IMAGINÄRE BRÜCKEN
STUDIEN
UND AUFSÄTZE
Was ist Besitz?
Geschrieben 1919
Die Zeit erschüttert die Begriffe und wühlt den
Boden auf, dem sie entwachsen sind.
Es hebt eine Geschichtsepoche an, in der es sich vor
allem darum zu handeln scheint, den Wert, das Ausmaß
und die Rechtsgrundlagen von dem, was bisher
Eigentum hieß, zu revidieren und umzuformen.
Der Anspruch des einzelnen auf sein Gut, den er bisher
mit unwiderlegbaren Argumenten verteidigen
konnte, ja der geradezu ein Gesellschaftsgesetz war,
wird ihm plötzlich streitig gemacht mit Gründen,
denen, wollte man sie auch nicht gelten lassen, Nachdruck
verliehen wird durch Drohung von Gewalt.
Gewalt ist nicht zu widerlegen.
So tief hat kein Vorgang der Geschichte in die private
Existenz gegriffen, daß der Bürger, das Mitglied einer
Gemeinschaft, die nur zum Schutz ihrer selbst besteht,
von einem andern Teil dieser Gemeinschaft in
seinen durch Gewohnheit, Brauch und Gesetz geheiligten
Lebensbedingungen entrechtet werden soll,
und daß ihm zugemutet wird, die anscheinende Willkür
und Unbill nicht bloß geduldig zu ertragen, sondern
auch eine Notwendigkeit, eine neue, bessere
Ordnung darin zu erblicken.
Hier ist nicht die Absicht, diese neue Ordnung gegen
die alte wissenschaftlich zum Vergleich zu stellen;
dazu fehlt mir die Befugnis und die Kompetenz. Es
soll auch nicht von Schlagworten des Tages die Rede
sein: Imperialismus, Sozialismus, Kapitalismus, Kommunismus;
sie haben die Köpfe genug verwirrt, die
Leidenschaften genug erregt. Ich möchte das Wesen
des Besitzes untersuchen, seine Wirkungen nach verschiedenen
Seiten, auf das innere und auf das äußere
Leben, das soziale und das individuelle, seine Legitimität
und seine Schädlichkeit, seine Fruchtbarkeit
und seine Unnatur.
I
Wer darbt, dessen Seele wird von Bitterkeit erfüllt
gegen den, der Überfluß hat. Es gibt Verstoßene, die
durch keine Anstrengung dahin gelangen können, wo
die Lieblinge des Glückes sich am ersten Tage befinden.
So entsteht in Hunderttausenden, Millionen
Gemütern Bitterkeit, Haß, Neid und Auflehnung.
Für den, der darbt, ist das geringste Mehr, das der
andere hat, schon Überfluß. Wer nur ein einziges
Hemd besitzt, für den ist der Besitzer von zwei
Hemden ein mit Glücksgütern Gesegneter. Wer sich
nicht sattessen kann, für den ist der sorgenvollste
Satte ein Krösus. Wer kein Bett sein eigen nennt, in
dem er schlafen kann, für den ist der auf dem Strohsack
Ruhende beneidenswert.
Die gegenwärtige Gesellschaftsordnung hat so unendlich
viele Abstufungen der Armut, wie sie Abstufungen
des Besitzes hat. Zwischen dem in einer
Tonne oder Kiste verborgenen blinden Passagier im
Frachtraum eines Luxusdampfers und dem amerikanischen
Nabob in der ersten Kajüte mit Bade- und
Speisesalon dehnt sich eine Skala aus, auf der alle
Leidenschaften, Begierden, Niedrigkeiten, Verbrechen,
alle Sehnsucht und Verzweiflung und fast alle
ausdenkbaren Schicksale der modernen Welt spielen.
Irgendwo in der Mitte dieser Skala ist eine scharf
trennende Linie. Sie scheidet diejenigen, die ihre
Lebensnotdurft nicht stillen können, von denen, die
in der Befriedigung ihrer natürlichen Bedürfnisse eine
selbstverständliche Voraussetzung erblicken. An dieser
Linie teilt sich die moderne Welt in zwei Lager. An
ihr wütet der soziale Kampf in seiner ganzen Furchtbarkeit.
Da aber die Gesellschaftsordnung, wie sie heute besteht,
ein Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende altes
Gefüge ist, so muß man sich fragen, weshalb das eine
Lager der Menschheit in seinem Jammer, seiner Bedrückung,
seinem Leiden die bevorzugte Situation
des andern so lange erduldet hat, ohne einen nachhaltigen,
allgemeinen, gewaltsamen Eingriff vorzunehmen.
