und unfähig, entflammt
zu werden. Wenn er Gabriele vor sich sah,
in der Herrlichkeit einer Jugend, die sie wie eine
Bürde trug, wenn er in ihre Augen blickte, in denen
unbewußt und ergreifend die Schönheit der Bereitschaft
war, dann dünkte ihm Resignation natürlich
und anständig.
In dieser stolzen und ergebenen Stimmung
schrieb er an Achim Ursanner, an den er sich jetzt
zuweilen wie an einen heimlichen Boten wandte:
»Daß ich in meiner Zeit lebe, ist mein Schicksal;
daß ich sie betrachte, enthält schon einen Triumph
über das Schicksal. Vor ihr stehe ich wie vor einem
Spiegel. Sie atmet mir die Welt entgegen, sie
zeigt mir die Menschheit in dem Augenblick, wo ich
es vermocht habe, mich ihr zu entziehen. Meine
Selbstbesinnung ist mein Sieg über die Zeit. Ich
kann die Augen schließen, und Welt und Zeit strömen
in mich hinein, kein einzelnes hat mehr Gewalt über
mich, ich habe die Gewalt des Träumers über das
Ganze. Ich möchte mich mit einem Trauernden
vergleichen, der in unzugänglicher Abgeschlossenheit
haust, dennoch sich gehetzt, bedroht, aufs äußerste
beunruhigt fühlt, und der gerade in der Sekunde
der letzten Hoffnungslosigkeit einen zauberhaften
Trost empfängt, so daß seine Stirn, von der neuen
Morgenröte berührt, einen Schein mystischen Entzückens
ausstrahlt, während die Brust noch in einer
poesielosen Finsternis begraben ist.«
Aber Sylvester irrte sich. Die ganze Weisheit
war gewünschtes Mißverständnis dessen, was in ihm
vorging. Lockte ihn nicht die Gebärde, mit der die
Freundin nach einer Notenrolle griff? Und jene,
mit der sie die Arme hob, um den Schleier zu
binden? Und jene halb fürstliche, halb zaghafte,
mit der sie eine Tür öffnete? Gab nicht ein
schelmisches Lächeln, ein verstohlener Blick Stoff zu
Grübelei? Folgte nicht die Phantasie der schlanken
Gestalt in ihr Alleinsein? Belauschte sie nicht die
Gedanken hinter der eigentümlich gefesselten Stirn
des Mädchens? War nicht sein Gleichmut erheuchelt,
spürte er nicht, wie er sich wandelte, seinen
Bindungen entfloh, seiner Gewißheit entschlüpfte?
Als sie bei Lady Jersey Polens Klage von
Chopin sang, dieses Lied, in dem eine von Visionen
umschauerte Melodie aus der von leidenschaftlichem
Kummer verdüsterten Begleitung emporsteigt wie
eine Liebende, die sich krank vom Lager erhebt, um
noch einmal den Geliebten zu umarmen, empfand
er zum erstenmal die Scham, mit der man einen
heimlichen Besitz zum öffentlichen Gut werden sieht,
und er hatte Mühe, sein eifersüchtiges Fieber zu
verbergen. Ihm war, als entkleide sie sich und
wisse es nicht, werfe sich hin vor die allgemeine
Gier, geschändeten Herzens, sie, die das züchtigste
besaß. An jenem Abend ging er nach Hause wie
ein Betrunkener, ließ die Lampe brennen, bis es
Tag wurde, hatte die Augen offen und vermochte
nicht zu denken.
Er hatte bis zu dieser Stunde gehandelt und sich
betragen als ein Mann, der frei ist, den keine
Pflicht kettet, keine Rücksicht lahmt; er hatte sich
losgelöst von Weib und Kind, hatte nicht geschrieben,
ihrer kaum gedacht und zehn Monate lang ein
Leben geführt, wie wenn die zehn Jahre vorher
nur die Episode einer Nacht gewesen wären. So
tief sein verspätetes Staunen war über das mondsüchtige
Dahinstürmen, das Freveln ohne Verantwortung,
die Existenz ohne Erinnerung und ohne
Güte, so scharf erkannte er auch, daß der Wille
zur Rückkehr ihn trotzdem beherrscht hatte, das Bewußtsein,
daß der dunklen Wanderung ein unverrückbares
Ziel gesetzt sei. Jetzt aber verlangte ihn
nach wirklicher Freiheit. Er kämpfte gegen Agathe.
Er bäumte sich auf gegen ihre stumme Forderung.
Ihre Verlassenheit erweckte nicht seine Reue, sondern
seinen Haß. Der Schein von Recht, mit dem sie
ihn anklagte, erbitterte und die Macht, die sie
plötzlich von fernher über sein Gemüt ausübte, erzürnte
ihn. Doch als der erste Strahl der Morgensonne
ins Zimmer fiel, erfaßte ihn Schrecken und
Zerknirschung; noch kann ich die Gefahr abwenden,
sagte er sich; es gibt in jedem Schicksal
einen Augenblick, wo der Geist sich um seine
letzte Freiwilligkeit betrügt, ich will diesen Augenblick
nicht versäumen; ich will abreisen, ich kann
es noch, ich würde lügen, wenn ich einen Zwang
vorschützte, wo nur Schwäche ist.
Er sprang auf mit dem Entschluß zu packen.
Adam zu rufen war es noch zu früh; doch wollte
er alles für ihn zusammenlegen, dann konnten sie
mit dem Vormittagszug nach Dover fahren. Beim
Öffnen einer Lade erblickte er den Schuh der
schönen Rahel, den er damals auf der Treppe gefunden.
Die Erinnerung an ein Feuer, das von
der Zeit gelöscht worden ist, überhaucht die Vergangenheit
mit Todeskälte. Mutlos warf sich Sylvester
aufs Bett, und auf einmal entsann er sich
einer Menge von häuslichen Unannehmlichkeiten:
es ist ein Wintermorgen, und im Frühstückszimmer
raucht der Ofen durch eine zersprungene Kachel;
er kehrt hungrig von der Jagd zurück und muß
warten, weil die Köchin einen Streit mit dem Inspektor
gehabt hat; in Dudsloch hat ein Knecht
Holzdiebstähle verübt und man muß die Polizei
benachrichtigen; Schwager Eggenberg hat seinen
Besuch angemeldet, und im ganzen Haus riecht
es nach Sauerkraut, das die Leibspeise des Majors
ist; all das ist so klein, so nüchtern, so wohlbekannt,
so langweilig, so häßlich. Seufzend schlief er ein.
Gegen Mittag weckte ihn Adams Pochen. Ein
Brief mit Antwortbitte war da. Sylvester kannte
Gabrieles große, eckige Schrift noch nicht, aber
mit klopfendem Herzen entfaltete er das Papier.
Sie schrieb ihm, daß sie sich für den Nachmittag
frei gemacht habe und gern einen Spaziergang
mit ihm unternehmen möchte; sie habe auch Frau
von Rhynow dazu gebeten, die sei jedoch verhindert.
Adam starrte verwundert auf die im Zimmer
herrschende Unordnung, denn Sylvester hatte schon
Kleider und Wäsche aus den Behältern genommen.
»Bring' nur alles wieder an seine Stelle,« befahl
Sylvester kurz.
Sie gingen durch den Park von Richmond.
Unter freiem Himmel haben die Menschen
ein wahreres Gesicht als in Räumen. Gabriele nahm
mit jedem Schritt die Natur als Geschenk hin.
Sylvester mußte an Agathe denken, an Agathes
Entzücken, solange sie empfänglich, an ihre Verdrossenheit,
wenn sie müde war. Gabriele hatte
eine sanfte, gedankenvolle Ruhe. Sie lauschte
seinen Worten, als ob sie ein Wechsel von Licht
und Schatten wären, nicht wie Agathe, die allzu
wach das Wort wie ein lebendiges Ding ergriff
und sich von ihm reizen und steigern ließ. Wie
sehr liebte er die Sanftmut an den Frauen; Sanftmut
trägt das Feuer innen; die Erde ist sanft
mit ihrem glühenden Kern, der dunkle Nachthimmel
durch sein verborgenes Licht. Schon in frühen
Tagen hatte er das Bild der sanften Frau umworben,
und nun wußte er erst, was ihm an
Agathes Seite gefehlt, die keine Nachgiebigkeit
kannte, ganz auf Wille und Tat gestellt war und
sich nur in selbstsüchtiger Träumerei vergessen konnte.
Gabriele fühlte, daß eine unsichtbare Dritte mit
ihnen ging. Es lag ihr nah zu fragen. Wunderliches
Spiel des Einandererratens; während sie einen
Weg zur Frage suchte, äußerte Sylvester, es sei ihm
aufgefallen, daß sie so selten Fragen an ihn richtete.
Sie lächelte und wollte wissen, ob ihm dies für
einen Mangel gelte; es sei wahr, sie könne nicht
fragen, sie habe es nie gelernt. »Der Mensch ist
da, um zu fragen,« entgegnete er, und sein Blick
bat sie um eine Frage. Sie standen unter einem
riesenhaften Nußbaum; die Sonne ging unter und
das Grün der Rasenflächen überzog sich mit süßen,
violetten Tönen. Durch die sommerlich feuchte Luft
schwangen sich Schwalben in veränderlichen Bogen.
Wieder lächelte Gabriele und sie fragte also: warum
er so ruhelos sei? Er schwieg. Sie lächelte zum
drittenmal; sie begriff, daß die Frage zu allgemein
gewesen und sammelte Mut für eine begrenztere:
warum er niemals von seinem Haus, von seiner
Frau, von seinem Kind spreche? Er errötete. »Davon
zu sprechen bindet mich,« antwortete er mit
gesenkten Lidern, »ich will aber frei sein.«
»Man ist nicht frei in einer Ehe,« sagte Gabriele
sehr ernst.
»Man kann aber frei werden, oder nicht?«
»Nein. Man kann niemals frei werden,« beharrte
Gabriele mit demselben Ernst; »ist eine Ehe
nicht vor Gott und vor der Menschheit geschlossen?«
»Was reden Sie da, Gabriele!« rief Sylvester
unmutig. »Das ist Pfaffenmoral.«
»Nein. Es ist Blutgesetz.«
»Blutgesetz? Also Leibeigenschaft?«
»Vielleicht Leibeigenschaft; so muß es vielleicht
sein. Zuviel ist vom einen Teil im andern Teil,
zuviel Unauslöschliches ist geschehen.«
»Aber ich liebe Agathe nicht,« wandte Sylvester
beklommen ein.
»Ob Sie Agathe lieben oder nicht lieben, das
ist gleich,« versetzte Gabriele, und ihre Wangen
erglühten. »Die Ehe steht über der Liebe. Sie
steht deswegen über der Liebe, weil sie zwei Menschen
vereinigt. Aus eins kann man nicht mehr zwei
machen. Und wenn Sie Agathe auch nicht lieben,
sie ist in Ihnen drin, Sie können nicht leben ohne
sie. Sie können ihr untreu sein, aber Sie können
nicht Liebe finden ohne Agathe. Sie ist immer
da, wo Sie sind, immer, immer. Wäre sie nur
eine Frau, so wäre das Band zerreißbar; doch sie
ist Mutter, und zwischen euch wächst ein Kind,
und dem seid ihr verfallen beide.«
Es war Sylvester zumute, als habe er für ewige
Zeiten seine Seligkeit verloren. Er schaute verzweifelt
vor sich hin.
Da es zu dämmern begann, gingen sie zur
Chaussee, wo der Phaethon wartete. Sie stiegen
ein, und Gabriele schmiegte sich in die Ecke. In
ihren Augen brannte noch die Flamme der Beredsamkeit;
die jonisch geschwungenen Lippen hatten
einen Ausdruck von beseelter Kraft. Sylvester griff
nach ihrer Hand, und sie überließ ihm die Hand,
befangen zwar, doch ohne Mißtrauen. Plötzlich
glitt er auf die Knie nieder und drückte ihre Finger
an seinen Mund. Hastig flüsternd befahl sie ihm,
aufzustehen. Er gehorchte und nahm wahr, daß sie
zitterte. Ihr Gesicht wurde totenbleich. Er atmete
in schweren, langen Zügen und umfing sie; ihre
stählerne Brust tobte gegen seine Arme; ihr wilder
Blick flüchtete in die Landschaft hinaus, die wie
gefärbtes Wasser vorüberrann. Auf einmal wurde
alles weich an ihr, der Kopf fiel ihm zu wie geknickt,
die Augen schlossen sich, die Lippen suchten
seine, Schmerz und Glück waren ein einziges Gefühl,
ein kurzes nur, und als sie sich aufrichtete, war
dieses schon Verbot, und jener strömte aus unheilbarer
Wunde. Sie saßen schweigend nebeneinander;
er hielt noch ihre Hand, deren Pulsschlag sein Geschick
besiegelte. Gabriele entzog sie ihm nicht, denn
es war Abend geworden. Beim Abschied grüßte
sie ihn nur mit einem Blick.
Als Sylvester nach Hause kam, sah er neben
der Lampe das Bild Silvias stehen, ein Miniaturporträt,
das er vor zwei Jahren in München nach
einer Photographie hatte anfertigen lassen. Da er
sich nicht erinnerte, es mitgenommen zu haben,
auch während seiner Reisen es nie bemerkt hatte,
fragte er Adam verwundert, wie er dazu gelangt
sei, und Adam erwiderte, er habe es beim Aufräumen
in einer Schatulle gefunden. Sylvester
setzte sich an den Tisch; während er spürte, wie
sein ganzer Körper gleichsam hinuntergerissen wurde
in eine Flut der Leidenschaft, betrachtete er das
Bild des schönen Wesens, und sein Auge schien
ängstlich zu fragen: bin ich dir wirklich verfallen,
Silvia? So übermächtig war diese Leidenschaft,
daß er in geheimnisvoll verbrecherischem Trotz eher
den Tod des geliebten Kindes erdenken konnte als
den Verlust Gabrieles.
Es wurde Schicksal.
Sie schrieb ihm: »Wir dürfen uns nicht
mehr sehen.« Am Schlusse stand aber: »Helfen
Sie mir.« Da wußte er genug und küßte sein
eigenes Spiegelbild wie ein Narr.
Er ging zu ihr. Sie wohnte in einem Landhaus
in Twickenham. Anna Ewel führte ihn in
den Garten, wo Gabriele saß, die Hände über den
Knien verschränkt. Sie empfing ihn kühl. Er hatte
vieles sagen wollen, nun war es schal im voraus.
Ihre Härte verletzte ihn; er erhob sich, um zu gehen;
da machte sie eine erschrockene Bewegung mit dem
Arm, und ihr Gesicht bebte vor Bestürzung. Sie
zwangen sich zu ruhigem Gespräch, aber mit jedem
Wort wurde die Kette enger, die sie umschlang.
Sie trennten sich wie Fremde. Sylvester hatte
nicht die Kraft, in seine Behausung zurückzukehren.
An der Landstraße war ein kleines Gasthaus; er
ließ sich ein Zimmer geben, warf sich dort auf das
Sofa und haderte stumm. Als es Abend wurde,
zündete er zwei Kerzen an, verlangte Briefpapier
und schrieb an Agathe, — zum erstenmal seit zehn
Monaten. »Ich bin deiner Nachsicht gewiß. Du
hast Rechte auf mich, aber laß sie mich nicht fühlen.
Du hast Grund, mich zu verdammen; tue es nicht.
Ich möchte an dich als an eine Freundin denken.
Ich möchte an dich glauben als an einen Menschen,
der mich liebt, ohne meine Person als Einsatz zu
fordern. Du warst mir sehr nah in den letzten
Tagen. Ich suchte dich und mied dich, ich fürchtete
dich und brauchte dich. Ich bin hilflos, wenn
ich dich feindselig weiß, und stark, wenn du mich
billigst.«
Solche Töne hat die Lüge nicht. Sylvester
hatte nicht gewußt, was ihm Agathe war. Nicht
an die Gattin wandte er sich, nicht an die Gefährtin,
auch nicht an die Mutter seines Kindes,
sondern an die Richterin über sein Leben.
Als er Gabriele im Wagen geküßt, hatte ihn noch
Eitelkeit getrieben und Eroberungslust erfüllt.
Es war, wie wenn der Beginn dieses Kusses noch
Spiel gewesen wäre, sein Ende aber schon Unwiderruflichkeit
enthalten hätte. Und nicht bloß für
ihn. Gabriele war so neu, so wahr, daß jene
flüchtige Berührung entscheidend für sie blieb. Sylvester
erkannte es wohl; der Sammet der Frucht
ist noch unversehrt, sagte er sich beglückt, ein
Beweis, daß das Zarteste in der Natur auch das
Stärkste ist. Aber er ahnte nicht, daß ihre äußere
Kälte eine sehnsüchtige Glut verbarg, ihre Schweigsamkeit
ein unbeirrbares Gefühl, ihr fliehender Blick
ein für immer ergriffenes Herz.
Sylvester kannte diese Seele nicht. Er glaubte,
bürgerliche Feigheit mache sie zurückhaltend. Er
hatte zu viele Frauen kennen gelernt, um noch
reinen Instinkt zu besitzen. Er sah das geliebte
Mädchen in allen Gestalten und Verwandlungen,
die sein Argwohn, seine Ungeduld, seine bösen und
guten Träume heraufbeschworen. Er schlief nicht
mehr. Er konnte stundenlang liegen und nur an
ihre Hand denken; er hörte nur ihre Stimme, wenn
Menschen sprachen; er sah nur sie gehen, wenn
Menschen gingen; er spürte nur sie, wenn Gegenstände
seine Haut berührten. Jeder Tag ohne sie
war gespensterhaft, jeder Abend ein Leiden, jede
Nacht ein Alpdruck. Er flüsterte ihren Namen in
die Luft, um den Klang zu vernehmen, es gab
nichts in der Welt, was er nicht in Beziehung zu
ihr setzte, und wenn andere Leute von ihr redeten,
zuckte er zusammen wie ein Verbrecher bei der Erwähnung
seiner Übeltat. Die Leidenschaft erfüllte
ihn von oben bis unten, ja sogar über dem Schatten
lag sie, der ihn begleitete. Sie spannte ihn schmerzlich,
sie machte ihn sich selbst verachtenswert, sich selbst
wunderbar; die Wirklichkeit wurde zu einem Schemen
die Zeit etwas so Wahnvolles, daß er in Stunden
der Trauer zehnmal starb, in Sekunden der Freude
Ewigkeiten lebte. Seine ganze Existenz war eine
Mischung von Torheit, Rausch und Fieber geworden,
und wenn er drei Wochen zurückdachte, so dünkte
ihn die eigene Person von damals ein fremdes,
scheintotes Ding.
Es geschah, daß er am Abend nach Twickenham
ging, und vor Gabrieles Haus auf und ab wandelte,
bis der Morgen anbrach. Gabriele erfuhr es nie.
Er war bei alledem so stolz, daß er durch vergebliches
Werben sich nicht erniedrigen wollte. Einmal
in einer schönen Nacht trat sie in einem weißen
Gewand auf den Balkon und schaute zu den Sternen
empor. Da war es, daß er mit überirdischem
Schauer die Größe des Weltraums begriff. Er
stand verborgen an einem Zaun und blickte zur
Kassiopeia so wie sie; der Erdball hatte keine Geschöpfe
mehr als ihn und sie, und auf den feurigen
Bahnen der Sterne begegnete er nur ihr allein.
Vergötterung ist ein schönes Wort; man muß
viel von der Gottheit besitzen, um vergöttern zu
können, und wenn der Vergötterte auch nicht zum
Gott wird, erhoben, beschwichtigt und beseelt wird
er doch. Gabriele spürte dies; es schien ihr leichter
zu gehen, müheloser zu atmen, aber an andern
Tagen kam dann eine Lauheit über sie, eine kraftlose
Schwermut; ihre Arme wurden träg, ihre Worte
unbestimmt, ihr Geist bedrückt, und Menschen, denen
gegenüber sie sich bisher heiter und frei gegeben
hatte, nahmen die Veränderung wahr. Frau von
Rhynow trat eines Nachmittags bei Sylvester ein
und sagte: »Mein lieber Sylvester, was ist mit
Gabriele vorgegangen. Sie ist nicht mehr dieselbe.
Ich bin besorgt um sie. Merken Sie denn nichts?«
Sylvester antwortete mit einem Blick, der alles
verriet. »Um Gottes willen,« begann die alte Dame
zu jammern, »Sie wollen doch das Mädchen am
Ende nicht zu Ihrer Geliebten machen? Das geht
auf keinen Fall. Das wäre Tollheit, Schurkerei
und kann nicht geduldet werden. Jetzt geht mir
ein Licht auf, jetzt wird mir manches klar. Ich
beschwöre Sie, teurer Freund, schlagen Sie sich das
Mädchen aus dem Kopf, die ist zu gut für dergleichen.«
Sylvester stand am Kamin, seine großen
Zähne blitzten, und er sah vor Blässe fast grau
aus. »Sie können sich auch von Agathe nicht
scheiden lassen,« fuhr die Rhynow eifrig fort; »es
gibt viele Frauen, bei denen ich mir vorstellen kann,
daß man sich von ihnen scheiden läßt, bei Agathe
nicht. Ich weiß nicht genau, warum, ich weiß nur,
daß es unmöglich ist. Wer Agathe einmal gesehen
hat, der weiß, daß es unmöglich ist. Und Sie
wissen es auch.«
Sylvester antwortete nicht; in matter Haltung
auf der Seitenlehne des Sessels sitzend, verkrampfte
er die Finger ineinander. »Mein armer Freund,«
sagte Frau von Rhynow, »ich verstehe alles. Wäre
ich ein Mann, mir ginge es ebenso. Ich fordere
nicht, daß Sie heute schon einen Entschluß fassen,
aber wahren Sie Ihre Besonnenheit. Schonen Sie
Gabriele.«
Die wohlmeinenden Rater nähren stets ein Feuer,
das zu löschen sie gekommen sind. Nun, wo es
Gefahr bedeutete und Wächteraugen zu betrügen
waren, achtete Sylvester keine Schranke mehr. Er
schrieb sieben Briefe an Gabriele, die er alle wieder
zerriß; seine Phantasie gab dem Abenteuerlichen,
dem Märchenhaften Raum, doch wenn er dann
Gabriele vor sich sah, in ihrer lieblichen Unruhe,
in ihrer scheuen Gespanntheit und wie sie immer
wieder versuchte, sich dem finstern Element zu entziehen,
dann stockte er verzweifelt und wußte keinen
Weg mehr.
Er fuhr zum Rennen nach Epsom und erblickte
sie auf einer Tribüne neben der Gräfin Shrewsbury.
Sie hatte den Kopf zurückgewandt und sprach
fröhlich mit einigen Herren, als sich ein ungewöhnlich
schöner junger Mann im Reitkostüm zu der Gruppe
gesellte. Sylvester kannte ihn vom Sehen, es war
der Viscount Darrington, ein Jüngling von zwanzig
Jahren mit einem Gesicht und einem Körper wie
von Phidias gemeißelt. Sylvester stand unten im
Gewühl und beobachtete jede Gebärde Gabrieles.
Ihm wurde eiskalt, als sie dem jungen Menschen
zulächelte, und als der Viscount, der sich am Herrenreiten
beteiligte, ihre Hand beim Abschied länger
als es nötig schien in der seinen behielt, legte sich
ein purpurner Dunst über Sylvesters Augen. Wenige
Minuten später begann das Rennen. Mit solcher
Aufmerksamkeit, daß seine Lider kaum blinzelten,
verfolgte Sylvester die Gestalt des jungen Edelmanns,
der auf einem Grauschimmel bald unter
den Vordersten über das Feld flog. Hundert Meter
weiter überflügelte er den Ersten, und Sylvester war
es, als sei alles für ihn verloren, wenn jener als
umjubelter Sieger ans Ziel gelangte. Er wünschte
nicht, er befahl, daß der Jüngling zu Fall kommen
möge und in einer Art von Raserei sammelte er
seine Gedanken in diesem Willen. Gleich darauf
ertönte ein hundertfacher Schrei. Der Grauschimmel
hatte vor dem letzten Hindernis versagt. Sylvester
gewahrte wie im Schein eines Blitzes den Körper
des Viscount in der Luft, dann eilten viele Menschen
hinüber, um dem regungslos auf der Erde Liegenden
beizustehen. Er hatte beide Arme gebrochen und
aus seiner Nase rann Blut.
