Die Laus

Tagebuchblätter Manfred Froweins

23. Januar.     

Bisweilen liegt es in der Luft wie Jauchzen und Jubelgesang: ein steter Antrieb sich zu freuen, eine feierliche Kirchenstimmung. Aber ich kann mich nicht freuen. Mir ist alles schon finster geworden, und wenn die Welt im Rausch der Seligkeiten taumelt und sich besoffen über Gräber schwingt, sehe ich bereits den kühlen Morgen voraus. Ich bin zu nüchtern. Mir ist die Welt alt geworden, und der Gang der Ereignisse eine sich stets wiederholende Formel. Wer einsam ist, lernt bald verachten.


 
24. Januar.      

Überall tutet der Karneval sein robustes Lied in den nächtlich stillen Gassen. Walzer und kein Ende. Ich hasse die Musik, oder vielleicht ist sie mir nur gleichgültig. Ich weiß nicht, welcher Poet einmal die Musik und die Liebe zum Weib in Beziehung gebracht hat. Ich zweifle. Ich kann den Dichtern nicht trauen; es ist ein wirres Gerede unter ihnen von der großen Liebe, von der „reifenden Leidenschaft“, von der Liebe gleichsam als Erzieherin. Nun bin ich 52 Jahre alt geworden, ohne je „geliebt“ zu haben. Sicherlich wäre es mir leicht geworden, ein wenig von diesem geheimnisvollen Kraut zu finden, wenn ich nur gewollt hätte. Ich bin ja reich. Aber ich habe wirklich kein Verlangen gehabt. Wie eine Wandeldekoration ist das Leben an mir vorbeigehuscht, und Verwandte, Freunde und Genossen sah ich ins Grab fallen wie Mücken, wenn der Sommer geht. Das Theater, auf dem wir spielen, hat einen geschickten, wenn auch bisweilen etwas konfusen Regisseur, An ihn glaube ich. Ihm kann ich vertrauen. Wenn du ungeschickt bist, lacht er dich aus; aber bist du schlau, so magst du avancieren: schnell und zum Ärger der Mitkommödianten.


 
1. Februar.     

Ähnliches ist mir nie begegnet.
Wie deutlich und neu sehe ich alles noch! Alle Tische des großen Cafés waren dicht besetzt. Selbst in den Wandelgängen drängte sich die Masse der Gäste. In einer nischenartigen Erweiterung sehen alle Gäste auf einen einzigen Punkt. Ich werde jenes seltsame Schauspiel nie vergessen. Ich habe ein teures, zartes und süßes Gesicht gesehen. Viele der alten Dichter haben reizvolle Traumgesichte geschildert. Auch ich habe geträumt, nur kann ich es nicht schildern.


 
       

Still ist's ringsum. Die winterliche Dämmerung erfüllt mein Zimmer. Schwer und ermattend liegt die Glut im Ofen. Jetzt will ich ein wenig träumen, denn die Nacht ist gekommen. Ich bin wieder jung geworden. Ich fühle wohl, mein vergangenes Leben war nichts. Es war ein Spaziergang ins Ungebahnte. Was sagt mein verwittertes Gesicht zu mir mit den tiefen Falten? Es sagt: vorbei. Und nun gilt es stark zu sein.

Wie unverlöschlich jenes Bild ist: sie lugt hinter der Marmorsäule hervor, in dem graziösen Kostüm der Cirkassterin. Das glanzlose Haar ist von der Farbe alter Kupfergefäße; das Gesicht so weiß, daß es förmlich leuchtet. Die Haut muß so fein sein, — jede Berührung muß sie verletzen. Und der Mund so lechzend, halbgeöffnet, blutrot; und all das überleuchtet und unwirksam gemacht durch die Augen. Waren sie blau? waren sie grün? oder schwarz? oder grau? Ich weiß es nicht.


 
Spät nachts.     