Ein Zustand, der so offensichtlich den Charakter
der Ungerechtigkeit an sich trägt, mußte doch
umsomehr zum Umsturz herausfordern, als die zahlen-
mäßige
Übermacht zu allen Zeiten auf Seite der Entrechteten
lag. Waren sie nicht genug durchdrungen
von ihrem Recht, dem Recht auf Brot und Wärme,
auf Luft und Licht? Hat man ihnen Schaustellungen
des Prunkes erspart? Wußten sie nicht, was erreichbar
war? Kannten sie nicht die Bevorzugten in ihrem
Übermut und ihrer Härte? Warum also die Geduld?
Einige werden antworten: darum, weil die Gewalt
auf Seite der Reichen war; sie konnten die Gewalt
bezahlen, und unter denen, die bezahlt wurden, befanden
sich die aus dem feindlichen Lager, die ihre
Brüder verrieten, eben weil sie bezahlt wurden.
Andere werden sagen: darum, weil ein tiefbedachtes,
raffiniertes und uraltes System von Einschüchterung,
Betäubung und Verdummung die Masse der Unterdrückten
in Bann gehalten hat, und weil zudem die
Sorge für den Tag, die dringende Notwendigkeit,
Obdach, Nahrung und Kleidung zu beschaffen, den
größten Teil der verfügbaren Kräfte absorbierte.
Es ist ein Stück der Wahrheit, aber es ist nicht die
ganze Wahrheit. Es ist die äußerliche Wahrheit, aber
nicht die innere.
Nehmen wir an, es fände heute eine vollkommen gerechte
und gleichmäßige Verteilung aller vorhandenen
Güter statt, beweglichen und unbeweglichen; jedem
wäre so die Unabhängigkeit gesichert, die Arbeitsfreiwilligkeit,
die Möglichkeit, seinen Anteil nach
seinen Gaben und Kräften nutzbar zu machen. Dieser
paradiesische Zustand würde genau so lange dauern
wie ein Tüchtiger braucht, um einen Trägen aus dem
Feld zu schlagen, ein Listiger, um einen Dummkopf
zu betrügen, ein Glückspilz, um über einen Pechvogel
zu triumphieren, eine talentvolle und feurige
Persönlichkeit, um Anhänger für eine Sache oder Idee
zu gewinnen, der sie sich versprochen hat.
Daß in der von Menschen (so wie Menschen einmal
sind) bevölkerten Welt eine Besitznivellierung stattfinden
kann, halte ich für denkbar, obgleich ich
fürchte, daß sie ohne Raub, Bedrückung, Gewalt und
Ungerechtigkeit nicht durchzuführen ist. Daß sie
aber auch nur auf kurze Dauer rechnen kann, halte
ich bei einer Gemeinschaft, die nicht ausschließlich
aus Ackerbauern, Fischern, Jägern und Viehzüchtern
besteht, für undenkbar. Und auch hier würden sich
die Schlauen, die Tätigen, die Erfinderischen bald
absondern, und Herren würden Sklaven finden. Eine
Binsenweisheit im übrigen.
Freilich, die Forderung, die eine verzweifelte Kaste
von allzulange hörig Gewesenen erhebt, ist auf den
katastrophalen Moment dieser Epoche gestellt; sie
lautet: Anrecht auf das Lebensmindeste. Die Ungleichheit
hat den Charakter krankhafter, ja verbrecherischer
Hypertrophie erreicht. Das über und
über gehäufte Mehr auf jener Seite soll abgetragen
werden zu gunsten derer, die das Mindeste entbehren.
Ich weiß nicht, wie das geschehen soll, ich weiß nicht,
ob es geschehen kann, auf eine vernünftige, ersprießliche,
rettungversprechende Art nämlich. Daß es wichtig,
daß es würdig und menschlich wäre, wenn es geschähe,
weiß ich, auch wenn mir die Sachverständigen
mit klugen und wahrscheinlichen Berechnungen vor
Augen führen, daß es den Zusammenbruch der gegenwärtigen
Gesellschaft bedeute, und sich dieser in
Rußland ja bereits vollzogen habe. Kein Bestand
irgendeiner Ordnung vermag dafür zu entschädigen,
daß lebendige Seelen dadurch zugrunde gehen, daß
sie besteht.
Es fragt sich nur, ob sie gerade dadurch zugrunde
gehen. Eine Wut der Materie hat sich des Zeitalters
bemächtigt, die gegen alle Einflüsse des Geistes, der
Seele, des Schicksals blind macht. Kurzfristige Nutzanwendung
wirft überall die Logik der Dinge und
der Geschehnisse aus der Bahn. Forderung überschreit
Entwicklung und Gesetz. Ein Hexentanz der Zahl ist
im Schwange, der Praktiken und der Theorien, beide
gleich seicht und unfruchtbar. Jeder steht beziehungslos
zu sich selbst, in einer durch die Materie getrübten
Beziehung zum andern und zur Welt, abgetrennt vom
sittlichen Verlauf, weil völlig geblendet oder erschreckt
vom sinnlichen. Niemand will zu einer Sache geboren
sein, alle wollen sich ihrer bemächtigen.