Das ist also möglich, fuhr es Sylvester
schaudernd durch den Sinn, warum sollte es
etwas Unmögliches geben? Sein schuldvoller Blick
suchte Gabriele. Die Zuschauer auf den Tribünen
hatten sich erhoben und plötzlich sah er, wie sich
Gabriele durch die Menge drängte; hastig und beklommen
trat sie zu ihm, schob ihren Arm unter
den seinen und bat, er möge sie in die Stadt bringen.
Kaum saßen sie im Wagen, so fing es an zu
regnen und nach einer Viertelstunde Wegs wurde
aus dem Regen ein Wolkenbruch. Die Pferde
scheuten ein paarmal, der Kutscher mußte absteigen
und sie führen.
Gabriele schaute wie geistesabwesend vor sich
hin; in seiner sonderbaren Verwirrung und inneren
Not glaubte Sylvester, sie denke nur an den Viscount,
während ihr dies und ihr ganzes gegenwärtiges
Leben nur wie Wolkenziehen vorüberging.
Sie sprach aber nichts, und in ihrem Schweigen war
etwas Redeverbietendes. Sylvester hatte den Kopf
gesenkt und ihm schien, als ob sein Herz in einer
salzigen, brennenden Lauge zersetzt würde. Weshalb
ist sie mit andern liebenswürdig, ja freudig erregt,
grübelte er, und mir zeigt sie ein erstorbenes, verdunkeltes
Wesen? Er hätte Ehre und irdisches
Heil dafür gegeben, wenn er diese Frage an sie
hätte richten können und Gabriele sie beantwortet
hätte. Aber es lag eine unermeßliche Entfernung
zwischen ihnen. Was bedeutete jedoch der Blick,
als sie ausstieg, dieser volle, tiefe, strahlende, flehende,
demütige Blick? Schon war sie im Eingang des
Theaters verschwunden.
Sie spielte an diesem Abend zum letztenmal
in der Saison. Es wurde der Barbier von Sevilla
aufgeführt, und nach den Aktschlüssen glich das
Theater einem mit brüllenden Tieren gefüllten
Käfig. Als die Oper zu Ende war, ging Sylvester
hinter die Kulissen. Anna Ewel geleitete ihn in
eine Ecke, wo sich Gabriele vor den vielen Menschen
versteckt hielt, die ihre Garderobe belagerten. Sie
kauerte auf einem hölzernen Karren und aß eine
Birne. Über das Kostüm der Rosine hatte sie ein
schwarzes Tuch geschlagen, und die weiße Haut
des Nackens und der Büste leuchtete eigentümlich
feucht. »Ich will nach Hause wie ich bin,« sagte
sie, »wir können das Theater unbemerkt verlassen,
wenn wir durch den finstern Gang dort gehen.
Meinen Mantel, Anna.«
»Soll ich denn mitkommen?« fragte Sylvester.
Sie nickte.
In der Villa draußen war ein Imbiß vorbereitet,
aber Gabriele hatte keinen Hunger. Sie
ließ Sylvester einige Zeit allein, dann kehrte sie
in einem Gewand aus weichem, weißem Kaschmir
zurück und setzte sich still an den Tisch. Die Fenster
waren offen; schon herbsteten die Abende, und die
Bäume hauchten einen zarten Modergeruch aus.
Während er allein gewesen, hatte Sylvester eine
Laute genommen, die an der Wand hing; er hatte
sie betrachtet und es wunderbar empfunden, daß
in dem Instrument unbekannte Melodien schlummerten,
die er nicht hervorlocken konnte; wieviel
wunderbarer dünkte ihn jetzt Gabrieles Anblick,
dieser atmende Leib, aus dem die Gottheit Töne
zauberte, welche die Armut der Menschen in Reichtum
und ihre Nüchternheit in Überschwang verwandelten.
Seine Finger glitten zerstreut über die Saiten
und erzeugten ein sanft vibrierendes Geräusch, dem
einer fernen Windharfe ähnlich. Gabriele nahm
ihm die Laute aus der Hand, rückte sie in vertrauter
Weise zurecht, und ihre Züge hatten einen
versonnenen Ausdruck, als sie einige dunkle Akkorde
anschlug. Dann schüttelte sie entschlossen den
Kopf und legte die Laute beiseite.
»Ich liebe dich, Sylvester,« sagte sie, »du weißt
es, daß ich dich liebe. Wie es gekommen ist, das
kann ich nicht erklären; wozu auch, es muß nicht
erklärt sein. Ich bin nur ein Weib, nicht besser
und nicht schlechter als andere, und wie soll ich's
verwinden, daß du es bist, gerade du, den ich liebe.
Sprich mir nicht von Glück, tröste mich nicht mit
Hoffnungen, sag' nicht, daß ich vergessen soll und
daß es Stunden gibt, die ausgleichen, und daß
man seine Lust aneinander haben kann, wenn auch
morgen die Welt untergeht. Das ist alles nicht
für mich. Sieh, Liebster, du bist wie einer, von
dem ich nur eine Hand halten kann, die andere
ruht in der Hand einer andern. Die andere hat
ihr Leben auf dich gesetzt, sie will und kann nicht
von dir lassen, und könnte sie auch, bei mir würde
sie erst lebendig werden für dich, und du bist der
Mann nicht, der ein lebendiges Geschöpf ins Grab
wirft. Ich fühle ja, wie es um dich steht, aber
ich kann nicht tun, was du verlangst. Nicht Agathes,
nicht des Kindes wegen; wenn du bei mir bist und
ich dich sehe, ist mir, als könnt' ich darüber hinwegkommen;
auch an dem, was man Ehre nennt, liegt
mir dann nichts mehr. Aber ich will lieben, so
wie man stirbt, ganz, ganz und ohne Rest. Und
ich will geliebt sein so wie man untertaucht im
Meer, tief ins Bodenlose. Wie soll ich das, Sylvester,
bei dir, der ein böses Gewissen zu mir bringt?
Widersprich mir nicht, sei wahr, in diesem Augenblick
sei wahr gegen mich! Das böse Gewissen,
es ist ja eigentlich das gute und edle Gewissen,
dein Menschenherz, es würde dich immer zu mir
treiben, aber nicht bei mir halten, und wir würden
schlecht und müde. Und nun sag' mir, was sollen
wir tun?«
Sie hatte leise gesprochen und als sie geendet
hatte, schaute sie ihn voll schüchterner Erwartung
an. Sylvester, ohne Schmerz noch Freude, in einem
schwebenden Gefühl, erwiderte ebenso leise: »Ich
habe dich gespürt, als ich noch in der Heimat war.
Ich habe dich mit mir herumgetragen wie eine
Schwangere den Schößling trägt, bis du wesenhaft
wurdest, bis du erschienen bist. Ich habe andere
genossen wie man Wurzeln verzehrt, wenn keine
Speise da ist. Ja, ich will wahr sein; deine Worte
sind das größte Unglück meines Lebens, denn du
hast recht mit allem was du sagst. Was wir aber
tun sollen, das weiß ich durchaus nicht. Nur daß
ich ohne dich nicht existieren kann, weiß ich. Fliehen
wir, Gabriele, geh mit mir auf ein Schiff, laß uns
über den Ozean fahren, versuch' es mit mir, vielleicht
zeigt es sich, daß deine Furcht unbegründet
war —«
»Jetzt belügst du dich doch,« unterbrach ihn
Gabriele sanft. »Es gibt keine Freiheit durch Anmaßung,
es gibt kein Recht, das einer nur für sich
selber schafft. Freilich, es gibt Menschen, die solches
zustande bringen, aber ich bin dazu nicht robust
und du, Lieber, bist nicht phantasielos genug. Wir
sind Menschen und müssen tun, was menschlich ist.«
Dies sagte sie mit einer so unheimlichen Hoheit
und Ruhe, daß Sylvester vor ihr erschrak.
»Es war mein Plan, morgen nach Bangor zu
gehen,« fuhr sie fort; »du hast geglaubt, daß wir
in Bangor beisammen sein könnten. Es darf aber
nicht sein. Ich will ja nicht, daß wir uns nie
wiedersehen sollen, wie könnt' ich das, aber wir
müssen uns die Möglichkeit zur Besinnung geben,
du mir und ich dir. Wenn dir also am Aufenthalt
in Bangor etwas liegt, so werde ich anderswohin
gehen. Antworte mir, Sylvester. Zürnst du? Wie
schwer ist es doch, das Richtige zu tun!«
»Ich werde nicht nach Bangor gehen,« sagte
Sylvester stockend. Unwillkürlich streckte Gabriele
die Arme aus, und mit einem dumpfen Laut stürzte
er zu ihr. In ungeheurer Bewegung ergriff sie
seinen Kopf und drückte sein Gesicht in ihren Schoß.
Sie beugte sich über ihn und stammelte: »Lieb' ich
dich denn? Ich liebe dich ja gar nicht. Ich liebe
ja einen andern, der nicht da ist und den ich nicht
kenne. Jetzt mußt du gehen, Sylvester. Geh jetzt,
laß mich allein, geh jetzt, leb' wohl.«
Zwei Stunden nach Mitternacht fand sich Sylvester
am Tisch seines Schlafzimmers sitzend. Vor
ihm lag eine Pistole, die er unverwandt betrachtete.
Da war es ihm, als höre er die Türe knarren und
als trete Agathe herein und als lege sie den Arm
um seine Schulter und die Wange an seine Stirn
und seufze tief. Sein Kopf fiel auf die Tischplatte,
und er weinte wie ein Kind.
Die Oktobertage und -nächte vergingen, ohne
daß Sylvester ihre Folge wahrnahm. Wie
ein aus dem Schlaf häufig Erwachender lebte er
sie zerstückt. Bisweilen saß er plaudernd bei Frau
von Rhynow; er zeigte sich besonnen und gelassen,
doch insgeheim machte er sich über jedes Wort lustig,
das er gebrauchte. Eine bestimmte Behauptung
aufzustellen, dünkte ihn vollkommen sinnlos, und
wäre es die flachste und beweisbarste gewesen. Er
ging in den Klub und redete mit dem und jenem;
meistens verfuhr er so, daß er mechanisch ungefähr
das Gegenteil von dem sagte, was der andere gesagt
hatte. Zu seinem Erstaunen wurde ein Gespräch
daraus. Er aß und trank und wunderte sich, daß
ihn ein Bedürfnis trieb. Er suchte einen Schneider
auf und besichtigte Stoffe für einen Anzug; während
er es tat, wunderte er sich, daß er es tat. Das
Leben, welches er führte, kostete viel Geld, und da
er mit seinem Vorrat zu Ende war, unterschrieb er
einen Wechsel, war sich aber keiner Verantwortung
dabei bewußt. Seine Beobachtungsgabe war trotzdem
dieselbe geblieben. So fiel es ihm auf, daß
sich Adam ungewöhnlich viel mit Briefschreiben
beschäftigte. Er stellte ihn zur Rede, und Adam
gestand, daß er mit Anna Ewel korrespondierte.
Bei der Erwähnung dieses Namens drückte Sylvester
den Zeigefinger auf das rechte und den Mittelfinger
auf das linke Auge und sein Gesicht bekam den
Ausdruck verstörten Nachdenkens.
Adam Hund hatte zahlreiche Gelegenheiten gehabt,
mit Anna Ewel zusammenzutreffen und sie
die Überlegenheit fühlen zu lassen, die er sich im
Weltgetriebe angeeignet. Er hatte in der schwarzen
Böhmin eine gläubige Zuhörerin gefunden, und
weil der Selbstliebe eines Mannes nichts so sehr
schmeichelt, als wenn eine junge Dame seinen moralischen
Urteilen wie auch den Erzählungen seiner
Abenteuer bewundernd lauscht, so hatte sich die
Abrede einer brieflichen Verbindung, die den fruchtbaren
mündlichen Verkehr gedeihlich fortspinnen
sollte, bald ergeben. Adam belehrte seine Schülerin
vornehmlich über den Weg, den sie einschlagen müsse,
um einen Gatten zu bekommen. »Zuvörderst ist es
geraten, daß man sich eines möglichst geheimnisvollen
Benehmens befleißige,« schrieb er; »wenn
sich zum Beispiel ein Strumpfband gelockert hat
und es steigen einem darüber peinliche Gedanken
auf, weil man notabene in guter Gesellschaft ist
und nicht wagen darf, den Fehler zu beheben, so
empfiehlt es sich, eine melancholische Miene zur
Schau zu tragen oder mit tiefsinnigem Schmachten
von einem gereimten Gedicht zu sprechen. Es
empfiehlt sich überhaupt, wenn ein Frauenzimmer
von Sachen spricht, die sie nicht versteht, dann
glauben die Männer, sie verstünden noch weniger
davon und sagen untereinander: das Weib hat einen
ungewöhnlichen Geist. Natürlich genügt solches
nicht. Sie müssen auch, teure Anna, trefflich gewaschen
und gekämmt sein, gewisse Lücken in der
äußern Person geschickt zu stopfen wissen, Salben
und Wohlgerüche ohne Zudringlichkeit anwenden,
im Beisein anderer wenig essen, auch wenn Sie
noch so großen Hunger haben, und ist dann der
Gimpel einmal gefangen, so hat's weiter keine Not.
Das ist ja das Merkwürdige, daß so selten einer
loskommt, und ich will Ihnen auch den Grund
mitteilen, warum es so ist. Nämlich wir Männer,
wir nehmen die Weiber ernst, wir wollen ihnen
etwas beweisen, wir wollen sie widerlegen, wir
streiten mit ihnen wie mit unseresgleichen und das,
verehrenswerte Anna, ist das Dümmste, was wir
tun können. Dadurch haken sie sich an uns fest
wie die Schnecke am Bein eines Ochsen, und
während wir glauben, daß sie mit uns auf dem
Lebenswege wandeln, tun sie nichts anderes als
faul an unserem Fleisch schmarotzen.«
Bei einem sonderbaren Anlaß entdeckte Sylvester,
daß Adam auch Nachrichten von Erfft erhielt. Seit
kurzem kochte Adam seine Mahlzeiten selbst und
tischte zuweilen seinem Herrn Klöße in saurer Brühe
oder nach fränkischer Art gebratene Kartoffeln auf.
Er wich nicht vom Fleck, bis Sylvester seine Kunst
belobt hatte, fühlte sich dadurch ermuntert, über die
englische Küche zu räsonieren und endete mit einem
Preis der heimatlichen Dinge. Sogar sein böses
Weib erschien ihm in freundlicherem Licht, und
eines Tages verteidigte er sie gegen Sylvester mit
einem Eifer, als ob dieser sie der größten Schandtaten
bezichtigt hätte. »Das mit den Prinzipien
und der männlichen Würde ist ja ganz schön,« redete
er auf den immerfort schweigenden Sylvester ein,
»aber sie weiß einen Apfelkuchen zu backen, da
geht einem das Herz im Leibe auf. Neulich war
der Inspektor Marquardt bei ihr und konnte sich
nicht daran satt essen. Er hat mir geschrieben, daß
sie in Dudsloch musterhafte Ordnung hält, während
in Erfft alles drunter und drüber geht. Die gnädige
Frau, die doch gewiß eine Ausnahme ihres Geschlechts
ist, kümmert sich nur noch wenig um
die Wirtschaft und um die Leute und läßt sieben
gerade sein. Manchmal kommt der Herr Major
herüber, befiehlt, daß man ihm die Haushaltungsbücher
zeigt, schimpft über den Verbrauch und verhandelt
dann stundenlang mit der gnädigen Frau
hinter geschlossenen Türen. Es ist traurig, wenn
der Herr nicht da ist.«
Adam hatte sich getäuscht, als er glaubte, mit
dieser beredten und vorsichtigen Schilderung unerquicklicher
Zustände auf seinen Herrn Eindruck zu
machen. Sylvester antwortete nicht, und die Gleichgültigkeit
seiner Miene erfüllte den diplomatischen
Zwischenträger mit Besorgnis.
Ein äußerster Grad von Sehnsucht kann eine
zweite Wirklichkeit erschaffen. Gefesselt in jedem
Betracht, flohen Sylvesters Sinne in ein anderes
Reich, das kein erträumtes, das wesensvoller für
ihn war als die zu ertastende und mit leiblichen
Augen zu erschauende Gegenwart. Während er
apathisch und regelmäßig dem Trieb bestimmter
Gewohnheiten folgte und den Stunden des Tages
gab, was sie von ihm verlangten, waren sein Geist
und seine Seele ausgewandert, den Körper als eine
zufällig bewegte Hülle hinterlassend.
Er fühlte genau, daß in dieser Epoche seines
Daseins innerer und äußerer Besitz auf dem Spiele
stand: Vernunft, Behagen, Tätigkeitsfreude, Vermögen
und Gesundheit, das Ererbte und das Erworbene;
er wußte, was er verloren hatte und was
ihm jede Minute des tödlichen Brütens raubte:
seinen Stolz, sein Selbstvertrauen, die Kraft, zu
wirken und dienendes Glied zu sein; er erkannte,
daß er sich auf Vorrechte der Jugend nicht mehr
berufen durfte, daß der Hinweis auf das Versäumnis
höchsten Glückes die Verachtung der Menschenpflichten
nicht entschuldigen würde, daß über
dem leidenschaftlichen ein sittliches Gebot war,
dennoch wühlte er sich mit Begierde immer tiefer
in den Schmerz, und die Einsicht, daß seine Jugend
vorüber war, endgültig für alle Zeiten vorüber, daß
er zum letztenmal erglüht, zum letztenmal erwählt
war, zum letztenmal die Seligkeit der Entäußerung,
die Lust der Bezauberung, die Süßigkeit der Blutesnähe
und den entzückenden Schauer der Wiedergeburt
in einem andern Herzen gespürt, daß alles
dies dahin war, für ewig dahin, wie durch Todesurteil
verwirkt, eben die Einsicht verfinsterte sein
Gemüt und zerstörte seinen Willen.
Er lebte zwiefach. Sein eigentliches Leben führte
er im Schloß zu Bangor. Halluzinationen, die sich
erneuerten und fortsetzten, machten ihm den fremden
Bezirk vertraut. Er sah die alte Normannenburg
mit ihren efeubewachsenen Höfen, dem stumpfen
Turm und den gezackten Mauern. Er ging über
die ehemalige Zugbrücke und unterhielt sich mit
Sir Randolph, während er zugleich aufs Meer
schaute. Einige Herren kehrten plaudernd von einer
1
Segelfahrt heim. Die jungen Leute hatten Kricket
gespielt, sie eilten mit heiterem Lachen von der Wiese
herüber, und die weißen Kleider der Mädchen flatterten
im Seewind. Der Gong ertönte, eine lange
Frühstückstafel war gedeckt, und Silber und Porzellan
auf dem Tisch hoben sich reizvoll gegen die braungetäfelten
Wände ab. Zwei Hunde, ein Spitz und
ein Terrier, wirbelten kläffend durch den Saal, und
Lady Canning, die ihre Migräne hatte, beschwerte
sich darüber beim Kastellan. Miß Holland, ein sehr
mageres Mädchen mit Sommersprossen, erzählte,
daß sie einen großen Brasiliendampfer gesehen habe,
und Monsieur Renard behauptete, in Barrow habe
man einen Walfisch gesichtet. Sylvester bestritt die
Möglichkeit und Gabriele nahm seine Partei. Ein
scherzhafter Wortkampf entspann sich, und Sylvesters
Schlagfertigkeit erregte allgemeines Vergnügen.
Monsieur Renard, verdrießlich über seine
Niederlage, wurde von Mrs. Watch getröstet, die
ihm ihre mit Schokolade gefüllte Bonbonniere
reichte.
Sylvester ging zur Küste des Meeres hinunter
und gewahrte Gabriele von ferne. Sie gab ihm
kein Zeichen, obwohl sie ihn zu erwarten schien.
Sie trug einen Reiseanzug und blickte gespannt
auf ein Boot, das sich dem Ufer näherte. Er
konnte nicht zu ihr gelangen, seine Füße verwickelten
sich in Gestrüpp, er bückte sich, um sich frei zu
machen, und als er sich aufrichtete, war Gabriele
verschwunden und mit ihr auch das Boot. Er
rief, die Brandung übertönte seine Stimme; er eilte
ins Schloß zurück, suchte sie in der Kapelle und
in vielen Zimmern, und es war ihm, als ob sie
jeden Raum, den er betrat, kurz zuvor verlassen
hätte. Dennoch hatte er beständig das Gefühl, daß
sie ihn erwartete. Da wurde es Nacht. Alles schlief
im Hause. Sylvester ging durch die langen, finstern
Korridore und öffnete Gabrieles Schlafgemach. Es
war ein sehr großes Zimmer mit drei riesigen
Fenstern, über denen Vorhänge aus scharlachrotem
Damast hingen. Auf einer Spiegelkonsole brannte
eine Kerze, und weit davon in einer Mauervertiefung
stand das Bett, in welchem Gabriele lag. Sie hatte
die Türe nicht versperrt, weil sie ihn erwartete.
Zugleich hatte sie um seinetwillen gehofft, daß er
nicht kommen würde. Er kniete an dem Lager hin
und faßte ihre Hand. Sie floh sichtlich, ihre Seele
floh vor ihm; sie zitterte wie ein gefangenes Reh.
Wenn er sie anschaute, schüttelte sie den Kopf, und
ihre Finger preßten flehentlich die seinen. Die
Nacht verwandelte sie in ein Naturwesen, doch ihr
Blut, ihr Auge und ihre des Widerstandes schon
müden Glieder widerstrebten ihm. Da erst empfand
er ihren ganzen Wert, die ganze Unschuld ihres
Herzens, das Erschütternde und zur Ehrfurcht Zwingende
der nie zuvor Berührten, die dem Ansturm
des Geschlechts nur im höchsten Schmerz ihrer Liebe
unterliegt. Er gab ihr die Namen von Blumen,
denen sie verwandt war und dachte an schöne Tiere,
an die ihre Grazie erinnerte. Unüberwindliche Scheu
verbot ihm, sie zu umarmen, und er liebte sie mit
opfernder Inbrunst, die alle sinnlichen Empörungen
erstickte. Die Nacht hindurch kauerte er an ihrem
Bett, und ehe er ging, beugte sie sich zu ihm, enthüllte
furchtlos die Lieblichkeit der Schultern und
das edle Spiel jugendlicher Körperlinien, schlang
die Arme um seinen Hals und küßte ihn.
Eines Nachmittags kam sie auch in sein Zimmer
in London. Es war die letzte und entscheidende
Begegnung in diesem seltsamen Erleben außerhalb
des Wirklichen. In der Dämmerung trat sie ein.
Ihr Gesicht unter dem Schleier war sehr bleich.
Er wußte, was sie hergetrieben hatte, er begriff ihr
Mitleid und ihr Leiden, ihre Frage und ihren Vorwurf,
und nun war es beschlossen für ihn, daß er
nach Hause reisen und von Agathe seine Freiheit
fordern müsse. Von der Stunde an war die Schwäche
und traumhafte Schwermut von ihm gewichen.