Vor allem haftet mir der stiere und entsetzte Blick im Gedächtnis, mit dem sie jenen Menschen verfolgte. Wenn er nicht der schönste Mann der Stadt wäre, würde er ihr dümmster sein. Die Rolle des Commis begeistert ihn nicht, darum spielt er den Künstler. Ich sah gewiß manche Augen, die feucht wurden, als sie ihm entgegenkam. In ihrem Gang, in ihrem Blick, in ihren Bewegungen lag jener gepreßte Schmerz, den wir an anderen nur mit peinlichen Empfindungen gewahren. Wir schämen uns unseres Mitleids dabei. Bittend streckte sie die Hände nach ihm aus und ihre Wimpern waren naß. Sie waren schwer von dieser Nässe und nur mit Mühe schienen sie sich so weit öffnen zu können. Um und um wogten die Menschen; viele sahen gar nichts von diesem Vorgang. Aber das junge Mädchen sah auch die neugierigen Blicke nicht. Welche Verzweiflung war es, als sie Soldan am Arm packte und einen Blick von ihm zu erhaschen suchte. Und dann sagte sie ganz laut mit zitternden Lippen ein paar unverständliche Worte. Ihre Augen flimmerten im Glanz der Thränen, ihr ganzer Körper stand unter der Gewalt einer einzigen leidenschaftlichen Empfindung. „Warum kommst du nicht mehr?“ fragte sie jetzt laut. „Ich habe dich doch so erwartet. Du hast es ja auch versprochen, für gestern schon. Was hab' ich dir denn gethan? Ich thu' ja alles, was du nur willst.“ — „Aber ich kenne Sie ja gar nicht,“ entgegnete der schöne Mann unruhig und erstaunt, mit verhaltenem Zorn.

„Dietrich!“

Soldan errötete jetzt. „Wann kammst du wieder? Sag' mir die Stunde, — nur noch einmal, bitte, — ach bitte. Nur fünf Minuten, — so wenig, als du nur willst — alles ist mir recht, ganz wie du willst, — willst du?“

Soldan riß sich finster und hastig los und verschwand im Gewühl. Da und dort erschallte Gelächter. Einer klatschte sogar Beifall. So ist es immer: wenn wir uns für einen anderen schämen, werden wir cynisch. Wie glücklich, dachte ich, muß selbst der sein, der solche Liebe unerwidert fühlt. Wohin verirren sich meine Gedanken? Man sagt, beten wollen ist schon ein Gebet. Was ist mit dieser be-ängstigenden Glut in mir? Ich weiß ja, ich möchte sie noch einmal sehen. Sie ist schön. Sie macht mein alterndes Herz warm. Aber bin ich nicht jünger als jener blasierte Bursche? Wie maßlos und schrankenlos muß eine Liebe sein, die ein junges Weib zu solchem Schritt verleitet. Wer ist sie? Sie hat ihm aufgelauert, wie eine Dirne, aber ihr Wesen ist das einer Fürstin.

Ich bin nicht mehr derselbe. Ich bin unruhig. Ich habe viele Männer mit fünfzig Jahren gekannt, die noch geliebt wurden. Aber es ist trotzdem komisch, daran zu denken.


 
6. Februar.     

Ich weiß jetzt, wer sie ist. Die ganze Stadt ist voll des Skandals. Es ist die Baronin Raspi, deren Vater sich vor einem Jahr nach dem Verlust seines ganzen Vermögens erschossen hat. Das Mädchen lebt nun allein und arm. Ich gehe jetzt spionieren. Ich habe das Stammcafé Soldans auskundschaftet. Über zwei Stunden lang saß ich neben seinem Tisch, bis ein junger Mann kam, der offenbar um die Affaire wußte. "Waren Sie denn dort bei ihr?" fragte der junge Mann. Soldan brummte etwas Verächtliches. „Und giebt sie sich zufrieden?“ — „Ich weiß nicht. Das heißt, jeden Tag kommen ein paar Briefe. Sie lauert mir auf, sie verbittert mir das Leben.“ Der schöne Mann gähnte.

„Das ist doch eigentlich traurig,“ sagte der andere etwas verstimmt unb beschämt.

„Ja, sie ist eine richtige Laus.“

„Eine Laus?“

„Ach ja, begreifen Sie nicht, wie lästig mir das alles ist? Ich weiß kein anderes Wort dafür. Zu winzig, um sich so recht darüber aufregen zu können und zu unangenehm, um es zu vergessen. Verstehen Sie?“ —

Ich stellte mich in die Lektüre des „Figaro“ vertieft. Mir war in der That, als ob diese näselnde gezierte Stimme den ganzen Raum erfülle. Jugend von ehemals! Wo sind deine Ideale? wo deine Großmut und deine Galanterie!


 
11. Februar.     

Freund Jänicke hat mich bei ihr eingeführt. Ich saß vor ihr und kannte sie anschauen. Wie kam es denn, daß ich mit ihr redete? Ich weiß nicht, wie es in dem Raum aussah, ich sah selbst das nicht mehr: ob sie schön ist oder ob meine Phantasie mich belogen hat. Ich hatte das Gefühl wie ein Mann, der durch überschwemmte Felder gewatet ist und ein Inselchen gefunden hat, wo er still und bequem dem Steigen der Wasser zuschauen kann. Es ist mir nicht mehr erinnerlich, was wir sprachen. Einmal lächelte sie, dessen erinnere ich mich wohl. Draußen schien die Sonne. Blau war der Himmel und der Schnee schmolz dahin.