Jede Tätigkeit, wie jede Errungenschaft, hat ihre unverbrüchliche
Legitimität. Diese Legitimität ruht nicht
in der Materie, sondern im Geiste.
Die Drohnen seien preisgegeben. Fluch dem Leben
und Andenken der gierigen und unempfindlichen
Raffer und Wächter toten Eigentums, die das Blut
schaffender Geschlechter vergiftet haben. Die denkfaul
und achselzuckend sich auf die gottgewollte Institution
beriefen, wenn die Lohnsklaven im Dunst
der Schwefelgruben erstickten, wenn schlagende
Wetter ihre Leichname zerfetzten, wenn der Hunger
sie zur Selbsterniedrigung zwang; die sich in ihren
gesicherten Asylen verschanzten, beschützt von Polizei
und Militär, wenn die Not zu ihnen schrie, das
tausendfältige Elend der Städte sich verzweifelnd erhob,
der tausendfältige Schmerz seine fahlen Züge
zeigte. Wehe den Aktienparasiten, den gelangweilten
Müßiggängern, den Spielern mit Menschenseelen und
Wucherern mit Menschenkräften, den Petrefakten
und dem schillernden Geschmeiß einer untergehenden
Welt!
Aber diese Schädlichen und Hinderlichen haben und
hatten von jeher im Lager der Armen und Geknechteten
ein unabsehbares Heer von Lakaien, Agenten,
Anwälten, Profitmachern, Kulis, bestochenen und ergebenen
Kreaturen, die, gefällig jedem Wink, auf das
Erträgnis ihrer Dienste angewiesen, in Schranken gehalten
durch die Stimme des Eigennutzes, zitternd vor
der Macht- und Rachebefugnis ihrer Auftraggeber,
durch die Zwangsmittel des Staates zum Gehorsam,
die nach wirkende Zucht der Kirche und der Schule zur
Indolenz und Scheinüberzeugung gebracht, stützendes
Element auf der einen, hemmendes auf der andern
Seite der Linie waren.
Daraus jedoch schließen zu wollen, als hätte die Stabilität
der bisherigen Gesellschaftsverfassung nur in
unreinen Gesinnungen und niedrigen Interessen, in
der Trägheit und Knechtseligkeit der Massen ihre Ursache,
hieße der billigen Demagogie das Wort reden,
die heute die Straße und die politische Schaubühne
beherrscht und die die menschliche Natur und das
Wissen von ihr entweder berechnend ausschaltet oder
sie überhaupt nicht in den Bereich der Argumente
zu ziehen vermag. Was ebenfalls ein Merkmal geistigen
Abstiegs ist.
II
Dem Menschen, sei er, wer er sei und wie er sei, gut
oder böse, ist Achtung vor dem Besitz des andern
Menschen angeboren.
Am Recht des fremden Besitzes zu zweifeln, ist bereits
eine anarchische Seelenstimmung, die unmittelbar
in die Verzweiflung mündet. Ehe solcher Zweifel
Wurzel faßt, muß der Glaube an die eigene Kraft
verschwunden sein; es kann keine Idee mehr vorhanden
sein, die der Brutalität der Wirklichkeit entgegentritt
und sie unter sich läßt; das persönliche
Wertgefühl ist ertötet.
Fremder Besitz: das ist in diesem Zusammenhang
Idee. Nicht das, was mir vorenthalten wird, ist der
fremde Besitz, sondern das, was mir unerreichbar ist;
nicht das, worum ich durch Fügung oder Tücke betrogen
worden bin, sondern das, was außerhalb meiner
Sphäre liegt.
Recht und Unrecht kommt gar nicht in Frage. Die
Norm der sittlichen Verfassung vorausgesetzt, kommt
es nicht in Frage, ob der Nachbar, der Freund, der
beliebige Andere Vorrat und Anhäufung von Dingen
hat, an denen ich Mangel leide. Auch seine Würdigkeit
kommt nicht in Frage, sein Wagnis nicht, seine
Leistung nicht. Nichts, was ihn betrifft, den Andern,
sondern nur, was mich betrifft.
Dein und Mein ist so verschieden wie Welt und Ich.
Was ich von der Welt erringe, um meinen leiblichen
oder geistigen Bezirk zu erweitern, ist Besitz. Besitz
ist Ware, Gegenstand, Anschaubares, Faßbares,
Brauchbares; Besitz ist Ding, das durch das Medium
meiner Person und innerhalb ihres Wirkungskreises
irgend Leben erhält.