Am selben Abend schrieb er ein paar kurze
Zeilen an Gabriele, worin er sie lakonisch, jedoch
mit dem Ton festesten Ernstes von seinem Plan in
Kenntnis setzte. Den nächsten Vormittag verwendete
er mit Adams Hilfe zum Packen und um fünf
Uhr saß er in der Eisenbahn, die ihn zur Hafenstation
brachte. Adam summte vor Freude Kirchen- und
Kneipenlieder bunt durcheinander.
Genau drei Tage später erblickte Sylvester vom
Kupeefenster aus die Würzburger Marienfeste, an
der noch immer gebaut wurde, seit sie, während
des Mainfeldzugs vor drei Jahren, von den Preußen
in Brand geschossen worden war. Novembernebel
hüllte die Stadt in flaumigen Dunst, und der an
den Rebenhügeln hingleitende Strom war von der
untergehenden Sonne blutrot gefärbt.
Die Mühe, die sich Agathe in den ersten Monaten
ihres Alleinseins gegeben hatte, Wirtschaft
und Haushalt vor jener Verlotterung zu bewahren,
die sich notwendig einstellen muß, wenn das anerkannte
Oberhaupt fehlt, hatte sich in Teilnahmslosigkeit
verkehrt, als der törichte und leichtsinnige
Aufwand, den Sylvester trieb, offenbar lag. Sie
liebte nicht das Geld, aber sie achtete es, weil es
eine gewisse Summe von Arbeit, Überlegungen
und Entbehrungen darstellte und die persönliche
Unabhängigkeit sicherte. Daran gewöhnt, zu sparen
und selbst bescheidene Bedürfnisse nur zu erfüllen,
wenn sie unabweisbar wurden, erregte Sylvesters
Verschwendung ihren Schrecken und, nachdem er
das Bankdepot erhoben hatte, mit Wucherern in
Beziehung getreten war, die Ernten im voraus verschleudert,
Wechsel in Umlauf gesetzt, also das Gespenst
der Not und der Schuldbedrängnis heraufbeschworen
hatte, ihren Abscheu und ihre Verachtung.
Sie überließ dem Inspektor Marquardt die
Aufsicht über beide Güter, anfangs nur der Form
nach, schließlich in jeder Weise, denn um tätig zu
sein, brauchte sie die Überzeugung der Förderlichkeit
und des sichtbaren Gelingens, hier aber konnte
sie nur im Geringfügigen nützen, indes ein unersättlicher
Vampir das Lebensmark aus dem Besitze
sog. Daß die bezahlten Diener den Vorteil der
Herrschaft nicht über ihren eigenen stellen würden,
war ihr klar, und mit dem Gedanken an Untreue,
Fahrlässigkeit und schlechte Führung der Geschäfte
hatte sie sich längst vertraut gemacht.
Ihre Schwester Martha, die Frau des Majors,
redete ihr zu, sie solle doch mit dem Kind nach
Eggenberg übersiedeln, der Major würde dann Erfft
und Dudsloch von seinem Vetter verwalten lassen,
der ein erfahrener Ökonom sei. Agathe weigerte
sich. »Ich äße bei dir und deinem Mann doch
nur das Gnadenbrot,« sagte sie, »und das paßt
mir nicht. Gehen die Dinge schief, so will ich
wenigstens dabei sein, obschon ich nichts ändern
kann; dem Verderben zusehen ist besser, als es
bloß ahnen.«
Um jene Zeit wußte der Major noch nichts von
Agathes Geldsorgen, erst der schwatzhafte Inspektor
verschaffte ihm Aufklärung. Am folgenden Sonntag
kam er und zog Agathe in ein förmliches Kreuzverhör.
Sie gab nur zu, was sie nicht leugnen
konnte. Sie behauptete, Sylvester sei mit ihrem
Einverständnis ins Ausland gereist, sie billige seine
Lebensführung und habe zu klagen keine Ursache.
»Ich glaube dir nicht,« polterte der Major; »entweder
bist du blind, oder du willst mich blind machen.« — »Ich
wollte, ich wäre in dem Sinne blind, den
du meinst,« erwiderte Agathe mit unfreiwilliger
Offenheit. Der Major brauste auf. »Schön; so
werde ich deinem Herrn Gemahl schreiben,« rief
er, »und wenn er noch einen Funken Ehre im Leib
hat, so wird er nicht im Zweifel darüber sein,
was er dir und der Familie schuldet.« Da trat
Agathe ganz nahe vor ihren Schwager hin, blitzte
ihn mit ihren wunderbar energischen Augen drohend
an und sagte hart und bestimmt: »Du wirst ihm
nicht eine Zeile schreiben, Konrad. Nicht eine Zeile,
verstehst du? Weder du noch Martha. Von dem
Tage an, wo dies geschähe, hättet ihr mich zur
Feindin und ich kennte euch nicht mehr.« Der
Major senkte betroffen den Kopf, ging zum Fenster
und trommelte an die Scheiben. Agathe aber,
indem ihre Stimme tiefer und ruhiger wurde, fuhr
fort: »Sylvester schuldet mir nichts und schuldet
der Familie nichts. Er weiß, was er tut und tut
wahrscheinlich, was er muß. Daß er kein Mensch
nach dem Reglement ist, habt ihr immer gewußt, nun
beweist er's, und wir müssen uns damit abfinden.«
Der Major zuckte die Achseln: »Wenn du dich damit
abfindest, hat niemand das Recht zur Einrede,«
versetzte er, »aber es freut mich doch, daß in dem Fall
wieder einmal mein altes Wort zur Wahrheit wird:
ein schlechter Bürger, ein schlechter Mann. Und das,
meine liebe Schwägerin, das mußt du schlucken, so
eifrig du ihm auch den Anwalt machst.«
Nach ein paar Tagen erschien Martha und versuchte
ihre Schwester mit List zu einem entschiedenen
Schritt zu bestimmen. Agathe durchschaute sie
schnell und wies sie fast verächtlich ab. In nachhaltiger
Verstimmung kehrte Martha nach Hause
zurück und grollte der Schwester monatelang. Der
Major, viel zu gutmütig, um die Erbitterung seiner
Frau zu teilen, ritt jede Woche einmal nach Erfft,
brachte Silvia eine Puppe oder ein Kleidchen mit
und prüfte die Rechnungen, die ihm der Inspektor
vorlegte. Agathe war ihm dankbar, trotzdem sie
von der Vergeblichkeit solchen Beistands durchdrungen
war. Daß der Major auch ein bißchen in
sie verliebt sein könne, fiel ihr nicht im Traume ein.
In der Nachbarschaft und unter den Bekannten
wurde über die rätselhafte Abwesenheit Sylvesters
mancherlei geredet, wie sich denken läßt. Forschenden
Blicken zu begegnen, Vertraulichkeiten abzuwehren
und taktlose Neugier zufriedenzustellen, hatte Agathe
keine Lust; nicht bloß aus diesem Grund, sondern
auch, weil ihr die Menschengesichter immer weniger
gefielen, mied sie Gespräche und Zusammenkünfte
und verbarg sich still in ihrem Hause. Achim Ursanner,
der einzige, dessen Gesellschaft ihr bisweilen
erwünscht gewesen wäre, gab selten ein Lebenszeichen,
und gesehen hatte sie ihn seit ihrem Besuch in
Randersacker nicht mehr. Einmal hatte er ein paar
Stellen aus einem Brief Sylvesters geschickt, ein
anderes Mal die Abschrift einiger kraftvoller Sätze
aus der Schopenhauerschen Abhandlung: Von dem,
was einer vorstellt. »Die Erde ist von einem heillosen
Gezücht bevölkert,« hatte er hinzugefügt, »und
was mich vor der Verzweiflung, ja vor dem Selbstmord
rettet, ist einerseits die Erkenntnis, daß dieses
Gezücht in unermeßlicher Geistesfinsternis begraben
ist (denn wir alle, Frau Agathe, wir alle unterschätzen
sehr die Macht und Souveränität der Dummheit),
anderseits der Trost und Zuspruch aus den
Werken der wenigen großen Männer, die in diese
üble Welt versprengt sind wie Goldkörner in eine
Felsenwüstenei.«
An einem Nachmittag im Juni kam Frau Österlein
zu Agathe und meldete, daß ein fremder Mann
drunten warte. Sie konnte den Namen des Ankömmlings
nur verzerrt wiedergeben, aber Agathe
erriet sogleich, daß es Ursanner sei. Sie eilte hinab
und begrüßte ihn. Pferd und Wägelchen, die ihn
hergebracht, standen am Tor.
Er sah ziemlich vernachlässigt aus; sein Bart
war gewachsen, auf der Stirn und neben den Nasenflügeln
hatten sich tiefgehöhlte Furchen gebildet, und
sein Blick erhob sich selten bis zu den Augen Agathes.
Er hatte nervöse Gesten und oft mitten im Sprechen
Sekunden der Gedankenflucht. Der Händedruck,
mit dem er Agathes Gruß erwiderte, war eigentümlich
klammernd. »Seien Sie mir nicht böse, daß
ich Ihre Freundlichkeit so spät heimzahle,« begann
er, »doch was ich wünsche und was ich darf, das
ist so verschieden wie Himmel und Hölle.«
Agathe bot ihm eine Erfrischung an, er wollte
nichts nehmen und verlangte nur einen Trunk Wasser.
Dann fragte er nach Silvia, aber das Kind war
mit Frau Marquardt zum Bad gegangen. »Schade,
ich hätte das Mädchen gerne gesehen,« meinte Ursanner,
und Agathe, indem ein Schatten über ihre
Stirn zog, erwiderte, auch sie hätte gern erfahren,
wie er über das Kind denke; »sie ist so sonderbar
seit einiger Zeit, so verschlossen, so launenhaft,
manchmal wird mir angst und bang.« — »Davon
kann ich ebenfalls ein Lied singen,« sagte Ursanner
halblaut; »an unsern Kindern merken wir immer,
wie die Welt zu uns steht, und das gibt meistens
ein trauriges Echo. Doch wie wär's,« fuhr er lebhafter
fort, »wenn wir einen Spaziergang machten,
Frau Agathe? Haben Sie Lust?«
Agathe stimmte zu. Am Mittag hatte es gewittert,
jetzt war es schön geworden. Laub und
Wiesen glänzten, und die Mücken, die in der Luft
schwärmten, sahen aus wie Silberspäne. Agathe
begehrte zu wissen, ob sich in Ursanners schlimmen
Angelegenheiten etwas verändert habe. Ursanner
ging eine Weile nachdenklich neben ihr her, dann
sagte er: »Lassen wir das doch, Frau Agathe. Meine
Sachen sind dermaßen beschaffen, daß man am
besten darüber schweigt. Um mich und in mir
wird's schwärzer mit jedem Tag. Letzte Nacht nun,
wie ich schlaflos in meinem Bette lag, dacht' ich
mir: morgen will ich einmal in ein liebes Gesicht
schauen, und ich dachte an Sie dabei und nahm
mir vor, zu Ihnen zu gehen. Das gab mir meine
Ruhe wieder, und ich konnte einschlafen. Da bin
ich also, Frau Agathe, und wenn ich eine Bitte tun
darf, ist es die, daß wir nicht von meinem Elend
sprechen.«
»Die Bitte muß ich Ihnen schon aus Dankbarkeit
erfüllen,« antwortete Agathe, und mit einem
Seufzer setzte sie hinzu: »Aber es dünkt mich, wo
immer zwei Menschen beisammen sind, sprechen sie
von ihrem Elend.«
»Sie trinken das Bittere, weil Süßes drauf
folgt, heißt irgendein Vers,« sagte Ursanner. »Bei
mir nicht. Sie, Frau Agathe, spüren das Süße
schon auf der Zunge, denn Ihr Schicksal, dessen bin
ich gewiß, wird sich bald zum guten wenden. Sie
gehören nicht zu denen, die niedergetreten werden,
dessen bin ich gewiß.«
»Sie haben recht, daß Sie meine Leiden nicht
schwer nehmen,« entgegnete Agathe; »was soll's
auch weiter? Man hat etwas genossen, was man
dann entbehren muß. Das Herz gewöhnt sich so
leicht an einen Glückszustand, daß es ihn fordern
zu können glaubt und sich ganz ungebührlich benimmt,
wenn es verzichten soll. Ich hoffe selbst,
daß es mich nicht niederwirft.«
»So war die Meinung mit nichten,« sagte Ursanner,
»aber ich sehe schon, Sie ziehen Ihr Mißverständnis
meiner Zuversicht vor. Jeder liebt seinen
Schmerz, und heute scheinen Sie unversöhnlicher
gestimmt als damals.«
»Wissen Sie denn nicht, daß er von mir gegangen
ist, ohne mir auch nur ein Wort zu sagen,
weder ein gutes, noch ein böses Wort?« rief Agathe
stehenbleibend; ihre Wangen entfärbten sich, und
die Hände hatte sie auf die Brust gedrückt. »Er
ist fort wie einer aus einem Garten schleicht, aus
dem er Äpfel gestohlen hat, wie einer, der mit
Falschspielern am Kartentisch gesessen ist und voll
Ekel aufsteht und sich entfernt. Was kann ich aber
machen? Bin ich nicht für mein Leben entwürdigt?
Hat er mir nicht deutlich genug zu verstehen gegeben,
daß ich nur Zeitvertreib und Füllsel für
ihn war?«
»Es ist nicht so, es ist nicht so,« beschwichtigte
Ursanner die leidenschaftlich Erregte. »Nicht wie
ein Apfeldieb, auch nicht wie ein Spieler ist er gegangen,
sondern vielleicht wie ein abergläubischer
Schatzgräber; solche Leute haben oft eine geheimnisvolle
Manier und sind von ihrem Trieb bis zur
Sinnlosigkeit besessen. Denken Sie doch einmal
mit aller Güte an ihn, deren Sie fähig sind. Erinnern
Sie sich seiner besten Augenblicke, und Sie
werden Mühe haben, sein Bild so finster zu sehen,
wie es Ihnen Ihre beleidigte Empfindung zeigt.
Ein sonst vortrefflicher Mensch, und das ist Sylvester
doch, der einem teuren Wesen Schlechtes zufügt,
leidet mehr als dieses Wesen selbst. Man braucht
oft nur ein wenig Einbildungskraft, um dem Häßlichen
einer Tat die Qual anzumerken, die sie dem
Täter bereitet.«
»Nein, nein,« entgegnete Agathe, »das verwirrt
mich. Wer eine einfache Pflicht erfüllt, hat niemals
so feine Auslegungen nötig wie der, der sie mißachtet.
Was für Geschöpfe sind doch die Männer!
Wahllos in ihren Neigungen, skrupellos in ihren
Gelüsten, erfinden sie eine neue Weltordnung, um
der Schwäche und dem Laster einen großartigen
Namen zu geben, und für ein Mysterium der Natur
möchten sie gelten lassen, was nur Überdruß und
Lüsternheit ist. Hab' ich nicht denselben Anspruch
darauf, mein Leben auszuschöpfen? Bin ich nicht
auch aus Fleisch und Blut? Ist bei mir Sünde,
was bei ihm Not ist? Was ihm erlaubt ist, soll
mir verwehrt sein? Warum? Maßt sich ein Weib
dergleichen an, so kehrt ihm jeder Mann und jedes
Weib den Rücken. Wie, wenn ich ihm eines Tages
sagte: ich habe mich vergessen, nur ein einziges Mal,
aber ich habe mich vergessen —? Dann wäre ich
die Verräterin, und er, der mich im Tiefsten verraten
hat, der Gott, der seine Ehre rächt. Ist das
billig?« Sie hob einen Zweig vom Boden auf
und riß mit heftigen Gebärden die Blätter herunter.
Achim Ursanner lächelte. »Sie könnten es nicht,
auch wenn Sie wollten,« antwortete er, »und damit
ist alles gesagt. Eine Ehe ist nur äußerlich ein
Vertrag zwischen Gleichberechtigten, in Wahrheit hat
sie die ganze Bosheit und Gefährlichkeit der natürlichen
Einrichtungen, denen wir durch Widerstand
und Kampf nichts von ihrer majestätischen Willkür
abdingen können. Überall wo im Kosmos Kräfte
verteilt sind, streben sie zur Harmonie, und was
wir als sinnliche oder sittliche Gebote in uns spüren,
sind nur Zeichen für die Elemente einer höheren
und meist sehr grausamen Ordnung. Weib und
Mann! Es ist, als ob man zwei Sterne im Raum
durch eine Brücke verbinden wollte.«
»Ja, sind wir denn los und ledig und ist jeder
nur Werkzeug? Muß man alles was geschieht,
erdulden, bloß weil es geschieht?«
»Das Weib ist für die Ehe geboren, der Mann
muß zu ihr entschlossen sein; das erklärt vieles,
scheint mir.«
»Wohl möglich,« versetzte Agathe entmutigt.
»Klüger werde ich mit diesem Lehrsatz nicht. Und
wenn er dazu entschlossen ist, gewinn' ich nur, was
er mir freiwillig gibt; was er mir vorenthält, darf
ich ihm nicht verargen. Er besitzt mich, ich aber
bin von seiner Gnade abhängig. Das wollen Sie
doch sagen, nicht wahr? Sie fanden mich unversöhnlich
gestimmt; und nach alledem klingt das wie
Hohn. Kehrt er eines Tages zurück, so sucht er
seine Bequemlichkeit bei mir, wie er sie vorher
gesucht hat. Er hat mich weggeworfen, er wird
mich wieder aufheben. Die Wunde, die er geschlagen
hat, wird vernarben, der Mensch ist ein
Ungeheuer an Vergeßlichkeit. Das Band, das er
zerrissen hat, wird geflickt werden; hat der Magen
nur sein Futter und der Kopf ein Dach, so kann
man schon miteinander leben. Wagt' ich's, Rechenschaft
zu fordern, was soll ich tun, wenn er mir
antwortet: wer gibt dir das Recht dazu? In der
Tat: wer gibt mir das Recht dazu? Meine Blüte
ist dahin, was für Lockmittel hab' ich, was für
Drohungen, wie kann ich vergelten? Also, was
nennen Sie denn das Unversöhnliche an mir?«
Wieder blieb sie stehen, mitten auf dem Waldweg
stand sie, aufrecht und streitbar gleich einer
Walküre, und ihr italienischbraunes Gesicht mit den
großen Augen machte das abendliche Zwielicht
förmlich heller.
Achim Ursanner schaute sie bewundernd an, und
jäh schoß ihm der Gedanke durch den Sinn: mit
einem solchen Weib an der Seite hätte ich siegen
können. Er senkte rasch den Blick und entgegnete:
»In Ihnen ist mehr Blühen als Sie ahnen. Grübeln
Sie nicht, Frau Agathe, hadern Sie nicht! Seelen
wie die Ihre sollen brennen, nicht glimmen. Handeln
Sie stets nach Ihrem reinen Gefühl, denn dieses
ist die Stimme Ihres Schicksals. Und fragen Sie
sich selbst, fragen Sie Ihr Herz fromm und ruhig nach
der Zukunft, so werden Sie erfahren, daß in Ihrem
eigenen Innern keine Furcht und kein Zweifel ist.«
Agathe lauschte bestürzt; das klang wie ein
Abschied und wie ein Vermächtnis. Sie wußte
nichts zu erwidern. Schweigend gingen sie das
Waldtal hinunter und über die nassen Wiesen gegen
den Gutshof. Ursanner hatte Eile; ohne vorher
ins Haus zu treten, stieg er in den kleinen Wagen
und trieb das alte Pferd heimwärts.
In Randersacker wartete schon seit dem Nachmittag
ein Gerichtsbote auf Ursanner. Schlimmes
ahnend, riß er dem Mann das Dokument aus den
Händen. Es war das Urteil der letzten Instanz,
gegen das es keine Berufung gab und lautete, daß
Ursanner die beiden Knaben innerhalb dreier Tage
von der Stunde der Rechtsgültigkeit des Verdiktes
ab der Mutter auszuliefern verpflichtet sei, da er
durch eine das öffentliche Ärgernis erregende Haltung
als Bürger wie als Mensch seiner Ehegattin den
Aufenthalt in seinem Hause unerträglich gemacht,
seine Erziehungsprinzipien dem gegründetsten Mißtrauen
preisgegeben und somit seine väterlichen
Ansprüche verwirkt habe.
Er entließ den Boten mit einem knurrenden Laut.
Die Kehle war ihm ausgedörrt, er mußte etwas
Scharfes trinken und griff nach einer Flasche Kirschwasser
auf dem Spind. Nachdem er die ätzende
Flüssigkeit hinabgegossen, stand er wieder unbeweglich
und starrte zu Boden. Auf der Landstraße
drunten zog ein Haufe von Burschen johlend vorüber.
Die eine der drei Doggen, das Weibchen,
bellte dumpf. Vom Kirchturm schlug es zehn Uhr.
Als die Glocke die elfte Stunde ankündigte,
stand er noch ebenso unbeweglich. Von Zeit zu
Zeit heftete er einen finster ungläubigen Blick auf
das Gerichtspapier, das auf dem großen Tisch unter
der Lampe lag. Plötzlich fing er an wie rasend
auf- und abzugehen. »Du Hund,« sprach er zu
sich selbst, »was willst du noch dahier? Der Schinder
kommt, dein Jappen hilft nichts mehr. Sie drängen
dich in die Ecke und geben dir den Genickfang.
Geifere nur, das rührt sie nicht, das ergötzt sie bloß,
geifere nur, du einfältiges Vieh.«
So wütete er bis gegen drei Uhr nachts. Dann
warf er sich bäuchlings auf das gebrechliche, rundgebogene
Sofa, preßte die Fäuste in die Augenhöhlen
und stürzte sich in den Schlaf wie man
sich ins Wasser stürzt. Als er erwachte, war das
Zimmer so voll Qualm der Lampe, die geblakt
hatte, daß die Strahlen der Morgensonne ihn nicht
durchdringen konnten.
Die Brust war ihm eng, er mußte ins Freie.
Am Brunnentrog wusch er das Gesicht, dann stürmte
er durch die Landschaft, und plötzlich entschloß er
sich, in die Stadt zu gehen. Dort angelangt, frühstückte
er hastig in einem Kaffeehaus an der Mainbrücke,
danach suchte er den Professor Barenius
auf, seinen Universitätslehrer, einen der wenigen
Menschen, mit denen er noch Beziehungen unterhielt.
In gepreßten Worten berichtete er über die
letzte Wendung des Prozesses und fragte den greisen
Juristen, ob er kein Mittel wisse, den Urteilsvollzug
zu verzögern. Barenius verneinte. »Ich werde
die Kinder nicht preisgeben,« erklärte Ursanner zähneknirschend.
»Dann bleibt nichts andres übrig als
mit ihnen zu fliehen, und zwar rasch und ohne
Aufsehen,« war die Antwort. Ursanner schüttelte
heftig den Kopf. »Fliehen? Das hieße ein Unrecht
bekennen. Nimmermehr.« — »Ich sehe nicht ein,
was Sie sonst anfangen könnten, um die Kinder
zu behalten. Wollen Sie sich etwa gegen den Staat
zur Wehr setzen?« — »Man wird mich zwingen,«
entgegnete Ursanner wild, »ich weiß es und ich
warte darauf.« — »Seien Sie klug, Achim, vertrotzen
Sie sich nicht,« mahnte der Professor. — »Um
des Himmels willen, begreifen Sie doch, was
an mir verübt wird,« sagte Ursanner in einem
Flüsterton, der schrecklich klang; »man stellt mir
die Welt auf den Kopf, und alles was ich ehedem
für heilig, ja nur für respektabel gehalten, erscheint
mir als ein Hexentanz der Lüge. Hätte ich etwas
Außerordentliches erstrebt, neue Ideale proklamiert
oder einen neuen Gott gepredigt, ich wollte mich
nicht wundern. Doch ich habe bloß getan, was
jeder redliche Mensch von sozialem Gewissen tun
müßte. So möge man mir denn zu Leibe gehen!