 
12. Februar.     

Meine Schreiberei ist arg überschwänglich. Ich sehe es wohl, daß ich mich in den Stil eines Gymnasiasten verirre. Und doch altert der Leib, wenn auch die Seele jung wird. Ich muß es ja gestehen: es ist süß, sie sehen zu dürfen. Den leisen, feinen, berückenden Duft ihres Körpers einatmen zu dürfen, die Linien des Leibes durch das faltige Gewand erraten zu dürfen.

Es herrscht eine eigene Freude in der Welt. Der Karneval ist doch schön, und wer da ein rechter Narr sein kann, muß auch sonst zu den guten Menschen zählen. Auf jeder Schwelle schleicht sich die Musik ins Herz und erfüllt einen und beglückt und macht uns zu Träumern. Ich liebe den Himmel, der so klar sich hinspannt, den Schnee, der da schmilzt; alles ist mir neu, seltsam und wundervoll. Freilich ist ein nagender Schmerz in mir, den ich nicht in Worte fügen kann. Vielleicht ist es das Unwiederbringliche, das mit der Jugend dahinging. Oder das Unerfüllbare, das in dem späten Begehren des Graubärtigen liegt.


 
18. Februar.     

Es ist verständlich genug, was Soldan mit der „Laus“ gemeint hat. Er ist krank und nun schleicht sie allnächtlich unter seine Fenster und achtet ihren Ruf für nichts. Sie lauert auf jeden Schatten, der hinter den hellen Gardinen auftaucht und die Geberde jeder Silhouette ist die reinste Offenbarung für sie. Sie hat das Dienstmädchen förmlich bestochen, damit es ihr Nachrichten von dem Befinden des Kranken bringe. Sie hat sich selbst vergessen, hat vergessen, daß sie schön ist, daß sie jung ist, daß sie einen feinen und anmutigen Geist besitzt. Ich bin gezwungen, sie bei ihren nächtlichen Wallfahrten zu beschützen. Doch will sie keinerlei Einwand hören und sie beachtet mich auch sonst nicht. Ein Feuer, das mich verbrennt, muß ich verstecken. Um so rascher wird es mich vernichten.


 
27. Februar.     

Soldan hat sich mit der Tochter eines reichen Industriellen verlobt, einer Freundin Anettes. Als ihr die Nachricht gebracht wurde, verlor sie das Bewußtsein Nur in den alten Märchen und Volksbüchern habe ich bisher von solcher Leiden-


 
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schaft gelesen, und die Asra, welche sterben, wenn sie lieben, erscheinen mir jetzt wahrscheinlicher.

Es war schon tief in der Nacht, da lag ich immer noch auf den Knieen vor dem Diwan, der sie trug. Ihr Gesicht war bleicher als je, und die flackernden Lichter des Kamins zuckten über ihre Stirn und über das zerzauste Haar. Sie starrte mit weitgeöffneten Augen fast erwartungsvoll in die Ferne. Ich war in einem wunderlichen Taumel und sagte ungefähr dies: „Anette,“ flüsterte ich, „darf ich einmal reden?“ — Sie nickte. „Ich will nicht viele Worte machen, ich bin auch zu erregt, Sie wissen vielleicht auch, — aber wie könnten Sie das wissen, — alles, was mir gehört, gehört auch Ihnen. Innerlich bin ich ja jung geblieben. Ich liebe Sie mit der Kraft eines reifen Mannes, — lachen Sie nicht, ich möchte am liebsten sterben.“ — So etwa redete ich.

Es fiel ihr nicht ein zu lachen. Sie wandte mir ihr Gesicht zu und fragte ganz ruhig: „Sie wissen doch, daß ich ein Kind von ihm unter meinem Herzen trage?“


 
       

Ich habe Fieber, ich werde sicherlich krank.


 
15. März.     

Die Heirat Soldans hat stattgefunden. Meine Freunde finden, daß ich schlecht aussehe. Ich mag nicht mehr nachdenken. Ich werde alt, — gut, laß mich alt werden, Schicksal. Ich dank dir nicht, wenn du mir auch noch ein paar Freuden schenken solltest.