Geld ist nicht Besitz. Geld ist Symbol, Fiktion von
Besitz, ein Unschaubares, Unfaßbares, Unbrauchbares,
das Unding schlechthin. Deshalb entsteht
Täuschung und Lüge, wo es für Besitz genommen
wird, Haß und Gier, Leere und Stagnation. Verwandelt
es sich nicht in das Ding, gibt es seinen Charakter
als Vorwand nicht auf, bleibt es als häßliche
Illusion, als Irrbild bestehen, lediglich Begriff, ganz
und gar Gespenst von Besitz, so ist es verzeihlich und
logisch, daß unter denen, die von seinem widrig-geheimnisvollen
Zauberring ausgeschlossen sind,
die in Not verkommen, weil sie sich eines Wesenlosen,
eines Schattens, einer Formel nicht bemächtigen
können, eine Gereiztheit und Unruhe entsteht,
eine finstere Erbitterung, schließlich ein Wahnsinn,
Massenwahnsinn, der genau das Bild unserer Tage
malt.
Es ist der am Unding entfesselte Wahnsinn. Und das
Unding ist eines mit dem Ungeist.
Das Ding hat stets eine Art von Heiligkeit, mindestens
die Würde seines Seins. Am Ding kann ich mich
messen, ich kann mich ihm stellen, ich kann es mir
inkarnieren, es kann mich nähren, kleiden, schützen,
tragen, fördern; es ist, je nachdem, Schmuck oder
Lehre, Lohn oder Geschenk, Waffe oder Trophäe,
Beute oder Erwerb.
Die ursprüngliche, unverbildete Haltung jedes Menschen
dem Ding gegenüber ist die Ehrfurcht vor seiner
Bestimmung. Und davon ging ich aus. Es knüpft
sich hieran von selbst der Glaube an die persönliche
Leistung des Besitzers und die Bejahung dieser Leistung.
Das quälende Mißverhältnis in der sozialen
Wirtschaft, die unüberbrückbare Kluft zwischen den
aufs äußerste gesteigerten Extremen fällt allein dem
Dämon zur Last, dem Unding, das Scheinwerte aufstapelt,
denen trotzdem Tauschgeltung eignet, das den
Sinn des Besitzes verdunkelt, die Leistung entwertet
und infolgedessen Verwirrung, Verzweiflung und Zersetzung
der sozialen Kräfte herbeiführt.
Besitz in seiner reinen Form ist etwas zugleich Einmaliges
und Individuelles. Wie es ein Grad- und Artmesser
ist für den, der besitzt, kennzeichnet es auch
die Beschaffenheit dessen, der darnach strebt. Es sind
dies, tiefer betrachtet, zwei völlig verschiedene Gattungen
von Menschen und demgemäß zwei völlig
verschiedene Eigenschaftsgruppen, die zu betrachten
sind.
Es ist ein seltsames und oft wahrzunehmendes Phänomen,
daß zwischen dem Verlangenden und dem
verlangten Gegenstand eine ganz bestimmte Beziehung
herrscht, eine mehr oder minder heftige Affinität, die
auf die Schnelligkeit der Erfüllung Einfluß hat, ein
seelisches Fluidum, das mit größerer oder geringerer
Gewalt das Zueinandergehörige zueinander bringt.
Wie vom Schicksal zwischen Mensch und Mensch,
kann man auch vom Schicksal zwischen Mensch und
Ding sprechen.
Ob im Ding ein hinstrebender Wille vorhanden ist,
das zu entscheiden, ist nicht einfach. Das Erwägen
solcher Möglichkeit freilich fordert bereits die Entrüstung
der Rationalisten heraus, und ich möchte in
diesem Punkt nicht weiter gehen. Die Existenz und
Wirkung eines Magnetismus dürfte auch von Grobnervigen
nicht geleugnet werden; er kommt ja in alltäglichen
und trivialen Vorgängen oft genug zur Er-
scheinung.
Bemerkbar ist natürlich das Verhalten des
Menschen, der zum Ding steht.
Um zum Besitz zu gelangen, hat er Kraft einzusetzen,
Fähigkeit, Überlegung, Ausdauer, Arbeit. Der vorgestellte
Wert, der Wert im Bewußtsein der andern
und die Weite des trennenden Wegs bringen die
Summe des Müheaufwandes hervor und ergeben die
moralische Schätzung für ihn. Ehrgeiz entfaltet sich;
Pläne werden erdacht; Anstrengungen wiederholen
sich beständig; der Geist wird gebunden und auf ein
Ziel gerichtet; Wetteifernde tauchen auf, die besiegt
werden müssen; Hindernisse erheben sich außen,
Zweifel innen: die Geduld erlahmt, der Wunsch
trübt sich, erglüht wieder; alles dies in niedriger wie
in hoher Form, bei der Jagd nach einem Wild wie bei
dem Ringen um ein kostbares Gut. Das Bild dessen,
was errungen werden soll, ist das fortwährend verjüngende
und erneuernde Movens, der Kräftespeicher,
der Feuerspender; es diktiert den Rhythmus, die Flughöhe,
schafft die Züge und die Gestalt des Lebens, es
ist das Leben geradezu.