Vielleicht ritzt mich das Schwert der geschändeten
Gerechtigkeit, und ich kann mit größerem Fug als
bisher Zeuge sein für die Verblendung und die
moralische Verworfenheit eines Volkes, das zu
lieben ich mir einst eingebildet habe.« Nach diesen
Worten drehte sich Ursanner um und verließ das
Zimmer.
Der Gedanke, daß man sich während seiner
Abwesenheit der Kinder bemächtigt haben könne,
peitschte ihn geradezu nach Hause. Schweißbedeckt
langte er an und atmete erst auf, als er die Knaben
hinter der Scheune spielen sah. Er befahl ihnen,
in ihr Zimmer zu gehen, dann rief er seine Leute
zusammen. Es befanden sich in seinem Dienst
fünf Knechte, darunter der alte Schermer, der die
Knaben beaufsichtigte, außerdem drei halbwüchsige
Jungen, die er aus dem protestantischen Asyl zu
sich genommen, und eine einzige Magd, die die
Küche versorgte. Sie war ihm erst in letzter Zeit
durch einen Kaufmann in Markt-Erlbach geschickt
worden. Sie hatte ein heuchlerisches Wesen, und
er mißtraute ihr. Einer der Knechte wollte sie
im heimlichen Gespräch mit dem Fischhofbauern,
dem bigottesten im ganzen Dorf, gesehen haben.
Ursanner schärfte den Leuten ein, daß die Tore bei
Tag und Nacht versperrt bleiben müßten, daß ohne
seine ausdrückliche Bewilligung niemandem geöffnet
werden, daß ebensowenig einer den Hof verlassen
dürfe und daß, wer sich aus Angst oder sonstiger
Ursache dem nicht fügen wolle, es jetzt gleich sagen
möge; dem werde der Lohn ausbezahlt, und er
könne von dannen ziehen.
Es meldete sich keiner. Ursanner bestimmte die
Wachtposten, die von Stunde zu Stunde abgelöst
wurden und ließ die Doggen loskoppeln.
Der Nachmittag, die Nacht und der nächste
Morgen verliefen ruhig. Kurz vor zwölf Uhr schlugen
die Hunde an. Auf dem Schlangenweg zeigten
sich drei Männer, einer mit einem Höcker, einer
mit einer großen Hornbrille und ein Gendarm.
Durch das Lärmen der Tiere herausgelockt, trat
Ursanner an die eichenen Latten des Hoftores.
Den mit dem Höcker kannte er, es war der gegnerische
Advokat; der mit der Hornbrille mochte ein
Gerichtsfunktionär sein. Als die drei Personen
oben waren, entwickelte sich zwischen Ursanner und
dem Advokaten folgendes Gespräch: »Was wünschen
Sie?« — »Ich hoffe, daß Sie von dem Zweck unseres
Besuches unterrichtet sind.« — »Das bin ich.« — »Nun
also. Wollen Sie uns nicht einlassen?« — »Nein.« — »Was
bedeutet das?« — »Es bedeutet,
daß ich das Urteil nicht anerkenne.« — »Sind
Sie toll?« — »Ich weigere mich, die Kinder herzugeben.« —
»Das kann Ihnen teuer zu stehen
kommen.« — »Gewiß; ich bezahle die Dinge nach
ihrem Wert.« Der Funktionär und der Gendarm
rissen vor Erstaunen die Augen auf. In dem
häßlichen Gesicht des Advokaten zeigte sich Mitleid.
»Es muß Ihnen doch klar sein, daß Sie sich eines
Verbrechens schuldig machen,« sagte er; »wenn ich
die Anzeige erstatte, sind in einer halben Stunde
zwanzig Gendarmen hier, und Sie können sich
denken, daß es nicht lange dauern wird bis dem
Gesetz, so oder so, Folge geleistet ist. Es läßt sich
nichts dagegen einwenden, daß Sie Ihre eigene
Person ins Unglück stürzen wollen, aber die armen
unwissenden Menschen, deren Brotgeber Sie sind,
mutwillig zugrunde zu richten, haben Sie kein Recht.
Belieben Sie den Umstand zu überlegen.«
Da schwieg Ursanner. Der Vorwurf traf ihn.
Er konnte sich nicht verhehlen, daß er hier eine unaustilgbare
Schuld auf sich lud und nicht mehr
reinen Herzens vor das Tribunal der Menschheit
treten durfte. Seine erste Regung war, die Leute,
auf deren Beistand er gezählt, fortzuschicken, denn
der tiefere Sinn seiner Absicht war ja bloß, die
Übermacht, der er weichen mußte, zu sehen und
körperlich zu spüren, damit das Maß der Unbill
sich fülle, ohne daß er sich schmählich unterwarf.
Wenn sie einen Schuß abfeuerten und die Türen
zerschmetterten, war dem genügt; zu sinnlos ungleichem
Kampf brauchte es nicht zu kommen. Aber
diesem Verlangen nach einer symbolischen Handlung
willfahrt die Wirklichkeit nicht; ihre Entscheidungen
sind von gröberer Art. Ursanner erbebte vor sich
selbst. Noch einmal erhob sich der furchtbare Trotz,
und mit Wollust trieb es ihn zum Untergang und
zur Vernichtung; doch zugleich war ihm, als sei
dazu ein Blick der Liebe nötig, irgendeine Botschaft
aus den Wohnungen der Schicksalsgeister, ein pythischer
Trost. Es leuchtete in seinen Augen, er
schob die Brille in die Höhe, um frei in den Himmel
zu schauen, nickte vor sich hin, und während er sich
gegen das Haus wandte, bat er den Advokaten,
er möge sich eine kleine Weile gedulden.
Er ging in das Zimmer, in dem sich die Knaben
befanden. Sie saßen mit eigentümlich verbissenen
Gesichtern am Fenster einander gegenüber und ließen
ihre Beine pendeln. Ursanner nahm einen Stuhl
und setzte sich zu ihnen. »Hört mal, Buben,«
sagte er, »eure Mutter schickt nach euch.« Die vier
Beine hörten auf zu pendeln, und vier Augen blickten
Ursanner gespannt an. »Was meint ihr,« fuhr er
scheinbar harmlos fort, »wollt ihr am Ende mit
den fremden Männern zu eurer Mutter gehen?«
Kein Laut, nur ein gieriges, forschendes Schielen.
Das Blut rauschte Ursanner in den Ohren; mit
Mühe rang er um die Sprache. »Oder wollt ihr
bei mir bleiben? Redet nur frisch von der Leber
weg.« Der jüngere Knabe, der den offeneren Charakter
besaß, sprang empor, klatschte in die Hände und
rief: »Zur Mutter, ach ja, zur Mutter! Das möchten
wir, nicht wahr, Friedel?« Friedel lächelte seltsam
tückisch, und sein Vater durchschaute in diesem verzweifelten
Augenblick die gemütlose, verstockte und
unehrliche Seele dieses Kindes. »Ihr wollt also
lieber zu eurer Mutter gehen?« fragte er, ohne die
Anstrengung zu verraten, die ihn diese Worte kosteten.
Jetzt riefen beide Knaben: »Ja, zur Mutter,« erlöst,
freudig und wie aus einem Mund.
Ursanner schaute im Zimmer umher. Er suchte
den alten Knecht; als er die Tür öffnete, um zu
rufen, trat Schermer auf die Schwelle. »Packen
Sie die Kleider und die Spielsachen der Buben,«
redete ihn Ursanner an, »in einer halben Stunde
müssen sie fertig sein.« Darauf kehrte er in den
Hof zurück, gebot, daß man die Hunde an die Kette
lege und riegelte selbst das Tor auf. Der Advokat
und seine Begleiter traten ein. Jener war fein
genug, das veränderte Benehmen Ursanners mit
einer stummen Verbeugung zu quittieren. Auf der
Chaussee hatten sich inzwischen eine Menge Dorfbewohner
versammelt, Männer und Weiber, und
stierten mit bösen, hämischen Gesichtern empor.
Ein alter Bauer hob drohend beide Fäuste und ein
kahlköpfiger Mensch, der an Krücken ging, stieß mit
krähender Stimme Flüche und Schimpfreden aus.
Ursanner sah und hörte es, sah und hörte es auch
nicht. Wie von einem elektrischen Schlag berührt,
fuhr er zusammen, als ihm Schermer mitteilte, daß
die Kinder bereit seien. Sie kamen; sie reichten
ihm die Hände; sie stellten sich auf die Zehen, um
seine Wange zu küssen; ihre Augen glänzten und
ihre Bewegungen waren voll Lebhaftigkeit, — Ursanner
sah es und sah es auch nicht. Der Advokat
redete etwas, der Funktionär zog den Hut, der
Gendarm salutierte, dann waren sie alle verschwunden,
Schermer trug zwei Bündel hinterdrein, man sah
ihn noch lange auf der Landstraße wanken; der
Krüppel unten kreischte hysterisch, das Doggenweibchen
fing an zu heulen, aber Achim Ursanner
stand wie zu Stein geworden. Den Knechten war
er unheimlich. Sie flohen seinen Anblick.
Am andern Morgen wurde ihm hinterbracht,
daß es den Bauern gelungen war, die Hunde zu vergiften.
Er war abermals die ganze Nacht hindurch
auf dem rundgebogenen Sofa liegen geblieben. Eine
Flasche Wasser, Wurst, Käse, Brot und Früchte
standen neben ihm auf einem Stuhl. In der getünchten
Stubendecke hatten die Sprünge und Risse
auffallend interessante Figuren gebildet. Er mußte
sie beständig anstarren. Er wußte nicht, wieviel
Zeit vergangen war, als in einer Nacht eine Weiberstimme
durch das Haus gellte: »Es brennt, Herr,
es brennt!« Die Magd war es, die Ursanner weckte.
Die beiden Scheunen und das Waschhaus waren
bereits von den Flammen ergriffen. Als Ursanner
ins Freie trat, loderte auch das Dach des Wohngebäudes
wie Reisig. Die Landschaft lag weithin
in roter Glut. Die Kirchenglocken läuteten, das
Dorf erwachte und geriet in Eifer, die Knechte
hatten sich schon ans Löschen gemacht, vermochten
aber dem Element nicht Einhalt zu tun; auch war
zu wenig Wasser vorhanden. Die Magd, die,
merkwürdig genug, ihr Sonntagskleid am Leibe
hatte, kniete vor dem Zaun und betete. Gegen
Morgen rückten die Löschmannschaften aus Würzburg
an; die Flammen züngelten aber nur noch in
vier Ruinen.
Ursanner begab sich in die Stadt und mietete
sich in einem Gasthaus in der Nähe des Domes
ein. In dem schmutzigen kleinen Zimmer schrieb
er folgenden Brief an Agathe.
»Es ist alles vorüber. Ihnen die Vorgänge
in ihrer Reihe zu berichten, dazu fehlt es mir an
Mut, an Klarheit und an Worten. Die Kinder
sind weg, Haus und Hof sind eingeäschert, ich
selbst bin auf dem Weg nach Frankreich. Ich
lasse in der Heimat nichts zurück, was mir die
Trennung erschwert. Ich lösche das Gedächtnis
an ein Land aus, das meine Kräfte gemordet,
meine Fähigkeiten erstickt, meine Hingebung mit
Verachtung bezahlt und meinem Gemüt die unheilbare
Krankheit des Menschenhasses eingeimpft
hat. Ich gehe nach Frankreich, um dort in den
Kriegsdienst zu treten. Die Franzosen schlagen
sich fortwährend in Mexiko, in Algier und in
Asien. Der Marschall Montauban, bekannt oder
berüchtigt durch seine Expedition in China, weiß
von mir, denn er war ein Jugendfreund meiner
Mutter. Leben Sie wohl, teure Frau. Ihr Bild
raubt meinen letzten Erlebnissen etwas von ihrer
würgenden Schmach. Schenken Sie dem armen
Flüchtling bisweilen einen freundlichen Gedanken.
Achim Ursanner.«
Agathe hatte die Nachricht von dem Brand in
Randersacker durch die Würzburger Botenfrau
erhalten, die zweimal wöchentlich nach Erfft
kam. Die Zeitung brachte nur eine flüchtige Notiz.
Es wurde allgemein angenommen, daß das Feuer
gelegt worden sei, und nun erhoben sich Stimmen
der Bevölkerung, die für Ursanner Partei ergriffen
und dem Kesseltreiben gegen den unglücklichen Mann
steuern wollten. Eben hatte sich Agathe entschlossen,
zu Ursanner zu fahren, als sie seinen Brief bekam.
Während des Lesens konnte sie sich der
Tränen nicht erwehren. Da der Umschlag den
Würzburger Poststempel trug, drängte es sie in die
Stadt, aber bei weiterem Bedenken sah sie das
Fruchtlose eines solchen Schrittes ein, da sie nicht
wußte, wo er wohnte und er wahrscheinlich schon
abgereist war. Im Lauf der Tage begrub sie ihre
mitfühlende Trauer still in ihrer Brust, und eigene
Not brachte die des Freundes in Vergessenheit.
Daran war vor allem Silvia schuld. Das Kind
verlor seinen Frohsinn nach und nach gänzlich. Es
liebte seine ehemaligen Spiele nicht mehr, nur
selten hörte man sein unbefangenes Geplauder, und
das immer blasser werdende Gesichtchen gab der
Mutter Anlaß zur Sorge. Am meisten betrübte
es Agathe, daß das Mädchen immer jäh die Augen
senkte, wenn es ihrer ansichtig wurde, und Agathe
gewann allmählich den Eindruck, daß ein bestimmter
Argwohn in dem Kind wuchere. Mit Schrecken
nahm sie wahr, daß Silvia ihr kein Vertrauen
mehr entgegenbrachte, und um so beklommener war
ihre Lage, als sie es bei sich für unmöglich erklärte,
dem achtjährigen Geschöpf triftige und verständliche
Aufschlüsse zu geben. Sie ahnte ja, was das
forschende und gequälte Wesen Silvias zu bedeuten
hatte, und obwohl sie sich sagte, daß dieser unentwickelten
Seele die volle Empfindungskraft und der
entschiedene Wille eines erwachsenen Weibes eigen
sei, verbot ihr der verwunderte Hochmut und jene
Scham, welche gewisse Mütter bei frühen Persönlichkeitsäußerungen
ihrer Kinder spüren, dem armen
kleinen Herzen in seiner Bedrängnis beizustehen.
Oft trat sie am Abend an das Bett Silvias,
wenn diese mit offenen Augen dalag und in die
Dunkelheit schaute. Einmal glaubte sie das Kind
im Schlaf, da beugte sie sich und küßte es auf die
Stirn. In demselben Augenblick bemerkte sie, wie
Silvias beide Hände sich zu Fäusten zusammenkrampften
und die zuckenden Wimpern verrieten,
daß der Schlaf geheuchelt war. Agathe empfand
einen heftigen Schmerz; Zentnerlast wälzte sich auf
ihre Brust, und still ging sie hinaus. Eines Tages
im Juli geschah es, daß ein Hagelwetter das Getreide
auf den Feldern und den Wein an den
Stöcken niederschlug. Die Erntehoffnungen für
dieses Jahr waren vernichtet. Agathe saß im großen
Wohnzimmer, den Kopf in beide Hände gestützt,
und Inspektor Marquardt stand neben ihr, verlegen,
finster und schweigsam. Währenddem ging die
Türe auf und Silvia kam herein. Sie stellte sich
zwischen den Inspektor und ihre Mutter und sah
diese an, und Agathe wurde aufmerksam auf Blick
und Miene des Kindes. Es war der große, kalte
Blick befriedigter Rache, die grausame Miene der
Genugtuung. Unwillkürlich erhob sich Agathe. »Was
willst du?« herrschte sie das Kind an, »geh! Geh
mir aus den Augen.« Ein Zittern überflog Silvias
Glieder, und sie gehorchte. Der Inspektor schaute
ihr mitleidig nach, weil er dachte, ihr sei unrecht
geschehen.
Einige Wochen später war es, als Agathe den
Brief Sylvesters erhielt, den er in dem kleinen
Wirtshaus in Twickenham geschrieben. Mit unendlicher
Bitterkeit las sie die Sätze, die ihr allzu
verstiegen und allzu demütig erschienen, um ihr
Gefühl aufzurühren. Doch wußte sie sogleich, was
für eine Bewandtnis es mit dem Brief hatte, und
daß er von verhängnisvollen Banden umstrickt sein
mußte, um so vor ihr zu betteln. Sie hatte sich
längst abgefunden mit ihrem Los, doch die mahnende
Stunde, das unerbittlich Gegenwärtige des Bruchs
und der Zerstörung wirkte auf sie, als ob man ihr
die Haut vom Leibe risse. Silvia saß draußen auf
einem hochbeladenen Heuwagen; sie hatte den Briefträger
gesehen und konnte durch die offnen Fenster
in die Stube blicken. Nun kletterte sie vom Wagen
herunter und eilte ins Haus. Zögernd trat sie ein,
richtete aber die Augen furchtlos gegen Agathe und
fragte: »Was schreibt denn der Vater?« Agathe
war betroffen von der Divination wie auch von
der verstellten Ruhe in der Stimme des Kindes.
Es war das erstemal, daß sich Silvia durch eine
unmittelbare Frage nach ihrem Vater erkundigte,
aber der mißtrauische und heimlich gereizte Ton
erzürnte Agathe, und sie antwortete: »Deinem Vater
geht es gut. Was dich betrifft, so nimm dich in
acht, Kind, daß du mir nicht durch Dünkel und
Vorwitz verhaßt wirst. Nicht was du sprichst,
sondern wie du dich gibst, ist über deine Jahre
und steht dir nicht an. Wenn du älter und klüger
bist, wirst du einsehen, daß man mit einem so
kleinen Mädchen nicht über die ernsten Dinge sprechen
kann, die Vater und Mutter beschäftigen.«
Silvia lächelte. Es war ein sehr besonderes
Lächeln, das ungefähr zu sagen schien: »Du weichst
mir aus und du willst mich täuschen, aber ich frage
ja nur, um zu ergründen, ob du mich täuschen
willst.« Nicht Dünkel und Vorwitz lag in dem
Lächeln, sondern eine gleichsam in Träumen gewonnene
Erfahrung. Von diesem Tage an wünschte
Silvia, daß sie sterben möge, denn nun wähnte
sie die Gewißheit erlangt zu haben, daß der Vater
niemals zur Mutter zurückkehren werde. Warum
es so war und so sein mußte, begriff sie nicht; daß
es so war, überhauchte ihr Wesen mit einer Schwermut,
die aus der abgöttischen Liebe zum Vater
stammte. Sie entbehrte ihn; sie verdorrte ohne ihn
wie eine Blume ohne Regen. Sein Tod hätte sie
vielleicht härter getroffen, doch hat der Tod für die
Phantasie eines Kindes eine abschließende und verklärende
Macht. Sie wußte, daß er lebte, irgendwo
draußen in der Welt lebte und die Tatsache seines
plötzlichen Verschwindens, seiner Abwesenheit, seines
Fernbleibens erfüllte sie mit um so größerer Bangigkeit
und Sehnsucht, als sie in sich selber die Ursache
davon erblickte.
Sie bildete sich nämlich ein, daß er nur deshalb
fortgegangen war, weil er sie nicht mehr hatte
leiden mögen, weil er Unarten an ihr entdeckt und
sie häßlich gefunden hatte und eine andere, bessere,
schönere Silvia haben wollte. Sie entsann sich,
wie oft sie ihn geärgert hatte durch Grimassenschneiden,
Lärmen auf der Treppe, Naschhaftigkeit
und Ungehorsam; sie konnte sich dies nicht verzeihen,
nie, solange sie lebte, würde sie sich's verzeihen
können. Nur um unter dem Gewicht der eigenen
Schlechtigkeit nicht erdrückt zu werden, verfolgte sie
das Tun und Treiben der Mutter mit tadelsüchtigen
Augen, war fast glücklich, wenn sie einen Fehler,
eine Schwäche an ihr beobachtete, und mit derselben
wunderlichen Unbarmherzigkeit stand sie den
Dienstleuten gegenüber und allem Mißgeschick, das
dem Hause zustieß.
Bisweilen erwachte sie in der Nacht, und ihr
war, als habe sie den Vater lachen gehört. Dann
vermochte sie sich seine Züge so eindringlich vorzustellen,
daß sie seine beim Lachen blitzenden Zähne
sah und seine Augen, deren spottlustiger Glanz sie
oft ergötzt hatte. Am meisten hatte sie ihn bewundert,
wenn er ritt, und sie kannte kein größeres
Vergnügen, als in einer dunklen Ecke zu kauern
und sich zu erinnern, wie prächtig er auf dem Pferde
gesessen war, und wie die Leute auf den Feldern
sich von ihrer Arbeit aufgerichtet hatten, um ihm
lange nachzuschauen.
Es verging kein Tag, ohne daß sie der Gefahren
dachte, die ihn draußen in der unbekannten Welt
bedrohten. Wilde Tiere konnten ihn überfallen;
er konnte von einer Eisenbahnlokomotive ergriffen
und von den Rädern zermalmt werden; er konnte
in ein tiefes Wasser stürzen, sich in einem Wald
verirren, in die Hände von Räubern geraten; er
konnte einen Feind haben, der in einer finstern
Gasse hinter ihm herschlich, um ihn zu erstechen;
er konnte krank werden und kein Mensch war da,
der ihn pflegte. Jede solche Möglichkeit malte sie
sich aus, bis ihre Kraft zu denken vor Mitgefühl
und Kummer erlosch.
Ihr dünkte, daß es gut und mutig wäre, hinauszuziehen
und ihn zu suchen. Sie war davon überzeugt,
daß sie ihn finden würde. Den ganzen Sommer
über spielte sie mit diesem Plan, und schon mehrmals
hatte sie sich aufgemacht und war ein Stück
Wegs über die Chaussee marschiert, um dann furchtsam
wieder umzukehren. An einem Tag im Oktober
war sie weiter gelangt als vordem, da hörte sie
lautes Rufen und stehenbleibend sah sie die dicke
Österlein auf sich zurennen. Unter Schelten und
Küssen schleppte sie den entflohenen Liebling zurück,
und erst als Silvia versprach, einen derartigen Frevel
nicht mehr zu begehen, gelobte sie, gegen die Mutter
zu schweigen. Auf Silvia hatte das Versprechen
keine andere Wirkung, als daß sie sich vornahm,
beim nächstenmal pfiffiger zu sein. Ein paar Wochen
lang wurde sie freilich von Frau Österlein mit Argusaugen
bewacht, und Silvia grämte sich, daß die Tage
immer kürzer wurden und das Wetter immer schlechter.
Es war an einem Morgen, als Agathe wegen
der fälligen Zinsen der von Sylvester in Paris aufgenommenen
Anleihe nach Eggenberg zu fahren beschlossen
hatte. Sie wußte nicht, wie sie das Geld
auftreiben sollte und sah sich gezwungen, Hilfe oder
wenigstens Rat vom Major zu erbitten. Silvia
schlief noch, als sie ging. Zufällig berührte sie die
Stirn des Kindes und sagte zur Österlein, die Stirn
scheine ihr heiß, die Frau möge acht geben und
Silvia im Zimmer halten. Silvia erhob sich mit
einem Frösteln aus ihrem Bette und ließ sich von
der Pflegerin ankleiden, was seit Monaten nicht
mehr vorgekommen war, denn sie war in solchen
Dingen sehr selbständig. Darauf ging Frau Österlein
ins Bügelzimmer und dachte, das Mädchen werde
wohl bei seinen Schreibheften sitzen bleiben. War
es nun der fieberische Zustand oder das erwünschte
Alleinsein oder die zu undämmbarem Drängen gewordene
Sehnsucht, genug, Silvia verließ auf einmal
die Stube und das Haus, schritt, ohne gesehen
zu werden, über den Parkweg an der Orangerie
vorbei und durch eine kleine Gartenpforte gegen
den mehrere hundert Meter weit entfernten Wald.