 
       

Während das junge Paar auf der Hochzeitsreise war, half Anette die prächtige Wohnung in stand setzen, die Zimmer der Neuvermählten zu schmücken. Das geht über meine Begriffe und über meine Erfahrung. Sie war unermüdlich thätig vom Morgen bis zum Abend, ja, sie korrespondierte sogar mit Soldan über den Einkauf von Gardinen, Teppichen und kleinen Rokokostühlchen. Ich kämpfe redlich mit mir, ich suche sie loszuwerden in meinem Innern, aber es ist vergeblich.


 
16. August (17 Monate später).     

Sie ist meine Frau geworden. Ich habe das Getuschel der Welt nicht gescheut und nicht ihre befleckte Ehre und nicht die Aussichtslosigkeit des Zusammenlebens. Ich bin ruhiger geworden, ober nicht klarer. Das häßliche Feuer hat nicht aufgehört zu brennen; denn sie geht an meiner Seite: kühl und apathisch, ein nichtssagendes Lächeln auf den Lippen. Das Kind ist drei Tage nach der Geburt gestorben. Das machte keinerlei Eindruck auf sie. Ich bin ihr nichts weiter als eine Art Namensschild und in zweiter Linie Versorgungsanstalt. Sie schließt mich aus von ihrem Schlafgemach und ich dulde es. Es ist ein seltsamer Wahnsinn in ihr, sich jeden Monat einen teuren Brillanten zu kaufen und sie befestigt die Edelsteine der Reihe nach um das Bildnis Soldans, — ich dulde es. Es sollen zwölf Steine werden. Ich werde es dulden müssen, selbst wenn es fünfzig würden, wenn ich all mein Vermögen hingeben müßte. Meine Willenskrraft, meine Wissenskraft, meine Heiterkeit, meine phlegmatische Weltbetrachtung, wo sind sie hin? Verlorenes Glück!


 
20. August.     

Sie war freundlich. Sie hat mir zugelächelt. Sie hat mir gestern die Hand gereicht, als sie gute Nacht sagte. Und ich wagte es, die Hand zu küssen. Ich habe in ihre Augen blicken dürfen, diese großen königlichen, wilden, berückenden Rätsel. Und am Morgen rief sie mich an ihr Bett, um mich zu bitten, — ich weiß nicht mehr, was es war. Verwirrt und bestürzt blickte ich nieder auf die halbentblößte Brust, — auf den Hals. Ich hätte schreien mögen, ich hätte meine Zähne in ihren Hals eingraben mögen. Jung sein dürfen, das Recht auf Liebe zu haben, — welch ein Ziel. Es ist eine Versäumnis in die Ewigkeit hinein. — — —

Ich bin zu Gemeinheiten fähig. Ich schleiche in meinem Haus umher, wie ein Dieb. Ich lausche: ihrem Schritt, dem gleichgültigen Wort, das sie an einen Dienstboten richtet und ich bilde mir ein, daß es mir gälte. Ich habe einen ihrer Schuhe gestohlen und verwahre ihn in verschlossener Lade, wie ein köstliches Gut. Nur um ein wenig zu riechen, wenn die Nacht kommt. Das ist pathologisch gewiß interessant. Mein „Fall“ ist gewiß recht merkwürdig, aber ich freue mich meines Wahnsinns. Ich freue mich des Feuers in meinem Herzen und ich stehe meiner reifen Vernunft verständnislos gegenüber.

Ich habe ein Komplott gemacht mit der Zofe, daß sie mir eine von Anettes Locken bringe. Ich habe in einem heimlichen Moment durch das Schlüsselloch ihres Schlafzimmers gespäht und, — wie gemein, wie niedrig! Ich kann ihr Bild küssen bis zum Wahnsinn und das weiß niemand außer mir und diesem verschwiegenen Blatt. Meine Träume sind seltsam schwer und unvergeßlich.


 
26. August.     

Es erregt mich, daß sie freundlich gegen mich geworben ist. Sie hat sich verändert, bisweilen singt sie sogar. Mein Blut wird heiß, wenn ich nach den Gründen forsche. Wäre es möglich — —? Sie ist jetzt reich, sie kann eine Rolle spielen; — ich muß, ich muß mich bezähmen, ich muß kühler darüber nachdenken.

Ich bemerke, daß meine Handschrift täglich wirrer, lässiger, schmieriger wird. Auch mein Gewissen ist ein verschmiertes Blatt geworden. Alles Grübeln ist ver gebens, alle Einsicht ist vergebens; ich kann nicht von ihr lassen.