Alle mit uns Lebenden, sofern sie unter dem gleichen
Lebensgesetz stehen, sind hiervon in gleicher Weise
umschlossen. Wo das Unding nicht die Herzen und
Hirne gemordet, das sich selbst bestimmende Geschöpf
einerseits zur Maschine oder gar zum Teil
einer Maschine erniedrigt hat, andererseits die, die
sich ihm ergaben, indem es sich ihnen ergab, in feige,
stumme, stumm-bebende, gespenstisch-vegetierende,
nur menschenähnliche Hüter und Zuchtmeister verwandelte,
überall dort ist Spiel freier Kräfte, Spannung
und Ausgleich, Begehren und Befriedigung,
Verlust, Wechsel und neues Ergreifen, von unteren
Stufen auf obere, von oberen auf untere, Aufstieg und
Fall, edle Sucht und gemeine, eigennütziger Trieb
und weltfreundlicher, Sturz im Wettlauf, Hoffnung
in der Niederlage, und immer ist Besitz und Art des
Besitzes die Deutung und der Inbegriff der vitalen
Bewegung.
Sogar jene Unglücklichen, die Hingewürgten und
ihre Würger, kennen sie auch nicht den Besitz als
schöpferisch treibendes Element, so kennen sie ihn
doch als Fetisch und Stimulans; dies eben ist das Verhängnis
des Zeitalters: bei den entseelt Besitzenden
der Fetischismus, bei den entseelt Besitzlosen die
Rauschillusion und Aufpeitschung durch das Stimulans.
Die opfervolle Bemühung, das engverstrickte Maschenwerk
von Interessen und Leidenschaften, das erschütternde
Theater des Empor und Hinab der Existenzen
nennt man sozialen Kampf. Es ist, näher besehen, der
Kampf des einzelnen um sich, um das, was er liebt,
um den Boden, um die Luft, um das, was er braucht,
damit er sein kann, was er ist.
Geprüft wird die Leistung; Leistung wird anerkannt
durch die Prämie. Je spezifischer, persönlicher, ein-
maliger,
einzigartiger die Leistung, desto höher die
Prämie, sei sie nun von materieller, moralischer oder
geistiger Beschaffenheit. Manchmal bleibt sie lange
vorenthalten, auf lange Sicht gebucht, und wird, in
ihrer letzten Entmaterialisation als Ruhm, als Kult bezahlt;
völlig unterschlagen kann sie nur in seltenen,
tragischen Fällen werden.
Darum löst die Prämie, wenn sie im harmonischen
oder wenigstens annähernd harmonischen Verhältnis
zur Leistung steht, das Gefühl vollzogener Gerechtigkeit
aus. Da jeder in seinem Sinn und nach seiner
Betätigung Anspruch auf sie erhebt, da der Blutkreislauf
des ganzen Gesellschaftsorganismus in ihr seinen
Herzpunkt hat, ist auch jeder irgendwie für sie in
Haftung. Im besonderen mag anarchischer Eifer das
System befehden, mögen List, Betrug, Verbrechen die
Prämie verdrängen, verkleinern, abwendig machen,
den natürlichen Gang beeinflußt es nicht.
Der Fähige fordert und wird bezahlt. Im Unfähigen
schlummert neben der Traurigkeit des Unbelohnten
auch ein heimliches Bewußtsein von Schuld.
III
Das Buch, das ich erworben habe, ist mein Eigentum.
Derjenige Teil meiner Arbeit, der den Kaufpreis repräsentiert,
ist die Leistung.
Somit wäre der Prozeß ein- für allemal erledigt: ich
kaufe ein Buch, stelle es ins Regal und bin Besitzer.
Ob ich es gelesen oder nicht gelesen, benützt oder
nicht benützt, verwertet oder nicht verwertet habe,
das ändert an meinem Besitzrecht nichts.
In der Tat ist dies der Vorgang bei allem bürgerlichen
Besitz: die Leistung ist erledigt und bewiesen durch
den Kauf, wobei ich nach dem bisher Gesagten unerörtert
lassen kann, ob sie legitim oder illegitim ist.
Es kommt das weiter nicht in Betracht.