Sie hatte weder den Mantel angezogen, noch ihre
Mütze aufgesetzt, aber sie spürte den rieselnden Regen
nicht und ging erst langsamer, als sie unter den
Bäumen war. Wie ist das nur, überlegte sie,
es geht immer weiter, da vorn geht es immer
weiter, da hinten geht es immer weiter und in den
Himmel hinauf geht es immer weiter: es ist komisch
und langweilig. Die neblige Dunkelheit im Forst
erschreckte sie, und bald fühlte sie sich äußerst müde.
Sie mußte beständig zu Boden schauen; so oft sie
den Blick erhob, drehte sich alles im Kreise um sie.
Die Stille tat ihr weh, aber wenn das dürre Laub
unter ihren Füßen raschelte, wollte ihr Herz vor
Angst brechen. Zuweilen bog sich der Weg nach
links oder nach rechts, dann glaubte sie, der Vater
komme ihr entgegen, und sie beschleunigte ihren
Schritt. Allmählich wurden jedoch die Beine gar
zu schwer; und wie kalt es plötzlich war; es schüttelte
sie durch und durch. Sie setzte sich auf einen Wurzelstrunk
und schluchzte leise in sich hinein. Schließlich
fiel sie auf die Seite und verlor die Besinnung.
Gegen Mittag kam ein Holzfäller vorüber. Erstaunt
betrachtete er das bleiche, überirdisch schöne
Gesicht des anscheinend schlummernden Kindes, warf
seine Last zur Erde, hob das Mädchen aus dem
nassen Moos und trug es über eine Stunde Wegs
nach Erfft zurück, wo alles in größter Sorge und
Bestürzung war. Frau Österlein, der Inspektor,
der Gärtner, der Stallbursche und zwei Mägde
hatten die Gegend schon nach jeder Himmelsrichtung
durchstreift, nur an den Wald hatte keiner
gedacht. Frau Österlein war stumm erschüttert, als
sie das Kind aus den Armen des Bringers nahm.
Sie trug die bewußtlose Silvia in deren Zimmer,
riß ihr die Kleider vom Leib und brachte sie zu
Bett. Zwei Stunden später begann die Kranke
zu delirieren. Am Abend, noch ehe Agathe eingetroffen
war, kam der Arzt, und als er ging, sagte
er zu Frau Marquardt, die ihn in den Flur begleitete:
»Ich fürchte, das Kind wird den morgigen
Tag nicht mehr erleben.«
Während seiner dreitägigen Reise hatte sich
Sylvester keine Rast gegönnt; jetzt unmittelbar
vor dem Ziel, wäre er am liebsten wieder umgekehrt.
Unter dem Vorwand, seinen Koffer erwarten
zu müssen, blieb er in Würzburg. Die
Frage, ob er seine Ankunft in Erfft melden oder
überraschend in sein Haus treten solle, verursachte
ihm eine ungebührliche Pein der Überlegung. Wenn
er an die ersten Augenblicke des Wiedersehens mit
Agathe dachte, entsank ihm aller Mut und er
wünschte Agathe auf irgendeine Weise entfernen
zu können, um Silvia für sich zu haben. Die
ganze Kleinlichkeit und Engigkeit des bürgerlichen
Daseins gähnte ihm wieder entgegen, die Geldsorgen,
die geistlosen Geschäfte, das Übelwollen beflissener
Verwandten, und alles, was in dem Verhältnis
zu Agathe zum Austrag gelangen sollte.
Er nahm sich vor, vierzehn Tage in Erfft zu bleiben.
Bis dahin mußte die Entscheidung gefallen und
der Weg in die Zukunft offen sein. Von der Seite
Agathes auf einen Widerstand gefaßt, den er bei
ihrer edlen und herben Natur als schwer bekämpfbar
schon jetzt empfand, hatte er doch die Gründe gesammelt,
die sie zur Nachgiebigkeit bewegen mußten,
und so beredt, so mild und so bezwingend war er
nie gewesen wie in den einsamen Stunden, in
denen er sich die Gespräche mit Agathe zurechtlegte.
Nach solchen stillen Exerzitien überkam ihn immer
eine hoffnungsselige Laune.
Er wohnte nicht in dem Hotel, dessen Bedienstete
vor einem Jahr Zeugen des Auftritts mit der schönen
Rahel gewesen waren. Am dritten Morgen trieb
es ihn nach dem Gäßchen, in welchem der Laden
des Händlers war. Türe und Auslagefenster waren
mit Rollbalken versperrt und das ganze Haus machte
den Eindruck, als ob es verlassen sei. Indes Sylvester
sinnend davor stand, gewahrte ihn der Portier
des Gasthofs, erkannte ihn, trat mit einem halb
vertraulichen, halb respektvollen Grinsen heran und
erzählte, daß seit jenem Tage, der Herr Baron wisse
schon, seit welchem, der Alte seine Butike nicht
mehr geöffnet habe. Seine Tochter habe den Verstand
verloren, sie tue nichts anderes als am
Fenster sitzen und stumpfsinnig vor sich hinstarren.
Sie habe bloß eine einzige Liebhaberei, man könne
es ruhig eine Tollheit nennen: jede Woche einmal
gebe ihr der Vater eine Uhr, eine richtige Taschenuhr,
die zerstöre sie dann, ziehe die Feder und
die Schräubchen heraus und sei glücklich, wenn
alle Bestandteile Stück für Stück vor ihr lägen.
Der Alte habe mehrere Uhren, die er dann immer
wieder zusammensetzen lasse, um der Tochter von
neuem eine Freude zu bereiten, denn die Uhr müsse
ticken; wenn sie nicht ticke, lasse das Mädchen sie
unberührt. »Finden Sie nicht, Herr Baron, daß
das eine lustige Art von Verrücktheit ist?« schloß
der joviale Mann seinen Bericht.
Sylvester antwortete nicht und ging weiter.
In seinem Quartier angelangt, forderte er seine
Rechnung und bestellte für den Nachmittag einen
Wagen. Sodann verabschiedete er den getreuen
Adam, der mit der Post nach Dudsloch fahren
sollte. Adam Hund war aufgeregt wie ein Bräutigam
am Hochzeitsmorgen und sah aus wie ein
lebendiger Beweis für die Hinfälligkeit aller Theorien.
Er hatte seinem Weib ein silbernes Armband,
einen buntgesprenkelten Schal, ein Paar Filzschuhe
und ein halbes Dutzend roter Strümpfe gekauft,
und mit diesen Gegenständen in seinem Rucksack
dünkte er sich gegen alle künftigen Unbilden an
seinem ehelichen Himmel gefeit. Sylvester zahlte
ihm den vereinbarten Lohn und schenkte ihm außerdem
noch zwanzig Taler.
Um drei Uhr rumpelte die plumpe Kutsche, die
ihn nach Erfft bringen sollte, über das holprige
Pflaster der Stadt. Plötzlich ergriff ihn eine sonderbare
Ungeduld. Auf der kotigen Straße ging es
so langsam vorwärts, daß er einigemal ausstieg
und mit raschen Schritten weitereilte. Es dämmerte
bereits, als er die Häuser von Erfft sah. An der
Landstraße befand sich eine kleine Schenke; er
befahl dem Kutscher, hierzubleiben und erst in einer
halben Stunde nachzufahren, dann schlug er in
der beginnenden Dunkelheit einen wohlbekannten
Fußpfad ein.
Der Platz vor dem Haus lag öde. In den
Stuben brannte noch kein Licht, auch im Flur war
es noch finster. Er stieg die Treppe empor; kein
Mensch war zu sehen, kein Laut zu hören. Am
Ende des Gangs war Silvias Zimmer. Der Lichtschein
im Schlüsselloch glich einem Stern. Da trat
aus einer Tür zur Linken eine in der Dunkelheit
nur umrissene Gestalt. Sylvester blieb stehen.
»Bist du es, Agathe?« fragte er leise. Agathe stieß
einen Schrei aus und klammerte sich an den Pfosten,
als ob sie fliehen wollte und ihr der Weg abgeschnitten
wäre. Die Tür von Silvias Zimmer
wurde geöffnet und auf der Schwelle erschien Frau
Österlein mit warnend erhobenem Finger. Ihr zum
Flüstern schon bewegter Mund erstarrte, als sie
Sylvesters ansichtig wurde. In dem breit auf den
Flur fließenden Lampenlicht konnten Sylvester und
Agathe einander in die Augen sehen.
Er reichte ihr die Hand. Stumm und kalt
lag ihre Hand in seiner. »Wie geht es dir, Agathe?«
Sie antwortete nicht. Matt deutete sie gegen Silvias
Zimmer. Sylvester griff sich an die Stirn; fünf
Schritte, und er stand vor dem beleuchteten Gemach.
Frau Österlein wollte ihm den Eintritt verwehren,
er schleuderte sie beiseite. Agathe folgte mit einem
dumpfen Lächeln. Als Sylvester vor Silvias Bett
auf die Knie gestürzt war und verzweifelt in die
vom Fieber aufgeschwemmten Züge des Kindes
schaute, als er die lieben, sinnlosen Worte, das
erbarmungswürdige Röcheln vernahm, dem gebrochenen,
heißen, suchenden, nicht erkennenden Blick
begegnete, krampfte er die Hände in das Linnen
und fühlte selbst den Tod, der diese Seele seiner
Seele bedrohte. Eine Klage, ein Bekenntnis, ein
Gelübde, ein irres Gebet, eine Forderung an Gott,
ein zerknirschtes Hinsinken, Vermessenheit, die ein
Schicksal leugnet, während es sich vollzieht, wie
nichtig und niedrig empfand er es selbst, wie glich
es dem Zappeln eines Tieres, das zertreten wird!
Agathe legte ihm die Hand auf die Schulter.
Er verstand sie, erhob sich und ging hinter ihr aus
dem Zimmer. Im Flur sagte sie: »Letzte Nacht
glaubten wir schon, es sei aus mit ihr, da begann
sie plötzlich zu schlummern. Heute mittag ist das
Fieber mit doppelter Gewalt zurückgekehrt. Vorhin
war der Doktor hier. Läßt das Fieber in einer
Stunde nicht nach, so ist sie verloren.«
Der Inspektor und seine Frau hatten von Sylvesters
Ankunft gehört. Sie kamen die Treppe
herauf und begrüßten ihn.
Anderthalb Stunden lang saß Sylvester in
seinem Zimmer. Um acht Uhr trat Agathe herein
und sagte: »Sie schläft.« Sylvester war es, als
löse sich ein um seinen Hals geschlungener Strick.
Agathe sank in einen Sessel und bedeckte das Gesicht
mit den Händen. »Ich bin müde,« flüsterte sie
nach einer Weile, »ich habe seit vorgestern kein
Auge zugetan. Auch du wirst müde sein. Gute
Nacht.«
In seinem ganzen Leben hatte sich Sylvester
nicht so allein gefühlt wie an diesem Abend in
seinem eigenen Haus.
Das menschliche Dasein setzt sich aus Tagen
zusammen, die Tage haben ihre Zeiten, jede
der Zeiten hat ihr Erfordernis, Schlaf die eine,
Arbeit die andere, Sättigung die dritte, und wer
schlafen will, dem muß das Bett gerichtet werden,
und wer essen will, dem muß Speise gekocht werden,
und wenn nun zwei Menschen unter demselben
Dach hausen, sind sie durch kleinliche Bedürfnisse
aufeinander angewiesen, und meiden sie sich auch,
so sind sie durch die Dinge gebunden; die Sorge
des einen lastet auf dem Genuß des andern, das
Böse, das zwischen ihnen liegt, wird zerstückt, das
Gute, das sie suchen, in unerwartete Bahnen gelenkt,
entschiedenes Gefühl bleibt nicht bestehen,
der Blick verrät die Absicht, das Wort verdunkelt
sie, körperliche Nähe gibt der Atmosphäre eine Beschaffenheit,
welche Einfluß auf die Gedanken und
Entschlüsse nimmt, und was mutig geplant war,
endet in Zweifel und feigem Aufschieben.
Sylvester erfuhr dies. Er war gekommen, um
ein Band zu zerreißen; nun umschlang dieses Band
in hundert und aberhundert Windungen seine
Glieder, und jeder Versuch, sich der Fesseln zu
entledigen, erzeugte eine Wunde. Als Silvia wieder
ihre Besinnung erlangt hatte und er an ihr Lager
treten durfte, nachdem sie vorbereitet worden war,
als das Kind ihn wie außer sich umhalste und
dabei lachte und weinte und immer wieder sehen
und greifen wollte, ob er es denn wirklich sei,
wissen wollte, ob er sie noch lieb habe, ob er zu
Hause bleibe und vieles sonst, was sie nur stammeln
und schluchzen konnte, als ihre Händchen sich stets
von neuem nach ihm ausstreckten, sobald er, um
ihren Zustand zu schonen, Miene machte, sich zu
entfernen, da begann er die Kette und die Wunden,
die sie schürfte, zu spüren, und ratlos fragte er sich,
was nun geschehen solle.
Kurz darauf kam Agathe in sein Zimmer. »Ich
bitte dich nur um eines, Sylvester,« sagte sie; »das
Kind darf vorläufig nicht ahnen, wie es um uns
steht. Ich will auch nicht, daß zwischen uns etwas
besprochen wird, ehe Silvia ganz gesund ist. Wenn
wir bei ihr sind, es läßt sich nicht vermeiden, daß
wir manchmal alle beide bei ihr sind, müssen wir
uns sorgfältig hüten, ihren Verdacht zu erregen.
Es würde sie vielleicht töten.« Nach diesen Worten
entfernte sich Agathe wieder. Sylvester fragte sich
verwundert: »Was meint sie? Was weiß sie? Will
sie mir zu verstehen geben, daß sie es aufs Äußerste
ankommen lassen wird und will sie mich mürbe
machen durch Ungewißheit?«
Doch erstaunte er über ihre Haltung, über ihre
Würde. Sie grüßten einander am Morgen, sie
sagten einander Gutenacht am Abend, sie unterhielten
sich kühl und friedfertig bei Tisch, sie lächelten
einander zu, wenn sie an Silvias Bett saßen und
spürten, mit wie angestrengter Aufmerksamkeit Silvia
sie beobachtete, sie vermochten es sogar, über die
durch Sylvester heraufbeschworene Schuldenkalamität
sachlich zu verhandeln, und als der Major und
seine Frau herüberkamen, um der Rekonvaleszentin
einen Besuch abzustatten, spielte Agathe die Komödie
einer Gattin, die ihrem Mann einen Fehltritt großmütig
verziehen hat und mit ihm in neuen Flitterwochen
lebt. Der Major war finster und zurückhaltend;
man sah es ihm an, daß er eine Auseinandersetzung
wünschte und sie diesmal nur um
Agathes willen vermied; Martha war voll Spott
über die vermeintliche Dummheit Agathes und zeigte
Sylvester eine verächtliche Kälte.
Unzählige Male sagte sich Sylvester: »Ich ertrag
es nicht mehr.« Aber es war etwas in Agathe,
das ihn niederzwang und gefügig machte. Oft lag
ihm ein Wort auf der Zunge, das sie nötigen mußte,
ihm Rede zu stehen; es gefror und wurde wesenlos,
ehe er den Mund öffnete. Heimlich ging er
im Haus herum; heimlich pfiff er dem Hund und
wanderte in den Wald; heimlich las er ein Buch;
heimlich redete er mit dem Inspektor und gab Anordnungen
und Befehle. Agathes rascher, kühner
Schritt verfolgte ihn; es knarrten nachts die Dielen
unter ihrem Schritt, und sie schlief doch. Unerbittlich
schallte ihre tiefe Stimme. Ihr Auge war
klar, der Blick fest. Niemals und mit keiner Gebärde
rechnete sie auf sein Wohlgefallen und mit
Strenge entäußerte sie sich alles dessen, was an
weibliche Schlauheit, an weibliche Schwäche und
an weibliche Sehnsucht erinnern konnte.
War sie zugegen, so vermochte er den Namen
Gabriele nicht einmal zu denken. Der Name enthielt
das Fremdeste und zugleich das Vertrauteste,
ein auf einem geheimnisvollen Eiland geführtes
Märchenleben, Glück und Verzicht, Schuld und
Entbehrung. Er liebte sich selbst in diesem aus
Herzensangst und Süßigkeit gemischten Gefühl.
Sein Geist war in einem beständigen leichten Rausch;
er glaubte zu spüren, daß er begehrt wurde, daß
sie, die Ferne, mit ihren Träumen an ihm hing
und er liebte sich selbst in ihren Träumen. Er sah
ihre herrliche Gestalt im dunklen Kleid mit sanft
verhaltenen Bewegungen: das junge Mädchen. Sie
trauerte. Aber schon nahm die Welt sie auf, der
sie angehörte, deren Geschöpf sie war durch ihre
Kunst; schon vergaß sie den Mann, der an der
Grenze zweier Lebensalter stand und sie um ihre
Jugend und ihre Kunst betrügen wollte, vergaß
ihre Leidenschaft für ihn, wie man einen Irrtum
und die seine, wie man eine schöne Abendröte vergißt.
Erste Liebe wählt nicht: das junge Mädchen
ist die Kreatur des Liebenden. Kunst ist ein Moloch;
sie frißt Seelen und läßt ihrem Opfer nur den Schein
der Selbstbestimmung: die Sängerin geht zu den
Menschen wie in der Sage die Schwanenjungfrauen
in mondhellen Nächten ans Gestade gehen und verdammt
und ausgestoßen werden, wenn man ihnen
das Zauberkleid raubt.
Sylvester fing an, vieles als Gesetz und Notwendigkeit
zu begreifen, was er kurzsichtig als Mißgunst
des Geschicks beklagt hatte, und voll Resignation
folgerte er, daß sein Leben nutzlos, überflüssig und
verbraucht sei.
Eines Abends, es war ungefähr eine Woche nach
seiner Heimkunft, saß er mit Agathe beim Nachtessen.
Sie waren zum erstenmal allein bei Tisch;
bisher hatte Agathe immer den Inspektor und dessen
Frau eingeladen. Sylvester aß lustlos und in kleinen
Bissen und fand das Beisammensein beklemmend.
»Marquardt hat gestern eine Andeutung fallen lassen,
daß Achim Ursanner nicht mehr in der Gegend
weilt,« sagte er endlich; »das ist mir neu. Ich
habe vergessen, den Inspektor deswegen zu fragen.
Weißt du etwas Näheres?«
Agathe erzählte, wie sie vor einem Jahr Achim
Ursanner besucht habe, wie sich aus einem Gespräch
ein Freundschaftsverhältnis zwischen ihnen entwickelt,
und wie er einmal im Sommer in Erfft gewesen;
wenige Tage später sei das Anwesen in Randersacker
abgebrannt und er habe ihr geschrieben. Den
Brief wußte sie beinahe Wort für Wort auswendig.
Sylvester runzelte die Stirn. Es war der blanke
Widerspruchsgeist, der ihn zu der Bemerkung veranlaßte:
»Es scheint mir aber doch, daß der gute
Achim ein wenig wie ein Schwärmer und Starrkopf
gehandelt hat. Um mit den Menschen zu
leben, muß man sich ihrer zu bedienen wissen, nicht
aber sie durch kindischen Trotz in Teufel verwandeln.«
»Findest du?« antwortete Agathe ruhig. »Ich
dagegen finde, daß er wie ein Mann gehandelt hat.«
Sylvester blickte jäh in ihr Gesicht. Das hatte
messerscharf geklungen. »Es gibt vielerlei Arten,
wie ein Mann zu handeln,« versetzte er abweisend.
»Nein; es gibt nur eine einzige.«
»Und die wäre?«
»Die ist: durch die Tat bekräftigen, daß außerhalb
des egoistischen Wohlbefindens noch etwas
anderes, etwas Höheres existiert.«
Sylvester zuckte die Achseln. Nach ein paar
Minuten stand er auf, verbeugte sich höflich und
ging in die Bibliothek. Er warf sich in den breiten
Polsterstuhl und dachte über Agathes Worte nach.
Er haßte sie, weil sie den Mut besaß, ihm dergleichen
zu sagen; er haßte sie, weil diese ihre
Äußerung einen so tiefen Eindruck auf ihn übte;
er wäre gern zurückgegangen, um ihr zuzurufen:
»Ich hasse dich,« wenn er nicht neben dem Haß
etwas empfunden hätte, das ihn klein und befangen
machte. Regungslos kauerte er einige
Stunden hindurch. Plötzlich richtete er sich empor
und rief laut: »Es muß noch heute geschehen. Für
uns beide ist kein Raum in demselben Haus.«
Im Speisezimmer war es längst finster. Er
hatte der Zeit nicht geachtet und wunderte sich, als
er wahrnahm, daß die Mitternacht vorüber war.
Da er aber den Augenblick benutzen wollte, der
seinem Vorsatz den höchsten Schwung verliehen
hatte, betrat er Agathes Schlafgemach, entschlossen,
sie zu wecken. Er hatte eine Kerze angezündet und
trug sie in der Hand. Als er die Türe geöffnet
hatte, war er erstaunt, zu sehen, daß mitten im
Zimmer ein gepackter Koffer stand. Agathe schlief
fest. Ihr Gesicht war blaß, um die Lider war ein
Zug von Müdigkeit. Sylvester zauderte. Er hatte
stets Ehrfurcht vor dem Schlaf empfunden. Während
er noch überlegte, fiel sein Blick auf den kleinen
Schreibtisch und auf einen Brief, der, sicherlich kurz
vorher geschrieben, noch offen dort lag. Er setzte
sich hin und las: »Das Kind ist Gott sei Dank
so weit, daß ich für mehrere Wochen zu Martha
fahren kann. Bleibe so lange bei ihm, bis du
selber Erfft wieder verlässest. Ich gebe dir die
Freiheit. Ich hindere dich nicht, dir ein neues
Leben zu schaffen, das deinen Hoffnungen entspricht.
Ich sehe ein, daß ich dir nicht mehr genügen kann,
und du mußt wissen, daß ich dir die Achtung nicht
mehr entgegenzubringen vermag, ohne die eine Ehe
zur Hölle wird. Laß dich nicht durch die Sorge
um mein ferneres Glück oder Unglück beirren. Ich
bin gesund und kräftig, und ein Ereignis, auf das
ich solange vorbereitet war, kann mich nicht zerschmettern.
Gehorche der Stimme deines Herzens.
Möge es zum Segen für dich sein. Die innerlich
vollzogene Trennung auch äußerlich in aller Form
und tunlichst rasch durchzuführen, darf ich dich wohl
bitten. Agathe.«
Sylvester las den Brief dreimal. Da hörte er
ein Geräusch und wandte sich um. Agathe war
erwacht und hatte sich, den Kopf auf die Hand
gestützt, halb aufgerichtet. Schweigend blickte sie
herüber; schweigend erwiderte er den Blick. Mit
einer unwillkürlichen Bewegung zog Agathe die
Bettdecke bis an das Kinn. Kein Vorspiel eines
Lächelns war in ihrem Gesicht, aber auch kein Unwillen,
kein Befremden, keine Frage, nichts als eine
unbeschreibliche Ruhe. Sylvester stand auf, nahm
die Kerze und sagte: »Gute Nacht, Agathe.« In
ihm tobten die seltsamsten, einander feindseligen
Gefühle, aber wenn man ihn auf die Folterbank
gelegt hätte, um ihm ein Wort zu entpressen, er
hätte nichts anderes hervorbringen können als dieses:
»Gute Nacht, Agathe.«
In der Bibliothek griff er blind nach einem
Buch. Es war die Bibel. Er schlug eine Seite
auf und las unter den Sprüchen Salomonis:
Bewahre dein Herz, denn aus demselben quillt
das Leben.