Im Blütenschmuck und bald im Früchteschmuck steht die Welt da. Die Abende sind von einer berauschenden und beklemmenden Schönheit.


 
Zwei Monate später.     

Es wundert mich, daß ich es überstanden habe. Aber jetzt erst beginne ich aufzuwachen. Wir sind in der Stadt und es regnet seit acht Tagen. Wenn man auf die Straße geht, spannt man den Regenschirm auf und das Wasser dringt durch die Stiefel ein. Daran gewöhnt man sich so und man wundert sich, wenn es einmal nicht regnet. Es liegt etwas wie eine Ungerechtigkeit in dieser Witterung; aber ich bin zu träge, um darüber nachzudenken. Bisweilen muß ich an jenen 31. August denken und dann ist es, als ob etwas bersten wolle in mir. Gestern war ich wieder draußen in Bernried und watete durch den Garten der Sommerwohnung, wo inzwischen, alles verblüht und verdorrt ist.

Ja: der 31. August war es. Nachmittags fuhr ich in die Stadt und wollte zwei Tage bleiben. Aber es ließ mich nicht: ich mußte am fünf Uhr wieder zurück-fahren. Dann kam ich heim und es war niemand zu Hause. Ich weiß noch genau, wie einsam ich mich an diesem Nachmittag fühlte. Ich legte mich auf den. Diwan und starrte in die Luft. Der Abend war schwül und zu den geöffneten Fenstern strömten die Gerüche der Blumen herein. Die Sonne ging unter und der Himmel war gelb und rot süßliche, dicke Farben. Dann kamen Schritte näher. Ich hörte eine leise Männerstimme im Garten. Ich war hündisch genug, mich zu verstecken und krabbelte mühsam hinter eine Portiere. Ich wartete ziemlich lange, aber ich wurde durchaus nicht ungeduldig. Geht dies nicht wieder alle Erfahrung? Ich hätte doch eigentlich ungeduldig werden müssen. Freilich ein Jüngling wäre zu rasch gewesen. Ich war schlau, vorsichtig und wurde belohnt. Ich fieberte zwar ein Wenig hinter der Gardine, aber im ganzen blieb ich doch ruhig und gefaßt.

Ich muß noch darüber grübeln, das ist wahr, aber doch nur, weil mir nicht alles mehr innerlich ist. Ich sah sie alle beide: Soldan und sie. Sie saß in einem Fauteuil und blickte mit einem fast entsetzten Ausdruck in die Sonnenröte. Der schöne Mann zerblätterte eine Rose. Ich fragte mich warum sie so lange schwiegen: das mußte doch peinlich sein für beide. Ich vermochte ganz kalt über die Situation nachzudenken, deshalb bin ich eben erstaunt über mich.

Als sie endlich redeten, konnte ich nichts verstehen. Es sauste auch in meinen Ohren. Und dann ergriff Soldan seinen Spazierstock, ging auf sie zu, faßte sie bei den Haaren und schlug sie, daß ich in meinem Versteck mich wunderte, wie sie das überleben mochte. Weiter fühlte ich eben überhaupt nichts. Sie schrie nicht, sie wimmerte nicht. Mit brechenden Augen sah sie zu ihm empor, wie ein verendendes Wild. Und auf einmal hörte er auf, sie zu schlagen, riß sie in seine Arme und küßte sie, wild und immer wilder. Und jetzt brach sie in ein herzzerreißendes Schluchzen aus und klammerte sich fest an ihn.


 
       

Und was nun? Ich frage mich vergebens. Das ist meine Verzweiflung; ich bin bei ihr geblieben. Den Mut, Rechenschaft zu fordern, hatte ich nicht. Sie hätte mich wahrscheinlich ausgelacht. Sie wäre eine Laus? - Wer ist eine Laus -? Wer?

Es ist eine Philosophie in diesem Wort. Etwas von der Laus haben wir ja alle an uns, wenn wir auf der Suche sind nach Liebe und Lebensfreude. Und sollten wir dieser Welt, die wir beunruhigen, einstens unbequem werden, dann wird sie uns alsbald loswerden müssen. Das Schicksal läßt uns ohnehin nicht zur Ruhe kommen: allenthalben stöbert uns seine rohe Faust auf und raubt uns den Frieden und das erbärmliche lausige Gütchen, das wir besitzen. Und schließlich kommt der Tod und bricht uns die Gelenke entzwei.


 
 
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20.6.1896, Simplicissimus, 1. Jahrgang Heft Nr. 12