Nun leuchtet es ein, daß es keineswegs dasselbe ist,
ob ich einen Sack Mehl kaufe, um ihn zum Kochen und
Backen zu verwenden, oder ob ich Bücher kaufe, um sie
ins Regal zu stellen. In dem einen Fall ist meine Leistung
zweckhaft, im andern anscheinend zwecklos.
Man nehme jedoch an, ich sei Sammler von Büchern,
es sei meine Passion und mein Entzücken, seltene
Ausgaben, kostbare Exemplare oder eine möglichst
vollständige Reihe der über eine Wissenschaft erschienenen
Werke zu besitzen, so tritt bereits eine
Zweckhaftigkeit hervor, auch dann, wenn ich mich
niemals mit einem von ihnen beschäftige, ihren Inhalt
nicht kenne, nicht verstehe, nicht schätze.
Oder man nehme an, ich hätte eine umfangreiche
Bibliothek ererbt und obwohl ich lieber faulenze oder
Forellen fische oder Blumen züchte, sei ich durch
Pflicht der Pietät, stille Abmachung von Geschlechtern
her verbunden, sie unangetastet, unverwertet in
meinem Hause zu verwahren, selbst auf die Gefahr
hin, daß sie mir zur Last falle.
Und schließlich nehme man an, die Bücher seien mir
unentbehrlich, weil ich mir eine bestimmte Einsicht,
eine Erkenntnis verschaffen will, weil sie Hilfsmittel
zu meiner Arbeit sind, weil ich zu jedem einzelnen in
einer besonderen Beziehung stehe, die beständig wechselt,
beständig fluktuiert und infolgedessen sich beständig
erneut, meine Persönlichkeitsgrenze erweitert
und die Fähigkeit zur Leistung erhöht, so liegt der
Zweck offensichtlich am Tage.
Demgemäß sind vier Kategorien des Besitzes zu unterscheiden:
Verbrauchsbesitz, Schmuckbesitz, Erb- und
Anhäufungsbesitz und Produktionsbesitz.
Das Merkmal des Verbrauchsbesitzes ist der Abbruch
der Leistung mit dem Nutzgenuß; des Schmuckbesitzes:
die Leistung zum Phantasiegenuß; des Erb- und
Anhäufungsbesitzes: die brachliegende Leistung;
des Produktionsbesitzes: die Verwandlung der Leistung
in höherer Sphäre zu höherer Gestalt.
IV
In Bernard Shaws »Candida« sagt der Pastor Morell:
Wir haben so wenig das Recht, Glück zu verbrauchen,
ohne es zu erzeugen, wie Reichtum zu verbrauchen,
ohne ihn zu erwerben.
Dies trifft das Wesentliche. Ich lege den stärksten
Nachdruck auf die Begriffe: Glück erzeugen und
Glück verbrauchen. Einen um so stärkeren Nachdruck,
als diese scheusälig entwürdigte und besudelte
Welt um uns so glücklos geworden ist, so zerfetzt
und entstellt und in den Morast geschleift, daß sie in
unserm beleidigten Bewußtsein nicht mehr froh gemacht
werden kann, und wenn Gott die Heerscharen
seiner Engel als Gärtner und Baumeister schickte.
Wer sind die, die mehr Glück erzeugen, als sie verbrauchen?
Seltene Menschen, die seltenen Weisen,
seltenen Dichter, seltenen Lehrer und Versöhner, Former
der Herzen, die Ausjäter, Wahrheitskünder, Gestaltenbildner,
die oft im verborgenen stehen, ins
verlorene gehen, in der Tiefe hinschwinden, der sie
entstammen. Und je mehr Glück sie erzeugen, je
weniger sind gerade sie begabt oder gesonnen, es zu
verbrauchen. Sie produzieren den Überschuß, der der
Menge der zur Produktion minder Befähigten zugute
kommt.
Es ist nicht einfach, zu beurteilen, ob und wieviel
Glück der Sammler von Büchern, Münzen, Teppichen,
Gläsern, Waffen oder sonstigen Dingen erzeugt. Zumeist
ist er ja mehr ein Besessener als ein Besitzer.
Tiefes Wort der Sprache: Der Besessene; der, dem
die Freiheit fehlt, den Besitz hörig macht. Alles Segensreiche
liegt aber in der Freiheit, in der Mitteilung, in
der schenkenden Kraft.
Wie sich die Triebfedern der menschlichen Handlungen
der Rechenschaft entziehen, so auch die letzten
Ziele. Selbst bei den primitivsten fließt das Endliche
an irgendeinem Punkt ins Unendliche; wer sich
seiner Motive und Absichten klar zu sein dünkt, wäre
sonderbar getäuscht, wenn er alle Folge im Schicksalsverlauf
überblicken könnte. Wie das endlich Gedachte
unendlich, so wird das eigensüchtig Getane allgemein;
in irgendeiner Weise, auf irgendeinem Weg,
zu irgendeiner Zeit.