Agathe war fort. Wenn Silvia sich nach ihrer
Mutter erkundigte, wußte Sylvester nicht, was
er sagen sollte, denn das Kind hatte ein Auge, vor
dem sich schwer lügen ließ. Oft betrachtete sie den
Vater so forschend, als sei sie von der Sicherheit
der gegenwärtigen Umstände keineswegs überzeugt.
Sie durfte schon aufstehen, mußte jedoch, des harten
Winters wegen, das Zimmer hüten. Beim Erwachen
war ihr erstes Wort der Vater, ihr letztes
Lächeln am Abend war für ihn. Er spielte Kugel- oder
Lottospiele mit ihr, oder er setzte sie auf sein
Knie und erzählte ihr Geschichten, in denen zumeist
von Piraten und Gespensterschiffen die Rede war.
Sie hing an seinem Mund mit einem Entzücken,
das nicht bloß der Geschichte galt; sie bewunderte
seine Stimme, seine Art zu sprechen, seinen Blick
und die Bewegungen seiner Brauen. Zartfühlend
erriet sie auch jede Stimmung, in der sie ihm zur
Last fiel; dann beschäftigte sie sich auf eigene Faust.
So verflossen anderthalb Wochen. Sylvester
hatte während dieser Zeit viele Schreibereien, da er
jetzt erst die Unordnung überblicken konnte, in die
er die Wirtschaft gestürzt hatte. Er korrespondierte
mit Agenten, mit Privatbanken, und mit einem
reichen alten Onkel, der im Westfälischen lebte und
war ernstlich bemüht, seine Torheiten wieder gutzumachen.
Bei alledem war seine Lage so sonderbar,
daß er immer die Empfindung hatte, er tue etwas
ganz anderes als was er hätte tun sollen. Wartete
Agathe nicht darauf, daß er fortging? War sie nicht
seinem verwegensten Wunsch zuvorgekommen, indem
sie ihm schenkte, was er ihr hatte abkämpfen wollen?
Wie kam es, daß er blieb? Er begriff sich selber
nicht. Zwang er sich zum Nachdenken, so fand er
nur Ausflüchte. Eine solche Ausflucht war es, als
er sich eines Tages sagte, es bedürfe, um dem
unnatürlichen Schwanken ein Ende zu machen, noch
einer Unterredung mit Agathe. Er schickte ihr durch
den Gärtnerburschen einen Brief, welcher lautete:
»Liebe Agathe! Morgen werde ich vierzig Jahre
alt. Vielleicht ist dies der Grund eines Zögerns,
das dir unerklärlich erscheinen mag. Der Kreuzweg,
an dem ich im Solstitium meines Lebens
stehe, stimmt mich wider meinen Willen feierlich.
Ich kann deinen nächtlichen Brief nicht als einen
Abschluß betrachten. Gib mir Gelegenheit, dich
noch einmal zu sehen. Wir müssen als Freunde
voneinander scheiden. Eine Existenz im Paradies
wäre mir vergällt, wenn ich dich entfremdet wüßte.
Ich schlage dir vor, daß wir uns morgen nachmittag
in Dudsloch treffen, es ist ein neutraler
Ort zwischen den feindlichen Lagern. Benachrichtige
mich, ob du kommen wirst.«
Agathe trug dem Boten mündlich ihr Einverständnis
auf.
Dudsloch war vier Kilometer von Eggenberg
und sechs von Erfft entfernt. Es lag in ziemlich
ebener Landschaft und war auf drei Seiten von
Wäldern umgeben; im Südosten war das Maintal.
Mehr eine Meierei als ein Gutshof zu heißen, bestand
es nur aus einem einfachen Bauernhaus und
einigen Stallgebäuden. Sylvester ritt nach dem
Mittagessen hinüber und wurde von Adam Hund
mit schwermütiger Herzlichkeit, von Frau Brigitte
Hund mit einem mißlungenen Hofknicks empfangen.
Frau Brigitte legte Gewicht auf repräsentative
Manieren. Daß sie eine Megäre war, erkannte
man an ihrer hohen Stimme und an ihrem sauersüßen
Lächeln, von dem sie sich einbildete, es
sei gewinnend. Adam sah herabgekommen aus;
die große Welt, in der er verkehrt hatte, haftete
noch an ihm wie, um in seiner eigenen bildhaften
Sprache zu bleiben, ein Rosenblatt an einer Mistgabel.
Während auf dem beschneiten Weg, der
vom Strom heraufführte, Agathe sichtbar wurde,
fragte Sylvester, ob die oberen Zimmer ordentlich
durchheizt seien; er hatte am Morgen den Stallknecht
eigens deshalb nach Dudsloch geschickt. Adam
bejahte; man habe auch gründlich lüften müssen,
denn die Räume seien so lange versperrt gewesen,
daß die Atmosphäre dick und muffig geworden sei.
Davon war noch etwas zu spüren, als Sylvester
und Agathe eintraten. Es waren zwei Zimmer,
schmal und niedrig wie Käfige, mit gelbgetünchten
Wänden und altväterischen Möbeln. Hier hatten
sie, weil damals das Erffter Haus umgebaut worden
war, die ersten Wochen ihrer Ehe verlebt. Alle
beide schienen diese Erinnerung in ihrem Gesicht
auszulöschen, als sich ihre Blicke begegneten.
Agathe legte Pelzmantel und Pelzhaube ab,
strich ihre Frisur glatt, rückte einen der winzigen
Lehnstühle zum Ofen und ließ sich darauf nieder.
»Was willst du mir also sagen?« begann sie trocken.
Sylvesters Stirn verfinsterte sich. »Das ist eine
ihrer Anwandlungen von hölzerner Verstocktheit,«
dachte er ärgerlich. Nach einem Stillschweigen
versetzte er, indem er ihr gegenüber Platz nahm:
»Ich will dir sagen, daß ich … daß ich keine
Freude an mir habe.«
»Warum nicht? Ist denn nicht alles in Erfüllung
gegangen, was du begehrt hast?«
»Es ist nichts davon in Erfüllung gegangen.«
»Das tut mir leid. Jedenfalls liegt es nicht
an mir, wenn deine Pläne fehlgeschlagen sind.«
»Doch, Agathe, an dir, nur an dir.«
»Ich verstehe dich nicht, Sylvester. Was für
Opfer soll ich noch bringen?«
»Du willst mich nicht verstehen, Agathe. Ich
habe dir ja geschrieben —«
»Du hast mir geschrieben, es sei dir unmöglich,
im Bösen von mir zu scheiden. Du legst Wert
darauf, daß wir Freunde bleiben. Was soll ich
dazu sagen? Ich finde, daß du einen Luxus treibst,
der etwas Imponierendes hat. Es genügt dir nicht,
für die Befriedigung einer Laune den höchsten Preis
zu zahlen, der bezahlt werden kann, du forderst auch,
daß diejenige, die hauptsächlich die Kosten zu tragen
hat, versichert, es sei nur eine Kleinigkeit, und man
sei entzückt. Bin ich wie eine Kuh, die man melkt
und auf die Weide treibt und wieder melkt und so
fort, bis ans selige Ende?«
Sylvester verfärbte sich. »Jedes Wort, Agathe,«
erwiderte er gepreßt, »jedes Wort ist Mißverständnis
und Entstellung. Ich befriedige nicht eine Laune,
ich habe das Unglück gehabt, eine Katastrophe zu
erleben; ich wage kaum, darüber zu sprechen. Meine
Stimme versündigt sich an meinem Gefühl. Ich
habe nichts zu beichten. Ich liebte ein wundersames
Menschenwesen; ich liebte und wurde geliebt.
Es war Verkettung von Anfang der Welt her.
Hättest du mich in einen steinernen Sarg gemauert,
ich hätte ihn zerbrochen und sie gefunden. Ich fand
sie, und als ich sie gefunden hatte, verlor ich sie.
Ich konnte dich nicht vergessen, Agathe. Wir beide
konnten dich nicht vergessen. Was zwischen ihr und
mir vorgefallen ist, dürfte ich meiner Tochter erzählen.
Du warst so gegenwärtig, wie du es jetzt
nicht einmal bist, so mächtig, daß ich vor dir zitterte
und wenn wir beieinandersaßen, dachten wir an
dich, und unsere Liebe wurde zum Raub an dir.
An einem solchen Tag ging sie, und ich habe sie
nicht wieder gesehen.«
Agathe senkte den Blick und antwortete lange
nicht. »Ich wußte es,« sagte sie endlich wie zu
sich selbst, »es ist so, es ist genau wie du es schilderst.
Aber was war vorher, Sylvester, ehe du zu ihr
kamst? Vorher hast du doch mich und dich, und
dein Kind und auch sie, die Geahnte, an alles
Niedrigste der Welt verraten? Hab' ich unrecht?«
Sylvester zuckte zusammen. »Ja, es war so,«
gestand er zögernd, »ich will es nicht leugnen. Aber
wozu die dunklen Labyrinthe aufdecken, in denen
die Tiernatur ihre Feste feiert? Ich verteidige mich
nicht, Agathe. Wenn du mich anklagst, hast du
mich schon gerichtet.«
»Ach, Sylvester, Mann, Mensch,« rief Agathe
bewegt, »das wollte mich alles nicht so kränken,
wenn du nur offen gewesen wärest, nicht so schief,
so verhehlt. Hatte ich mir nicht wenigstens deine
Offenheit verdient?«
»Es war nicht Unoffenheit, Agathe. Ich wollte
dich nicht hinunterziehen in die — Labyrinthe. Und
dann, du warst mir plötzlich so fremd geworden
als Weib und zu vertraut als Mensch. Ich war
in Gefahr, dich auf andere Weise zu verlieren, wenn
ich nicht die Flucht ergriffen hätte. Was man auch
Tiefsinniges über die Ehe sagen mag, zuletzt ist sie
eine Angelegenheit der Nerven. Das Beste was
sie sein kann, ist eine schicksalsvolle Freundschaft
zwischen Menschen, die einander nicht stören. Wer
mehr von ihr erwartet, belügt sich und wird grausam
enttäuscht.«
»Die bunten Gläser, durch die ich einst unser
Leben betrachtet habe, sind mir schon lange aus der
Hand geschlagen worden,« sagte Agathe bitter.
»Das Unheil der Ehe besteht darin, daß sie
vieles zur Pflicht macht, was freie Gabe sein soll,«
erwiderte Sylvester. »Wird dadurch nicht jede Gabe
verdächtigt, jede Pflicht in Fron verwandelt? Der
Anspruch auf Beständigkeit erzeugt Abtrünnigkeit,
der Anspruch auf Treue Untreue. Sie legt dem
stolzen Mann Fallen, die ihn erniedrigen, und wie
soll er aufrichtig sein, wenn er fürchten muß, daß
Aufrichtigkeit ein Verhältnis zerstört, das ihm trotz
alledem unentbehrlich ist? Denn hier ist etwas
Mysteriöses, wovor meine ganze Weisheit verstummt,«
fuhr er grüblerisch fort; »ich hatte geglaubt, ich sei
nur deshalb zurückgekommen, um mit deiner Einwilligung
von dir wegzugehen. Ich kann aber nicht
von dir weg, Agathe. Das ist es eigentlich, was
ich dir sagen wollte.«
In Agathes Gesicht zeigte sich eine kaum merkbare
Erhellung, als ob ein feiner Schleier abgerissen
würde. »Wie kannst du denn bei mir bleiben mit
der andern im Herzen?« entgegnete sie. »Sie würde
dir immer engelhafter und ich immer unzulänglicher
erscheinen. Eine solche Rivalität zu ertragen, ist
keine Frau fähig. Ich denke, du bist jetzt nicht
stark und ehrlich, sondern schwach und gutmütig.
So schön eine Brücke ist, so schauderhaft sind mir
Notbrücken, besonders wenn sie über stürmisches
Wasser führen. Nein, nein, Sylvester, geh du nur
hinüber ans andere Ufer; ich bleibe hier, wir wohnen
ja doch nicht mehr im selben Land.« Sie zog ihr
Taschentuch, um es an die feuchten Augen zu bringen,
besann sich aber in einer Regung des Trotzes und
drückte es auf den Mund.
»Dann habe ich mich allerdings furchtbar geirrt,«
sagte Sylvester. Von allem, was ihm hätte widerfahren
können, war ihm das standhafte Sträuben
Agathes, das er anfangs dem Gefühl verletzter Würde
zugeschrieben, das Unerwartetste. Daß sie ihn liebte,
ihn allein, bedingungslos und ohne die Denkbarkeit
eines Aufhörens, daran hatte er nicht im
mindesten gezweifelt. Ihre Liebe war ihm so selbstverständlich
gewesen wie die Luft, die er atmete; er
hatte niemals die Möglichkeit erwogen, daß dieser
Schatz an Liebe, den er in seltsam gleichgültiger
Gewißheit für unerschöpflich gehalten, vergeudet
werden könne; wie ein gesunder Körper seine inneren
Organe nicht spürt, so hatte er die Kraft und Ausdauer
dieser Liebe als etwas Gesetzmäßiges und
ein für allemal Geregeltes hingenommen. Die
Einsicht, daß dem nicht so war, weckte ihn förmlich
auf; er begann anders zu sehen und zu hören;
plötzlich erblickte er in Agathe ein Weib, das sich
ihm versagte. »Was soll nun werden?« fragte er
stockend, »willst du es nicht mehr mit mir versuchen?«
»Du bist Herr in deinem Haus, und ich kann
unser Kind nicht im Stich lassen, also muß ich
mich deinem Beschluß fügen,« antwortete Agathe
hart, und ohne auf Sylvesters beschwörende Gebärde
zu achten, sprach sie weiter: »Versuchen? Was heißt
das? Du traust mir eine Überlegenheit zu, die ich
nicht besitze. Ich bin nicht rachsüchtig, aber ich
kann nicht hindern, daß das Erlittene auf mein
Gemüt wirkt. Ich glaube nicht mehr an dich,
Sylvester. Liegt dir an Verzeihung? Gibst du mir
ein Recht, gibt es überhaupt ein Recht zu verzeihen?
Dann habe ich dir verziehen seit dem Tag, an dem
du kamst. Aber ich glaube nicht mehr an dich. Gern
will ich zugeben, daß es von tiefer Bedeutung für
dich war, was du erlebt hast. Aber gerade daß
du es erlebt hast und daß es eines solchen Erlebnisses
bedurfte, um dich zu beflügeln und deiner
Seele Schwung zu geben, das macht dich klein in
meinen Augen, weil etwas so Unreifes, etwas so
Spielerisches und etwas so Zuchtloses darin liegt.
Wenn ich dir weh' tue, so vergib; ich mußte es
sagen, und ich bin froh, daß es nun gesagt ist.«
»Was aber müßte geschehen, damit du den
Glauben an mich wieder gewinnst?« fragte Sylvester
tonlos.
»Was geschehen müßte? Ich weiß es nicht.
Oder vielleicht doch. Vielleicht müßtest du — es
ist schwer, das auszudrücken; ob du mich nur recht
verstehst — vielleicht müßtest du Achim Ursanners
würdig werden.«
»Achim Ursanners würdig? Wie meinst du das?«
»Es ist mein Gefühl so. Ich finde kein anderes
Wort dafür.«
Sylvester erhob sich und ging im Zimmer umher.
Es dämmerte schon, und das blaue Schneelicht
wurde violett. Die Stille war so groß, daß
das Knistern der draußen von den Zweigen fallenden
Flocken hörbar war.
»Willst du nicht gleich jetzt mit mir nach Erfft
gehen?« wandte sich Sylvester an Agathe. »Martha
kann ja deine Sachen morgen hinüberschicken, und
Silvia freut sich, wenn du kommst.« Er war bemüht,
seiner Haltung und seiner Stimme Ungezwungenheit
zu verleihen, jedoch es gelang ihm
nicht. Agathe stand ebenfalls auf, sah ihn forschend
an und nickte.
Sylvester verabschiedete sich vom Ehepaar Hund.
Sein Reitpferd ließ er in Dudsloch und sagte, er
werde es am nächsten Tag holen lassen. Dann
folgte er Agathe, die vorausgegangen war.
In einem ununterbrochenen Schweigen wanderten
sie durch den Winterabend nach Hause.
Mit Hilfe eines mäßig zu verzinsenden Darlehens,
das der Major gab, und der Summe
von zwanzigtausend Talern, die der westfälische
Onkel vorstreckte, brachte Sylvester seine zerrütteten
Finanzen einstweilen in Ordnung. Er hatte mancherlei
Pläne im Kopf, wollte eine Winzerschule gründen,
Dudsloch in eine Zuchtanstalt für Mustervieh umwandeln,
studierte die Fachzeitschriften wegen Ankaufs
neuer landwirtschaftlicher Maschinen und beschäftigte
sich nebenbei wieder mit seiner Liebhaberei
für die Gartenkunst. Er war sechs bis acht Stunden
während des Tags im Freien, und sein Trachten
war, am Abend so müde zu sein, daß er nicht
mehr denken konnte.
Wie vor der Unterredung in Dudsloch sah er
Agathe nur bei den Mahlzeiten. Sie war freundlich,
oft sogar gütig, er hingegen wortkarg und unstet.
Wenn Agathe vom Tisch aufstand, blickte er ihr
bisweilen wunderlich bittend nach. Es kam vor,
daß sie allein in den Wald spazieren ging; beunruhigt
folgte er ihr von weitem, versteckte sich hinter
Buschwerk, wenn sie umkehrte und war erst zufrieden,
wenn er sie wieder in der Nähe der bewohnten
Stätten wußte. Einmal blieb sie auf
einer Lichtung stehen, schaute zurück und sah ihn,
der eben in die Lichtung hinaustrat. Sie wartete,
bis er herangekommen war und fragte, ob er zufällig
denselben Weg gegangen sei. Er bejahte.
Es war Ende Februar, einer jener milden und
tückischen Tage, an denen die ganze Natur um
den Frühling zu ringen scheint. Da war es Sylvester,
als müsse er von Gabriele sprechen, und er
erzählte der stumm lauschenden Frau die Geschichte
seiner Liebe mit allen Einzelheiten. Nachdem er
dies getan hatte, setzte er sich auf einen Baumstumpf
und bat Agathe, sie möge allein nach Hause
gehen. »Ach du,« murmelte er verstört, als sie
fort war, »du Hochmütige, du Selbstgewisse, du
Quälerin, du Zuschauerin. Ließest mich erzählen,
zu Ende erzählen, damit es auch wirklich zu Ende
sei. Nun ist es zu Ende.« Er blieb sitzen, bis die
Nacht anbrach.
Hypochondrie trat in seinem Wesen immer
stärker hervor.
Sylvester gehörte zu jenen Männern, die mit
zunehmenden Jahren vereinsamen. Er war der
Freundschaft fähig gewesen wie wenige, und er
hatte seine Freunde einen nach dem andern verloren.
In jede solche Beziehung hatte er Ideen
und Ideale getragen, und jede war eben daran
gescheitert. Er setzte seine Person zum Pfand und
wurde mit Almosen abgespeist. Mit der Zeit begriff
er, daß nichts in der Welt ärmer macht als Freundschaft
zu suchen. Er brauchte geistige Zärtlichkeit,
brüderliche Übereinstimmung, und da er zu viel
Scharfblick und Menschenkenntnis hatte, um sich
mit Surrogaten zu begnügen, wirkte er herrschsüchtig
und launenhaft, wo er in seinen Erwartungen
enttäuscht wurde. Sinnliche Naturen geraten leicht
in einen Zustand der Unbefriedigung, auch der Gesellschaft
gegenüber, und die Sylvester eigene Empfindlichkeit
war die Ursache, daß er die Menschen
gerade dann am meisten abstieß, wenn ihn der
Menschenhunger zu ihnen trieb. Er erkannte zu
spät, daß er unter einem Geschlecht lebte, welches
sich vor der Hingebung fürchtete und dem der Adel
des Herzens fehlte. Er fand fast alle Männer
nüchtern, leer, gemütsroh und hoffnungslos banal;
so hatte er sich an die Frauen gewandt, als ob
die Frauen einen glücklicheren Kontinent des Lebens
bewohnten; hier halfen ihm Phantasiespiele, und
während er eroberte, hatte er die Illusion, zu besitzen.
Auch dies war nun vorüber, denn sein
Haar zeigte graue Fäden.
Im Lauf des Frühjahrs machte er häufig Besuche
in der Nachbarschaft. Er langweilte sich
tödlich und kam jedesmal verstimmt nach Hause.
Agathe billigte die Urteile nicht, die er über die
Leute fällte; sie erinnerte sich des einen als eines
anständigen Kaufmanns, des andern als eines verdienten
Beamten, des dritten als eines opferwilligen
Familienvaters, und die Erbarmungslosigkeit, mit
der er Gericht hielt, verletzte sie. Ihm war jeder
fremde Mensch ein Feind, ihr war jeder Mensch
ein Mensch.
Sie gab Sylvester verloren. Sie sah keinen
Weg, wie er sich retten könne. Sie hütete sich aber,
ihm ihre Verzweiflung zu zeigen. Oft war ihr
zumute, als hielte sie den Mann mit äußerster
Anstrengung ihrer Kraft und als müsse er fallen,
wenn sie nur mit einem einzigen Gedanken von
ihm abließ. Was sie von ihm erwartete, darüber
hatte sie nicht die geringste Klarheit, dennoch wußte
sie, daß die Glut, mit der sie eine geheimnisvolle
Forderung an ihn stellte, nur durch die Erfüllung
gelöscht werden konnte. Eher hätte sie ihren Leib
hinsiechen lassen, als daß sie einem Anruf der
Sinne nachgegeben hätte, um in den schwächlichen,
unreinen und ungesicherten Zustand eines Scheinglücks
zurückzukehren. Kein körperliches Leiden,
seines nicht, das ihn heftig, finster und reizbar
machte, und ihres nicht, das hinter einer Schutzwehr
von instinkt- und charaktervoller Kälte verborgen
war, konnte sie beirren.
Eines Morgens, als Sylvester bei Silvia im
Zimmer saß und sie in französischer Grammatik
unterrichtete, wurde ihm ein Brief überbracht. Beim
Anblick der Schriftzüge auf der Adresse verfärbte
er sich, erhob sich sogleich und ging in die Bibliothek.
Bebend öffnete er den Umschlag und las:
»Mein teurer Freund! Ich vermute Sie bei
den Ihren zu Hause und hoffe, daß dieser Gruß
aus weiter Ferne Sie erreicht. Seit sieben Wochen
fahre ich hier in Amerika von Stadt zu Stadt,
und es ist mir alles so fremdartig, als sei ich
nicht ich selbst, und was ich mit den Menschen
spreche und wie ich lebe erscheint mir wie etwas
Ausgedachtes und Unnatürliches. Bevor ich von
England abgereist bin, habe ich mich mit dem
Viscount Horace Darrington versprochen, aber wir
werden erst heiraten, wenn er von Indien zurückkommt,
und das dauert zwei Jahre. Nach diesen
zwei Jahren werde ich aufhören zu singen. Ich
bin nicht gerade müde; freilich, des Beifalls bin
ich müde, der Zudringlichkeit und der Neugier auch,
und bange wird mir manchmal bei dem Gedanken,
daß ich jeden Abend in ein anderes Bett mich
legen soll. Aber es ist nicht das, was meinen
Vorsatz, der Öffentlichkeit Adieu zu sagen, erzeugt
hat und immer stärker werden läßt; es ist das
Gefühl, daß ich gegeben habe, was ich zu geben
vermochte und daß alles übrige nur Fertigkeit und
höchstens Kunst ist. Heute noch treibt mich eine
unbekannte Gewalt, es ist als ob ich etwas verkündigen
sollte, morgen vielleicht ist es kein Befehl
mehr, sondern bloß Gewohnheit, und das
Heilige wird zum Hokuspokus. Heute noch beten
und morgen leiern? Das ist meine Sache nicht;
wenn mich nicht mehr die Andacht erfüllt, bin
ich ein verlorenes Wesen, ein heimatloses Weib
und muß vom Leben erbetteln, was die Kunst
einem Weib nie und nimmer gewähren kann. Nun
weiß ich ein Haus für mich und einen Hüter
darin, und was gewesen ist, bleibt in seiner Schönheit
bestehen. Ich habe das empfunden, als wir
noch beisammen waren; ohne Sie wäre ich blind
hingegangen zu der Grenze; in dieser Minute
träumend, in der nächsten schon erwacht, hätte ich
keinen Weg mehr gesehen und unbefriedigt, mich
selbst verkennend, immer wieder zum Traum zurückgewollt.
Was könnte ich Ihnen außerdem noch
sagen in den armseligen Worten, die ich habe?
Vergessen kann ich nicht und wünsche auch nicht,
daß irgend etwas hätte anders geschehen sollen.
Ich möchte Sie leicht und Ihr Auge hell und Ihr
Herz klingend machen, und mir ist, als könnte ich
nur glücklich werden, wenn Sie es sind. Man
braucht Kraft und Reinheit, um glücklich zu sein,
um eins mit sich selbst zu sein. Meine Seele ist
voll von Dank für Sie, und ich möchte für das
Wort Freund ein noch nie gehörtes Wort finden,
damit Sie spüren, wie Sie in und mit mir leben.
Schreiben Sie mir nicht, antworten Sie nicht. Es
wäre zu früh, es wäre zu wenig Fügung, zu viel
Mahnung. Ihre Gabriele.«
Nachdem Sylvester den Brief gelesen, verließ
er das Haus und kehrte erst spät in der Nacht
wieder heim.
Sein Dasein erschien ihm nun noch weit zerstückter,
und er warf einen Tag um den andern
gleichsam weg und zum voraus weg. Ein Aufruf
der liberalen Partei erregte flüchtig sein Interesse,
er besuchte auch eine Versammlung in Würzburg,
aber dann sagte er zu Agathe, die auf dieses Emporraffen
in ihm einige Hoffnung gesetzt hatte und
nun ihre Enttäuschung kaum verbergen konnte, die
Leute seien ohne politische Disziplin, hätten keinen
Begriff davon, was dem Lande wirklich nützen könne,
und ihr Treiben ekle ihn an.
Bei alledem fühlte er doch, eben was das
nationale Leben betraf, eine eigentümliche Spannung
in der Luft. Man atmete wie in einem abgeschlossenen
schwülen Zimmer, wo man unwillkürlich auf Dinge
lauscht, die draußen vorgehen und unwillkürlich
Furcht empfindet bei jedem Tritt und jedem Flüstern.
Gerüchte schwirrten auf und wurden wieder erstickt.
Die einen wollten nicht glauben, die andern hielten
sich die Ohren zu. Handel und Gewerbe stockten,
und die Börsenkurse zeigten beunruhigende Schwankungen.
Männer, die sonst den öffentlichen Angelegenheiten
ohne Teilnahme gegenüberstanden,
richteten den Blick besorgt auf die Geschehnisse,
deren Entwicklung noch ganz im Dunkel verborgen
war. Auch Sylvester ertappte sich bisweilen in der
Ungeduld eines Zuschauers, der im Theater vergebens
darauf warten muß, daß der Vorhang hochgezogen
wird.
So kam der Sommer. Eines Tages war der
Major zu Tisch in Erfft; nach dem Essen, man
hatte über allerlei geredet, sagte er zu Sylvester:
»Mein lieber Schwager, wir müssen auf große Dinge
gefaßt sein. Es gibt Krieg.«
Sylvester lächelte spöttisch. »Du bist ein so
unverbesserlicher Patriot, daß dir ein Zeitungsgeschwätz
schon wie Kanonendonner klingt,« antwortete
er.
»Na, wir werden sehen,« meinte der Major,
»wir werden ja sehen. Übrigens steht in den
Zeitungen gar nichts, ich habe nur so meine privaten
Nachrichten. Der preußische Gesandte in Paris hat
schon vor acht Monaten nach Berlin geschrieben:
die Luft riecht nach Pulver. Ich habe viel gegen
Bismarck einzuwenden, aber das muß man schon
sagen, der Mann versteht seinen Kopf aufzusetzen
und wird sich nichts gefallen lassen. Die Franzosen
sind teuflisch übermütig geworden und der Kaiser
Napoleon sitzt auf einem wackligen Thron, deshalb
will er seine Untertanen beschäftigen.«
»Geh mir doch, mein Lieber,« erwiderte Sylvester,
»deine Politik schmeckt nach der Stammtischkneipe.«
»Und wenn auch Krieg entstünde,« warf Agathe
mit ernster Miene ein, »wie kann man sich über
ein so ungeheures Unglück freuen?«
»Verstehst du nicht, warum ich mich freue,
Schwägerin?« rief der Major mit einer jungenhaften
Begeisterung; »wir werden sie verhauen, die
Kerle, wir werden sie windelweich verhauen.«
»Aber du doch nicht,« sagte Agathe lächelnd.
»Nein, ich nicht,« seufzte der Major, »für mich
alten Krüppel ist an so was nicht zu denken.
Sylvester hingegen, der kann noch seinen Mann
stehen.«
Agathe heftete die Augen erschrocken auf ihren
Gatten. Sylvester runzelte die Stirn. »Ich befinde
mich nicht mehr im Dienstverhältnis zur Armee,«
bemerkte er kühl, »und dann würde sich's ja wahrscheinlich
um einen Krieg gegen Preußen handeln.«
»Preußen?« fuhr der Major auf, »Himmel und
Wetter, mir scheint, er weiß nicht einmal etwas
von einem Schutz- und Trutzbündnis. Wenn es
losgeht, geht's gegen uns alle, darauf kannst du
dich verlassen, und alle werden zusammenhalten,
darauf verlaß dich ebenfalls. Wen's juckt in der
Faust, der schlägt zu. Den Ofenhockern, na, denen
wird eingeheizt.« Er lachte mokant und zündete
mit zitternden Fingern seine Pfeife an.
Agathe hielt es für geboten, dem Gespräch eine
andere Richtung zu geben.
Drei Wochen später, an einem schwülen Julinachmittag,
kam der Inspektor Marquardt in großer
Erregung aus Würzburg zurück. Er brachte die
Extraausgabe einer Zeitung mit, welche die Kriegserklärung
enthielt. Das Blatt ging durch alle
Hände, und bald standen Männer und Weiber im
Hof und disputierten mit bestürzten und feierlichen
Gesichtern. Silvia hatte sich in der Wohnung der
Inspektorin befunden. Sie lief zu ihrer Mutter
ins Haus. Agathe saß am Klavier. »Mutter, die
Franzosen kommen,« schrie das Kind mit aufgerissenen
Augen. Agathe stand auf, schaute Silvia
erstaunt an und trat ans Fenster. Der Inspektor
gewahrte sie. Seine Mütze war in den Nacken
gerutscht, die schweißtriefenden Haare hingen ihm
in die Stirn. »Gnädige Frau,« rief er, »es wird
Krieg! Hurra! Es lebe der König!« Ohne besondere
Überschwenglichkeit stimmten einige Knechte
in das Hoch mit ein. Nur der rothaarige Gärtnerbursche,
der unlängst rekrutiert worden war, tanzte
wie ein Indianer und klatschte in die Hände.
Sylvester war nach Kitzingen geritten. Abends
um sieben Uhr kam er. Er wußte die Neuigkeit
schon. »Überall herrscht großes Entzücken, auch bei
den Bauern,« sagte er zu Agathe. »Das Volk ist
wie toll. Es überrascht einen doch, so viel überschüssige
Lebenskraft wahrzunehmen. Ich hätte es
nicht gedacht.« Während der Mahlzeit blieb er
einsilbig, und als die Lampe gebracht wurde, las
er einen Roman von Balzac. Agathe saß am
Fenster. Sie war tief in Gedanken versunken.
»Glaubst du, daß Achim Ursanner im französischen
Heer weiterdienen wird?« fragte sie
plötzlich.
Sylvester schaute zerstreut empor. »Es ist wohl
möglich,« gab er zur Antwort.
»Er, der deutscheste Deutsche!« flüsterte Agathe
beklommen.
Der Ausdruck in Sylvesters Zügen wurde gesammelter.
Wachsende Unruhe umflorte seinen Blick.
»Ja, hier hat das Fatum einen unentwirrbaren
Knoten geschürzt,« entgegnete er, fühlte aber, wie
matt und künstlich die Floskel klang.
Agathe schwieg.
Die Nacht war so heiß, daß Sylvester, im Bette
liegend, nicht einschlafen konnte. Die Uhr in der
Bibliothek schlug zweimal, als er sich erhob und
seine Kleider anzog, um in den Garten zu gehen.
Der Himmel war prachtvoll bestirnt, und auf dem
Rasen glänzte der Tau. Die andächtige Stille
der Natur berührte ihn schmerzlich, wenn er des
Schlachtens gedachte, das morgen, übermorgen beginnen
und, wer konnte es wissen, vielleicht auch
das friedliche Gefild um ihn her mit Blut düngen
würde. Ihn schauderte.
Doch wie er so vor sich hinging, wollte es ihm
scheinen, als ob jetzt nicht die Zeit für wehleidige
Betrachtungen sei. Es wollte ihm scheinen, daß hier
eine große Fügung auf große Empfindungen rechne.
Es wollte ihm scheinen, daß dabei die gegründetste
Überlegenheit des einzelnen verklauselte Flucht, daß
jedes Messen und Erwägen zum Laster der Trägheit
wurde. Die Ruhe der Nacht versetzte seinen Geist
in eine wunderbare Schwingung. Er spürte den
Enthusiasmus so vieler Millionen, spürte, daß sich
sein Gemüt der Absonderung begab, um an der
allgemeinen Entflammung teilzunehmen. Er hatte
kein Recht mehr für sich allein, er hatte nur noch
das Recht aller. Seine Augen begannen in der
Dunkelheit zu leuchten. Seit langem war ihm
nicht mehr so wohl ums Herz gewesen.
Im Bogen um das Orangeriegebäude schreitend,
sah er eine weiße Gestalt auf einer Bank sitzen.
Es war Agathe. Sie blickte kaum auf, als er sich
näherte. Er setzte sich neben sie. »Hat es dich
auch herausgetrieben?« fragte er.
Sie seufzte bloß.
»Hör' zu, Agathe,« fuhr er fort, »ich werde
morgen nach Erlangen fahren.«
»Nach Erlangen? Aus welchem Grund?«
»Um mich bei meinem Bataillon zu stellen.«
»Du willst —? Sylvester!« Es war ein halb
klagender, halb jubelnder Aufschrei. Sie preßte
das Gesicht schluchzend in die rechte Hand, die
bebende Linke reichte sie ihm. Als sie sich ausgeweint
hatte, gingen sie Hand in Hand ins Haus.
Am andern Morgen hatte Sylvester noch vielerlei
zu erledigen. Er schrieb sein Testament und
traf umsichtige Vorkehrungen wegen der Wirtschaftsleitung.
Um elf Uhr kam der Major und war sehr
ergriffen, als er hörte, daß Sylvester ins Feld zog.
»Es rinnt eben doch ein guter Saft in seinen
Adern,« sagte er zu Agathe, die still und bleich
dastand; »sein Großvater ist Anno dreizehn bei
Leipzig gefallen. So etwas hält nach.«
Der Wagen, der ihn zum Bahnhof bringen
sollte, war schon vorgefahren. »Wo ist Silvia?«
erkundigte sich Sylvester. Da erschien das Kind
mit einer Rose, die sie dem Vater gab. Die hellen
Tränen liefen über ihre Backen, aber beim Abschied
nahm sie sich heldenmütig zusammen. Agathe
wurde immer bleicher. Sylvester umarmte sie, dann
fiel sie dem Major ohnmächtig an die Brust. Die
Leute vom Gut grüßten ihren Herrn schweigend
und voll Ehrerbietung. »Ich weiß gewiß, daß der
Vater wieder kommen wird,« sagte Silvia mit gefalteten
Händen. Als die Kutsche sich in Bewegung
gesetzt hatte, schaute Sylvester noch einmal aus
dem Schlag.
Die Züge hatten große Verspätungen, und so
langte Sylvester erst am Abend in der Garnison
an. Nur mit Mühe fand er in einem Weinwirtshaus
Unterkunft. Es war ein Treiben in dem
Städtchen, als ob Jahrmarkt wäre. Allenthalben
war Musik und Gesang, doch sah man nirgends
einen betrunkenen Menschen.
Um sechs Uhr morgens ging er zur Kommandantur
und dann auf die Kanzlei des Jägerbataillons.
Er war als Sekondeleutnant aus dem
aktiven Dienst getreten und wurde in dieser Charge
wieder eingereiht. Die Kerntruppe war schon ins
Feld gerückt und alle Räume der Kaserne waren
voll von Rekruten und Freiwilligen. Beim Exerzieren
merkte Sylvester zu seinem Schrecken, wie
steif seine Glieder und wie verrostet seine Gelenke
waren. Der nächste Truppenabmarsch sollte erst
in zehn Tagen stattfinden; bis dahin mußten die
jungen Mannschaften eingeschult sein, und die
Übungen erschöpften den verweichlichten Körper
Sylvesters so sehr, daß er seine ganze Willenskraft
nötig hatte, um sich aufrecht zu erhalten. Nicht
geringere Überwindung kostete es ihn, den schlechten
Geruch in den Stuben, den beständigen Lärm und
die beständige Nähe vieler Menschen ertragen zu
lernen.
Am fünften Tag schickte ihm Agathe mit einem
ihrer Briefe ein Schreiben Adam Hunds. Adam
gab darin seinen Vorsatz bekannt, daß er dem
Beispiel seines Herrn folgen wolle. »Wo der Herr
Baron stirbt, will ich auch sterben,« schrieb er;
»ich habe bei den sechsten Jägern gedient wie der
Herr Baron. Man wird einen alten Landwehrmann
nicht abweisen. Der Krieg ist meine einzige
Hoffnung. Wenn mich keine Kugel trifft, bleibe
ich Soldat. Denn zwischen mir und meinem Weib
steht es dermaßen übel, daß ich keinen Spaß mehr
an diesem Leben finde. Ich bin ziemlich sicher,
daß mich die elende Kreatur betrügt. Sie hat es
mit dem Sohn eines Großbauern. Ich möchte
wissen, was dem dummen Teufel an ihr gefällt.
Mein Gott, zu all dem Jammer noch die Schande!
Da kann nur das Vaterland helfen. Des Himmels
Strafe über sie. Ich ziehe von dannen. Bin ich
ein gehörnter Ehemann, schön, so werde ich ein um
so besserer Schütze sein.«
Wenige Stunden später begegnete ihm Sylvester
in der Kantine. Er war schon eingekleidet und
sang mit den andern, wennschon nicht ohne Gravität,
kampflustige Lieder. Sylvester drückte ihm
lächelnd die Hand.
An dem Morgen, an dem die Abteilungen endlich
zum Bahnhof marschierten, verbreitete sich die
Nachricht von einem großen Sieg der deutschen
Armee. Der Eisenbahnzug, der von Nürnberg kam
und über Würzburg nach der Pfalz fahren sollte,
war mit Infanterie besetzt. Sylvester überlegte,
ob er an Agathe telegraphieren solle, damit er sie
in Würzburg sehen könne; er unterließ es jedoch,
um nicht abermals Trennungsweh hervorrufen und
empfinden zu müssen.
Auf den Stationen wurden Einzelheiten über
die stattgefundene Schlacht erzählt. Es wurde von
zehntausend Toten gesprochen. Sylvester stellte sich
diese Zehntausend vor, wie sie in unabsehbarer Kette
dalagen. Er vermochte nicht zu glauben, daß nur
seine Phantasie allein so tätig war; er zweifelte
an der Ehrlichkeit einer Kampfbegier, die den Tod
so nahe fühlen mußte. Er hielt es nicht für Mut,
die Augen zu schließen und die bangen Fragen
der Seele durch Liederbrüllen zu betäuben; er hielt
es für Mut, zu wissen und zu zittern und des
Wissens und Zitterns Herr zu werden. Unter den
Offizieren gewahrte er viele sinnende und ernste
Gesichter. Manche hatten die Lippen in einer Weise
geschlossen, als seien sie nicht darüber im unklaren,
was es heißen wollte, jung zu sterben. Zu ihnen fühlte
sich Sylvester am meisten hingezogen. Aber auch
unter den Mannschaften erregten viele seine Sympathie,
die bei aller Tapferkeit der Haltung sich mit innerlichem
Grauen von der Sonne bescheinen ließen.
Auf der letzten Pfälzer Bahnstation wurden die
Truppen auswaggoniert. Einige Abteilungen, die
gegen Metz ziehen sollten, setzten sich gleich in
Marsch. Die Jäger mußten stundenlang warten,
bis der führende Hauptmann genaue Ordre erhalten
hatte. Das Bataillon befand sich bei der
Maaßarmee. Es war schon gegen Abend, als die
Kolonne den freundlichen Ort verließ. In einem
Dorf mit vielen verbrannten Häusern war Nachtrast.
Während der folgenden Tage regnete es unaufhörlich.
Am Rand eines Waldes sah Sylvester
den ersten Toten. Es war ein französischer Franktireur.
Die Kleider über der Brust waren offen;
er trug feine Wäsche. Er lag in einem Reisighaufen
und hatte ein Stückchen Schokolade in der
blutigen, starren Hand. Ferner Geschützdonner war
vernehmbar. Die Atmosphäre war eigentümlich
rauchig. Auf einem Wiesenhang wurde eine Viehherde
von preußischen Musketieren geweidet. Ein
bebrillter Unteroffizier, der vielleicht unlängst auf
einem Katheder gestanden, hatte die Aufsicht. Im
Graben an der Chaussee lag mit gläsernen Augen ein
erschossenes Pferd. Eine Eskadron Kavallerie sprengte
vorüber. Im nächsten Quartier erhielten sie Nachrichten
von der furchtbaren Schlacht bei Mars-la-Tour.
Da wurde manchem das Herz enger. Sylvester überraschte
einen Jäger, wie er ein Amulett, das er auf
der Brust trug, hervorgezogen hatte und betrachtete.
Je weiter sie ins feindliche Land kamen, je
widerspenstiger und gehässiger wurden die Bewohner.
Das Requirieren der Nahrungsmittel erwies sich
als schwierig, und der Hunger zwang die Soldaten
oft zur Grausamkeit. Sie erbrachen die Weinkeller,
drangen in alle Winkel der Häuser und rissen Kranke
aus ihren Betten, um die Strohsäcke und Matratzen
zu durchsuchen, in denen die Bauern bisweilen
Brot und Fleisch verbargen. Beim Aufspüren
der Verstecke zeigte sich Adam Hund am
findigsten. Er gelangte auch wegen der hohen Vollendung
seiner Kochkunst und durch die Gabe, spannende
Geschichten zu erzählen, zu Ansehen. Selbst
die Offiziere verschmähten es nicht, ihm zu lauschen,
wenn er seine Anekdoten zum besten gab, von denen
er jede mit einer moralischen Nutzanwendung schloß.
Seltsam war es für Sylvester, den guten Adam
so zu erblicken, unter den wettergebräunten, bärtigen
Leuten, am Herdfeuer stehend und mit philosophischer
Ruhe Pfannkuchen backend. Weit entfernt waren
anders gelebte Tage, Bilder des Glanzes, Stunden,
deren Schmerz sogar wie rührende Musik nachhallte,
Erregungen, deren Grund er kaum mehr faßte. Nun
war alles so wild, so schwarz, so naß, so fiebergleich,
die Geschehnisse so groß und ohne sein Zutun
wachsend, die Dinge so wahr! Ohne sein Zutun,
und doch war alles Tat, ganz anders als
vordem, wo mit seinem Zutun fast alles nur Erleiden
gewesen war.
Eines Tages, als er seine wundgelaufenen Füße
verband, brachte ihm ein altes Mütterchen eine
Salbe, die sie für ihre beiden Söhne gemischt hatte,
welche beide vor St. Privat gefallen waren. Ihre
Freundlichkeit erschütterte ihn tiefer als alles gesehene
Elend, und die Worte Krieg und Feind
klangen sinnlos. Und als sie in ein Dorf kamen
und vor der Tür einer Schenke ein junges Mädchen
stand, in einer koketten roten Jacke, einen blumengeschmückten
Hut auf dem reizenden Kopf, trat er
zu ihr und unterhielt sie, indem er ihr von der
Kaiserin Eugenie erzählte und deren Schönheit
rühmte. Da fragte sie zutraulich, ob es wahr sei,
daß Frankreich bisher alle Schlachten verloren habe.
Er bejahte, worauf sie den Kopf senkte und bitterlich
weinte. O, Menschheit, dachte Sylvester, und ihm
dünkte, als stehe er hilflos auf einer Planke im Ozean.
Sie rasteten in einem von Franzosen verlassenen
Biwak. Zeitungspapier, Proviantreste, Waffen,
Kleidungsstücke und zersplitterte Granaten lagen
umher. Sylvester schrieb auf der Trommel des
Tambours einen Brief an Agathe. Dann bereitete
er sich unter einem Birnbaum ein Bett aus Zeltdecken.
Der Regen durchnäßte ihn bis auf die
Haut, und er konnte nicht schlafen. Im Norden
war der Horizont gerötet. Um ein Uhr nachts
wurde alarmiert. Sie zogen weiter. Flammengarben
sprühten über den Himmel. Von allen Seiten
marschierten Truppen heran. Die von der fortwährenden
Spannung und Erwartung mehr als
von den Strapazen ermüdeten Soldaten fühlten,
daß die Stunde der Entscheidung angebrochen sei.
In der Nähe des Dorfes Buzancy stießen sie zu
ihrem Bataillon. Einige Jäger warfen heimlich
die Spielkarten fort, mit denen sie sich in den
Quartieren die Zeit vertrieben hatten. Sylvester verspürte
ein kaltes Rieseln längs der Rückenrinne, aber
sein Herz blieb ruhig und sein Auge klar. Er hatte
nur den Wunsch, möglichst bald ins Treffen zu
kommen; hinter den Linien zu stehen, war so qualvoll,
wie einen Mörder im Nebenzimmer zu hören.
Unbestimmbare drohende Geräusche drangen von
weit- und nahher durch die außerordentlich
finstere Nacht. Den Mannschaften wurde die größte
Stille befohlen. Ein Ordonnanzoffizier sauste auf
seinem Pferd von Sommerance herüber. Sylvester
kannte ihn. »Gibt's was Neues?« — »Wir greifen
an.« — »Bald?« — »Wahrscheinlich.« Er sprengte
davon.
Gegen die über den Strom geschlagene Schiffsbrücke
ritt in langsamem Trabe ein preußisches
Dragonerregiment. Dann jagte eine Batterie quer
über das Feld. Sie protzten ab, schossen jedoch
nicht. Jetzt stieg hinter den Hügeln, gegen Sedan
zu, ein gewaltiger Feuerschein auf.
Der Unterjäger, der hinter Sylvester stand, fluchte,
weil ihm sein Hosengürtel gerissen war. Ein Mann
aus der Korporalschaft bot ihm den seinen an. Es
war ein kleiner dicker Mensch, im bürgerlichen Beruf
Flötenspieler an einem Theater; er hatte sich immer
durch Munterkeit ausgezeichnet, war jedoch seit einigen
Stunden auffallend schweigsam. »Und du? Was
wirst du machen?« fragte der Unterjäger erstaunt.