Die egoistisch beschränkte Leidenschaft eines Sammlers,
die gesellschaftsfeindliche Gier eines Güteranhäufers
ruft Bewegung weit über den Kreis dieser
Individuen hervor. Die Energien wirken produktiv
auf andere Individuen und verdichten sich außerdem
im Objekt. Von da aus schaffen sie neues: sie schaffen
Werke, Anschauungen, Spannungen, Wetteifer, Erkenntnis,
Freude und Schönheit. Das Individuum
und seine Motive sind überwunden. Die Dinge und
die in ihnen verdichtete, von ihnen wieder ausströmende
Bewegung überwinden die Niedrigkeit und
die Endlichkeit des Individuums.
Die begeistert und ergriffen vor den Kunstwerken
stehen, welche einst Eigentum der Borgias waren,
haben keine Erinnerung daran und brauchen sich
nicht an der Tatsache zu stoßen, daß diese Leute
infame Giftmörder und Banditen waren, die nebstbei
die modische Herrenlaune hatten, Bilder und Statuen
zu sammeln.
Ich kann aber auf pathetische Beispiele verzichten,
auch auf den Sammler, der als Figur erklärt hat, was
zu erklären war. Wichtig ist die Erzeugung von Glück,
von Freude, von Schönheit. Sie ist keineswegs nur
von Kunst und gesteigerter Geisteswelt abhängig; sie
umfaßt das ganze Gebiet des realen Lebens, das Angenehme,
das nutzlos, das Spielhafte, das brotlos, das
Glänzende, das zwecklos ist, den Überschwang und
Überfluß, die heitere Fülle, Fest und Illumination,
den Perlenschmuck am Hals einer Frau, den Pomp
des Fürsten, den Luxus des Millionärs, die Puppe in
der Hand des Kindes, die Fahne, die vom Turm weht,
die Marmorsäule des Tempels, die bunte Tracht des
Wilden, den goldenen Rahmen eines Spiegels, die
Blumen auf einem Grab.
Dies alles ist Frucht des Besitzes, und würde nach
der unmittelbaren Nützlichkeit gefragt, so müßte geantwortet
werden: es ist verschwendeter Besitz. Die
Frage nach Nützlichkeit und Notdurft steht der nach
Glück und Schönheit schroff gegenüber. Wäre es den
Menschen versagt, für ein anderes Ziel zu arbeiten
als für die Befriedigung ihrer leiblichen Bedürfnisse,
mehr anzustreben als höchstenfalls das persönliche
Behagen auf Grund der Erfüllung der gemeinen
Sinnengelüste; wären diese gewährleistet und der
Pakt würde geschlossen um den Preis der Abkehr
von Schmuck und Zierrat, von Unnotwendigem und
Überflüssigem, so verwandelte sich die Erde in ein
düsteres Gefängnis, wo zweckbeladene, vom Zweck
kastrierte Sklaven langsam zu Idioten würden, in
einen Stall satter, verdauender Tiere, von denen eine
Anzahl von Zeit zu Zeit die übrigen in geheimnisvoller
Tollwut überfallen und zerfleischen würde.
Diese Tollwut wäre die Rache der verstörten, vergifteten,
medusisch gewordenen Phantasie; denn Phantasie
kann nicht ausgerottet, aber sie kann ins mörderische
verkehrt werden.
Leben wir denn nicht in einer Welt, ähnlich der? Nur
daß der Pakt unzulänglich ist, daß die gemarterten
Tiere, weit entfernt, satt zu sein und zu verdauen,
hungern und frieren. Das hat der Zweck zustande
gebracht, diese Furie, unter dessen Stachelpeitsche die
Kreatur winselt. Nutzzweck heißt der Tiger, der uns
in den Klauen hält, daß das edelste Blut der Menschheit
ausrinnt und sie sich nur noch müht um das, was
ihre Blöße bedeckt und ihren Magen füllt. O angstvoll
starre Blicke, auf den Trog geheftete Blicke, ihr
kennt kein geläutertes Verlangen mehr; o Freunde,
zusammengeduckt wie vom Sturm unter ein Dach
gejagte Vögel, ihr wißt nichts mehr von Aufschwung
und Jubel, der Enthusiasmus ist gestorben in euern
Seelen, alt und kalt und verdorrt seid ihr, vor dem
Büttel Zitternde, von der Zahl, vom Apparat, von
der Maschine, von der Materie, vom Zweck Besiegte
und Entherzte!