»Ach ich, ich werde ja doch heute totgeschossen,« erwiderte
der andere mit vollkommener Ruhe und
schnallte seinen Gürtel ab. Sylvester drehte sich
nach dem Manne um. Weder Prahlerei noch Angst
war in dem pausbäckigen Gesicht zu bemerken, nur
stumme, selbstverständliche Ergebung. Der Premierleutnant
hatte ebenfalls die Worte des Soldaten
gehört und wandte ihm sein hageres, in der Brandglut
doppelt unheimliches Gesicht zu. Mit ihm
hatte es eine eigene Bewandtnis; er hatte vor fünf
Jahren wegen irgendwelcher Unregelmäßigkeiten den
Dienst quittieren müssen. Als der Krieg ausgebrochen
war, hatte er sich gemeldet, und man
brauchte ihn nur anzusehen, um zu wissen, daß er
fest entschlossen war, den Tod in der Schlacht zu
sterben und damit seinen Makel auszulöschen.
Der Feuerschein verlohte. Es wurde wieder
finster. In einem Gehöft krähte mit durchdringender
Stimme ein Hahn. Die Soldaten lachten. »Dem
ist ein zu großes Gedränge dahier,« witzelte einer.
»Ruhe!« schrie der Hauptmann wütend. Plötzlich
krachte es rechts vorn. Ein Adjutant brachte den
Befehl, das Bataillon solle über den Bahndamm
marschieren und gegen das Dorf Bazeilles vorrücken.
Die Abteilung setzte sich in Bewegung, erstieg den
Damm und überschritt den Strom auf der Eisenbahnbrücke.
Sylvester konnte das von dichtem Nebel
bedeckte Gelände überschauen. Wenn aus fernen
Geschützen die Blitze auffuhren, sah der Nebel wie
brennende Baumwolle aus. Ein zweiter Befehl
traf ein: das Bataillon habe vorläufig noch in
Reserve zu bleiben. »Hinter den Damm zurück
und niederlegen!« hieß es. Mit klopfenden Herzen
warfen sich alle ins feuchte Gras.
Auf einmal erschallte ein heftiges Kleingewehrfeuer.
Das war in Bazeilles. Ein Generalstäbler
berichtete, das Dorf sei von vier Regimentern französischer
Marine-Infanterie und einem Teil des Korps
Lebrun besetzt; es habe feste steinerne Häuser und
der Angriff sei erschwert dadurch, daß die Einwohner
im Bunde mit den Soldaten schössen und die
Straßen durch Barrikaden versperrt seien.
Sylvester und der Premierleutnant begaben sich
auf den Damm. Die meisten Häuser von Bazeilles
brannten schon. Die wachsenden Flammen erstickten
förmlich den aufdämmernden Tag. Rings um das
ungeheure Schlachtfeld donnerten die Kanonen. Die
Erschütterung des Luftkreises vertrieb den Nebel,
dafür wallten die weißlichen Dampfmassen aus den
Schlünden der Geschütze und der schwarze, wurmartig
gekrümmte Rauch von den brennenden Häusern
empor. Chassepotkugeln zischten durch die Luft, und
Sylvester und sein Begleiter wollten sich eben wieder
in die Deckung begeben, als das Kommando: »Vorwärts!
Ausschwärmen!« ertönte.
Den Degen in der Faust, marschierte Sylvester
vor der Schwärmerkette über den Damm und jenseits
herab. Er wunderte sich dumpf, als ein Stück
Himmel über ihm herrlich blau erstrahlte. Weit
drüben im Gelände erblickte er ein ameisenhaftes
Gewimmel rothosiger Soldaten. Sie sahen aus
wie die Mohnblumen in einem Kornfeld. Auf
allen Höhen, stundenweit im Umkreis, siedete der
sonnenbeleuchtete Dampf. Das Donnern, Knattern,
Sausen und Zischen hatte etwas Unwirkliches wie
im Traum. Verwundete wurden vorübergetragen;
ihr Stöhnen und Wimmern verlor sich im allgemeinen
Getöse. In einer Ackerfurche lag ein
menschlicher Arm. Sylvester hatte die Empfindung,
er komme nicht vom Fleck, trotzdem er und seine
Leute schnell gingen. Das gespenstische Knarren
einer Mitrailleuse ließ ihn neugierig herumschauen;
es war wie ein tierischer Laut und durchschnitt das
Herz. Der kleine Flötenspieler machte plötzlich einen
Sprung und stürzte auf das Gesicht. Wie kann
man nur so ungeschickt sein, dachte Sylvester
und rief ihm zu, er solle aufstehen. Ein Kamerad
beugte sich über ihn. »Er ist tot,« sagte er.
Im selben Moment fiel auch dieser, in den
Kopf getroffen, wie ein Stück Holz. Warum
der und warum nicht ich? dachte Sylvester verwundert.
Dicht vor Bazeilles lag das alte Schloß Dorival.
Verwitterte Amoretten blickten aus dem Gesträuch.
Im Vorbeiziehen hatte Sylvester das nämliche Gefühl,
das er als Knabe gehabt, wenn er zur Schule
hatte gehen müssen und auf dem Weg eine Spielverlockung
an ihn herangetreten war.
Da platzte zwei Schritte neben ihm eine Granate;
einem Mann an seiner Seite wurde wie durch ein
unsichtbares Beil der Kopf vom Rumpfe gerissen;
er ging noch einen Schritt und brach zusammen
wie Asche. Am Eingang des Dorfes lagen die
Toten zu dreien und vieren übereinander. Der
Erdboden war mit Blut begossen. In einer Rinne
rann das Blut, wie sonst das Regenwasser nach
dem Regen. Obwohl am Himmel die Sonne
schien, war es in den Gassen düster wie am Abend.
Aus allen Fenstern starrten Gewehrläufe, auch aus
den Fenstern der brennenden Häuser. Aus mancher
Kellerluke krachte ein halbes Dutzend Schüsse auf
einmal. Jede Barrikade war mit Hunderten von
Leichen gepflastert. Viele lagen mit friedlichen Gesichtern
da, als ob sie schliefen, andere wieder
zeigten einen Ausdruck grimmigster Qual. Immer
neue Abteilungen rückten vor, frenetisch jubelnd
stürmten sie in die Hauptgasse, und nach einigen
Minuten waren sie hingemäht. Jedes einzelne
Gebäude mußte wie eine Festung erobert werden.
Aus den brennenden Räumen drang das Geschrei
der Weiber und Kinder in den Höllenlärm. Von
dem einstürzenden Gebälk der Dächer prasselten
ununterbrochen Funken herab. Auf einer Brunnenstufe
gewahrte Sylvester einen schwerverwundeten
Jäger des dritten Bataillons. Dem Mann war
die Hüfte zerschossen, und er schien Durst zu leiden.
Sylvester gebot einem Soldaten, ihm Wasser zu
reichen, aber der Verwundete bat um eine Zigarre.
Der Soldat griff in die Tasche, gab ihm die Zigarre
und zündete sie auch an, während um ihn her die
Kugeln wie Hagelschloßen fielen. Nachdem jener
die ersten Züge geraucht hatte, starb er. Sylvester
ging weiter und sah seinen Premierleutnant tot
auf einem Haufen anderer Toten liegen, rosigen
Schaum über den Lippen.
Die dritte Kompagnie unternahm einen Sturm
gegen ein Gebäude, das etwas außerhalb des Dorfes
lag und von den Franzosen mit wildester Wut verteidigt
wurde. Die Mauern des Hauses waren
schwarz vor Alter; es hatte zwei Erker, und die
Fenster waren vergittert. Jedes der beiden Stockwerke
hatte sechs Fenster, an jedem Fenster standen
die Soldaten enggedrängt, und die Erschossenen
wurden sogleich wieder durch andere ersetzt. Die
Granaten hatten das Dach eingeschlagen, aber bis
jetzt hatte noch keine gezündet. Auch aus dem
Sparrenwerk des Daches schossen die Feinde herab,
und wie alle früheren Angriffe, wurde jetzt der
Angriff der dritten Kompagnie zurückgeschlagen.
»Folgt mir, Jäger!« rief Sylvester und verließ mit
seinem Zug die Deckung einer Hofmauer. Die
Leute waren sämtlich sehr blaß, gehorchten jedoch
dem Befehl mit einem rachsüchtigen Hurrageschrei.
Viele drückten die Augen zu, während sie
liefen. Die vierte Kompagnie, deren Hauptmann
gefallen war, vereinigte sich mit Sylvesters Abteilung.
Einer um den anderen stürzte. Sylvester
vernahm den süßlichen U—i-Laut, mit dem die
Kugeln an seinem Ohr vorüberpfiffen. Auf einmal
taumelte er und hatte ein Gefühl, als sei der linke
Arm von einem fürchterlichen Keulenschlag getroffen
worden. Einen Augenblick verweilend, bemerkte er,
daß das Blut aus dem Rockärmel floß. Zugleich sah
er mit einer Kampfesaufregung, die ihm Schwindel
verursachte und ihm in einem tiefen, ganz stillen
und sonderbar wachsamen Winkel seiner Seele kaum
verständlich dünkte, daß seine Jäger endlich bis an
die Mauer jenes Hauses vorgedrungen waren, wo
die Leichen in Hügeln lagen. Sie hatten die Gewehre
umgedreht und schlugen, zwanzig zu gleicher
Zeit, mit den Kolben wie mit Hämmern gegen das
massive Tor. Angeln und Schloß gaben nach, auch
die Fassung zersplitterte, das Haus war geöffnet,
und die Tapferen erstiegen die drei Stufen; mit
gefällten Bajonetten stürzten sie in den Flur. Eine
Salve empfing sie, mehr als dreißig verhauchten
ihr Leben, doch für die übrigen war kein Aufhalten
mehr. Sylvester drängte sich eben durch sie hindurch
in den Flur, als er, wie zu einer Bildsäule
verwandelt, stehen blieb.
Der Feldwebel der vierten Kompagnie hatte die
Verteidiger aufgefordert, sich zu ergeben. Einige
der französischen Soldaten hatten unwillkürlich die
Gewehre gesenkt. Darauf trat ihr Leutnant vor
und rief dreimal mit starker Stimme und in einem
Ton von äußerster, ja unbegreiflicher Verzweiflung:
»Jamais! Jamais! Jamais!« Zugleich riß er einem
seiner Leute das Gewehr aus den Händen und
legte es an.
Diesen Mann gewahrte Sylvester jetzt. Er gewahrte
ihn während des kurzen Zeitabschnittes, in
welchem sich der Offizier des Gewehrs seines Untergebenen
bemächtigte und es an seine Schulter preßte.
Er sah den festen, eigentümlich gelben und in seiner
Gelbheit und vernunftlosen Raserei geradezu tigerhaften
Blick, — da erkannte er das Gesicht noch
nicht. Eine Sekunde später erkannte er es. Die
Geschehnisse gingen in so rascher Folge vor sich,
daß der Geist mit einer erstaunlichen Schnelligkeit
auffaßte und arbeitete. Von dem Moment des
Anlegens der Waffe, der auf ihn gerichteten Waffe,
bis zum Abfeuern des Schusses erkannte Sylvester
nicht nur dieses Gesicht, erinnerte sich nicht nur aller
früheren Begegnungen mit dem Manne, alles dessen,
was zwischen ihnen lag, kombinierte er nicht nur die
Art des jetzigen Zusammentreffens, wunderte sich
nicht nur über die schmerzliche Fügung, sondern
empfand auch eine höchst gesteigerte liebende Teilnahme.
Zu spät rang sich ein Schrei aus seinem
Mund. »Achim!« Der Hahn des Gewehrs war
schon abgedrückt. Sylvester brach in die Knie.
Kaum hatte Achim Ursanner den Schrei vernommen,
als er hinzueilte. »Sylvester,« röchelte
er, erhob die Augen und umkrallte mit den Fingern
den Hals. Ein Unterjäger, vermeinend, daß der
feindliche Leutnant seinem verwundeten Offizier noch
zu Leibe wolle, hatte sich mit dem Gewehre in
Positur gesetzt und stieß dem nahenden Ursanner
das Bajonett mitten durchs Herz. Nun kamen die
französischen Soldaten vom ersten Stock und vom
Dachboden herunter und begannen neuerdings zu
feuern. Der Feldwebel packte den starren Körper
Sylvesters und zog ihn über die Stufen auf die
Straße, wo er unter grauenvoll verrenkten und verkrampften
Toten liegen blieb. Unterdessen stürmte
die erste Jägerkompagnie unwiderstehlich an, und
nach einer Viertelstunde war das schreckliche Haus
in ihrem Besitz.
Sylvester war nicht völlig ohne Besinnung.
Er wußte, daß er verwundet, schwer verwundet war
und daß er wahrscheinlich verbluten würde, wenn
keine Hilfe kam. Desungeachtet fühlte er keinen
Schmerz; auch Todesfurcht spürte er nicht, ganz
im Gegenteil schienen ihm seine Gedanken durch
eine ungewöhnliche prickelnde Leichtigkeit ausgezeichnet.
Er bildete sich ein, am Meeresstrand zu
liegen. Die Wellen benetzten seine Kleider, und
es war eine angenehme Empfindung von Gefahr,
wie sie immer näher an seinen Körper rückten.
Zuerst glaubte er, daß er sich in Bangor befinde;
er glaubte es deshalb, weil Anna Ewel unweit
von ihm eine Schürze wusch und sie an der
Tür einer Badehütte aufhing. Dann aber sagte
er sich, es sei Unsinn, Bangor habe gar keinen
Strand, auch sei dort der Ozean nicht so blau.
Wo bin ich denn? Wo bin ich denn eigentlich?
quälte er sich. Da fiel ihm ein, daß das Gestade
zwischen Amalfi und Salerno ebenso sanft und
lieblich war wie hier; er gewahrte auch die olivenumwachsenen
Hänge. Wie oft hatte er sie auf
der Jagd nach Eidechsen durchstreift! Damals
hatte er Eidechsen gefangen, denn er hatte eine
Römerin geliebt, die viele Eidechsen in einem
Glashaus hielt und fütterte. Nun kam sie selbst;
er hatte ihren Namen vergessen. »Tut nichts,«
lachte ein Fischer, der eben seine Netze aus dem
Boot zog, »wir heißen sie Angiolina.« Der Klang
dieses Wortes berauschte ihn. Auf einmal trabten
zwei ungemein zierliche Esel vorbei, und als er sie
neugierig betrachtete, sah er, daß das Sattelzeug
aus zusammengesetzten Spielkarten bestand. Das
ist ein Racheakt von Lord Albany, dachte er und
ballte die Faust. Es wurde Nacht, und eine Person
mit einer unvergleichlich schönen Stirn kniete neben
ihm. »Bist du es wirklich, Gabriele?« fragte er
leise. Sie ergriff seine Hände und während mit
erbitterten Mienen Tausende von Menschen auftauchten,
begann sie zu singen. Da hatte er den
herzzerreißenden Argwohn, daß sie ihn verachte,
ihn zum besten halte, daß sie falsch, listig und
selbstsüchtig sei. Sein Vater und seine Mutter
kamen und zwischen ihnen Silvia. Silvia trug
einen Veilchenkranz im Haar. Als er sie erblickte,
fühlte er sich plötzlich aufgehoben und fortgetragen …
Der ihn aufhob und forttrug war Adam Hund.
Seine Kompagnie hatte jenen letzten Angriff auf
das Haus unternommen. Durch einen Kolbenhieb
am Kopf verletzt, war er niedergefallen und hatte
dabei das bleiche, leblose Gesicht Sylvesters gesehen.
Dies gab ihm seine Kräfte wieder. Er warf sich
mit dem Gesicht auf die Brust Sylvesters und
lauschte, ob das Herz noch schlug. So an der
Brust seines Herrn ruhend, bezwang er zunächst
sein Schwindelgefühl, dann, von der Hoffnung beseelt,
daß noch Leben in dem Körper sei, raffte er
sich auf, hob den Bewußtlosen empor und nahm
ihn auf seinen Rücken, um ihn nach einem Verbandplatz
zu schaffen. Die Schlacht wütete mit unverminderter
Heftigkeit. Das Stück Feld, das Adam
mit seiner Last überqueren mußte, war so vom
feindlichen Feuer bestrichen, daß die Soldaten des
elften Regiments, die jetzt zum Kampf rückten, sich
nur kriechend vorwärts bewegten, und obwohl dreimal
in seiner unmittelbaren Nähe Granaten krepierten,
kümmerte sich Adam darum nicht. Ein
Geschoß zerschmetterte ihm die rechte Hand. Er
fluchte wie ein Fuhrknecht, trabte aber unverdrossen
weiter, bis er zwei Sanitätsleute gewahrte, denen
er zuwinkte. Da verließ ihn das Bewußtsein.
Diese Heldentat eines getreuen Dieners gehört,
obwohl sie in bescheidenes Dunkel gehüllt blieb, zu
den wunderbarsten eines an rühmlichen und berühmten
Heldentaten reichen Tages.
Das Schloß Dorival war in ein Lazarett verwandelt
worden, und hier fand Sylvester
Unterkunft. Seine Heilung machte anfangs nur
langsame Fortschritte, denn die Verletzung war
lebensgefährlich und die Pflege bei der großen
Anzahl von Verwundeten nicht ausreichend. In
den Zimmern, auf den Korridoren, sogar in den
Kellern lagen die Soldaten in langen Reihen und
der Anblick des Blutes und der furchtbaren Wunden,
das markerschütternde Geschrei der Leute, denen
Gliedmaßen abgesägt oder Geschosse aus dem Fleisch
geschnitten wurden, bedrückte Sylvesters Gemüt und
machte seinen Lebenswillen stumpf.
Aber nach einer Woche, als es in den schönen
alten Gemächern des Schlosses etwas ruhiger geworden
war, kam Agathe, und unter ihren sorgsamen
Händen nahm die Wiederherstellung Sylvesters
einen rascheren Verlauf. In den ersten
beiden Nächten hatte sie in ihren Kleidern neben
dem Lager des Gatten ruhen müssen, später verschaffte
ihr der Oberarzt in der Wohnung des
Kastellans ein notdürftiges Quartier. Ihre Umsicht,
Entschlossenheit und Unermüdlichkeit gereichten nicht
nur Sylvester, sondern auch vielen seiner Leidensgefährten
zum Segen. Sie schrieb Briefe für die
Verwundeten, brachte ihnen Erfrischungen, half
beim Verbinden, und ein bloßes Wort von ihr
wirkte manchmal Wunder, ein Blick flößte Zuversicht
ein, eine Berührung zauberte die Hoffnung in verfinsterte
Augen. Es schien eine neue Kraft über
sie gekommen, eine neue Seele, eine neue Jugend.
Ihr Schritt war elastisch, ihre Stimme sonor wie
ein Cello und von jener besonderen Resonanz, die
nur die innere Freude gibt. Die ruhige Heiterkeit
ihres Lächelns erregte Sylvester oft, wie einen Gefangenen
der Gedanke an die Freiheit erregt. War
sie ihm bisweilen fremd wie ein Bild, so war sie
ihm zu andern Stunden vertraut wie eine Schwester;
spürte er gleich für sie nicht das, was er Leidenschaft
nannte, so stillte doch das Gefühl ihrer Gegenwart
alle Unzufriedenheit in ihm.
Eine rätselhafte Scheu verhinderte ihn lange,
ihr von der Begegnung mit Achim Ursanner zu
erzählen. Als er es endlich tat, war er nicht wenig
betroffen von der Art, wie sie es aufnahm, ohne
Staunen, ohne ein sichtbares Zeichen der Ergriffenheit.
Offenbar dünkte ihr die Fügung so schicksalsvoll
und so mit dem innersten Sinn ihres Daseins,
ihrer Zukunft verwebt, daß sie ihm während seiner
Erzählung den Eindruck eines Menschen machte,
dem man ein Ereignis berichtet, dessen Zeuge er
gewesen ist. Da erkannte er, wieviel Märchenhaftes,
Wunsch- und Wahnversponnenes selbst in einer Frau
wie Agathe verborgen war, die mit ihren beiden
Füßen fest auf der wirklichen Erde stand. Was
aber dabei in ihr vorging und wie sie das Geschehene
in ihrem Geist ordnete, vermochte er nicht
zu ergründen, wollte es auch nicht ergründen. Ihm
schien, daß dieses Geheimnis sie reicher und reiner
mache. Einige Tage später sagte sie zu ihm, der
Gedanke schmerze sie, daß Achim Ursanner in einem
Massengrab vermodern solle, und Sylvester versprach,
dafür Sorge zu tragen, daß der Leib des
unglücklichen Freundes eine würdige Ruhestätte erhalte.
Er bedachte aber die Schwierigkeiten nicht,
die der Erfüllung eines solchen Versprechens begegneten.
Es war unmöglich, den Leichnam unter
den Tausenden von Toten aufzufinden oder zu erfahren,
in welche Grube er eingescharrt worden war.
Obwohl Sylvesters völlige Genesung noch mehrere
Monate dauern mußte, erlaubten die Ärzte nach drei
Wochen den Transport in die Heimat. Dieser wurde
auch mit schicklicher Vorsicht und ohne üble Folgen
durchgeführt. Adam Hund begleitete Sylvester und
Agathe. Er hatte den Arm in der Binde, und es
war ziemlich sicher, daß seine Hand lahm bleiben
und nie wieder erquickende und nützliche Sentenzen
auf allerlei Briefpapier verewigen würde, es sei
denn, sie übertrug dieses Amt an ihre Gefährtin
zur Linken. Doch war Adam Hund deswegen nicht
verhindert, in seinem Umgang mit gewöhnlichen
Sterblichen ein majestätisches Benehmen für angebracht
zu halten, und trotzdem ihm Frau Brigitte
Hund nicht den Gefallen erwiesen hatte, mit ihrem
Galan das Weite zu suchen, oder nur in angreifbarer
Form sich bloßzustellen, trotzdem sie ihm nach
wie vor die Suppe versalzte und den Brotkorb hoch
hing, raubte ihm die Beimischung von Ehebitternis
nichts von seiner innerlichen Glorie, ja sie war vielleicht
ersprießlich, damit sein Selbstgefühl nicht zu
einer Art von Trunkenheit wurde. Die Ursache des
eitlen und verstiegenen Wesens war, daß er sich
während des Krieges einen Vollbart hatte wachsen
lassen und im Bewußtsein dieses männlichen
Schmuckes, dessen ungeahnte Glücksquellen er nie
zuvor ermessen hatte, von einer Begeisterung für
seine eigene Stattlichkeit durchdrungen war, die viele
Menschen unwillkürlich nötigte, ein so echtes und
überzeugendes Gefühl zu teilen. Es heißt, daß sogar
Frau Brigitte gegenüber dieser unwiderstehlichen
Kriegstrophäe Regungen von Zärtlichkeit an den
Tag gelegt haben soll.
Schon im Frühjahr konnte Sylvester, von Agathe
und Silvia begleitet, kleine Spaziergänge unternehmen.
Als der Friede geschlossen wurde, hatte
er seine Gesundheit und Kraft zurückgewonnen.
Aus Dämmerung und Dunkelheit, aus Zerrüttung
und Verwirrung stieg sein Genius wieder ans Licht
empor und war es Notwendigkeit, daß er sich begnügte,
so war es Verdienst, daß er sich bezwingen
lernte. Es war schön zu sein, noch schöner zu wirken,
und was an unfrohen Trieben keimte und wucherte,
wurde durch die vielfältige Mühsal des Tages um
so leichter beschwichtigt, als ja ein Mann von vierzig
Jahren, wenn die Lebensuhr nicht stille steht, mit
der Zeit ein Mann von fünfzig Jahren wird.
Ende
Seite 227
Die angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Erstausgabe von 1913 S. Fischer Verlag, Berlin.
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