V
Ich war zu dem Satz gelangt: Mein und Dein ist so
verschieden wie Ich und Welt. Wer ein Ding besitzt,
unternimmt es, ein Stück Welt seinem Ich einzuver-
leiben.
Das eigentliche Problem des Besitzes gipfelt
im Problem der Identität.
Formaler Besitz, Gewohnheitsbesitz, Rechtsbesitz sind
äußerliche Regelungen und Festsetzungen, soziale
Dringlichkeiten. In Wahrheit erringe ich den Besitz
einer Sache, wenn ich sie mir einverleibt habe. Es gibt
kein anderes Mittel zur Einverleibung als die Liebe.
So wäre also auch die Liebe ein Problem der Identität?
In der Tat scheint es mir so zu sein. Setze ich
an die Stelle des Begriffes »Welt« den Begriff »Du«,
so habe ich das Problem der Liebe, das Problem alles
Eros: aus einem Du ein Ich, aus einem Ich ein Du
machen. Es ist die höchste erreichbare Stufe des Besitzes,
und deshalb hat auch die Dichtung kein anderes
Wort dafür als: einander besitzen.
Um aber das Alltägliche des Gegenstandes nicht zu
früh aus dem Auge zu verlieren, so wird man einwenden,
es heiße doch viel gefordert von der Spannweite
und dem Liebesvermögen der menschlichen
Psyche, wenn man ihr zumutet, daß sie sich mit allen
den Dingen erotisch verschmelzen soll, die unentbehrlich
sind zum Aufbau und zur Entwicklung der Existenz,
all den Krücken und Behelfen, den Bindungen
und Füllseln, deren Bestimmung es ist, aufgenommen
und wieder weggeworfen, erprobt und wieder beseitigt
zu werden, auch dem Seltenen und Kostbaren
schließlich, das bei besserer Einsicht und vermehrter
Freiheit dem noch Selteneren und Kostbareren wei-
chen
oder bei herabgedrückten Umständen abermals
dem Geringeren Raum geben muß.
Darauf ist zu erwidern, daß das durchaus eine Angelegenheit
des subjektiven Kräfteverhältnisses und
der individuellen Phantasiefähigkeit ist. Ich kenne
Leute, denen es, bei offenbarer Wohlhäbigkeit, eine
gewisse Überwindung kostet, sich von einem Paar
abgetragener Stiefel zu trennen, wie es andere Leute
gibt, die ohne den mindesten Skrupel einen teuern
Menschen von sich stoßen, wenn es ihr Vorteil erheischt.
Es kann sogar ein und dieselbe Person sein,
die beides zu tun imstande ist. An Dingen Haftende
sind gewöhnlich nicht solche, die für Menschen glühen
oder für Menschliches sich einsetzen, und andererseits
hat die Hingegebenheit an den Geist oft eine wunderbare
Liebe für das Ding zur Folge. Die universalen
Seelen, wie Goethe eine war, vermögen mit ihrer Liebe
ein ganzes Universum zu umschließen, den Stein, die
Blume, die Sterne, die Werke der Künstler, die Menschheit,
den Teufel und Gott; die engen Herzen müssen
mit ihrem beschränkten Platz wirtschaften, und wenn
es dann noch an Harmonie und Gabe der Sublimierung
fehlt, geht alles drunter und drüber, und das
Wesenlose rangiert neben dem Wesenhaften, zum
Beispiel Rententitres neben Philosophie und Musik.
Man ist geneigt, darin Lüge und Verlogenheit zu
sehen, es ist aber meist nur Enge und wegen der Enge
Verwechslung und Verwirrung.
In meiner Jugend war ich sehr arm, aber ich liebte
alle Dinge, die mir in sinnvoller Beziehung zu denen
zu stehen schienen, welche sie besaßen. Ich liebte sie
fast ebenso, als hätte ich selbst sie besessen. In dem
Maß, als mir Besitz zuwuchs, so kärglich dieses Maß
auch war, erlahmte die Fähigkeit zu solcher Phantasieliebe,
denn die von mir besessenen Dinge standen
fordernd auf den Wegen zu den freien Dingen, sie
entkräfteten die Flügel, die im Fluge alles bedecken,
sie ernüchterten die Augen, die im Traum alles an
sich reißen konnten, im Traum der Identität.
Keiner der besitzt, ist begierdelos und wunschlos.
Nur der ist es, der wissend auf Besitz verzichtet. Aber
es ist dies kein gesellschaftliches Ideal, sondern ein
religiöses, kein europäisches, sondern ein orientalisches,
kein sentimental-humanitäres, sondern ein
unerbittlich-orthodoxes. Zu seiner Verwirklichung,
sofern man überhaupt von der Verwirklichung eines
Ideals reden kann, führt nicht das modern-kommunistische Diktat
der Enteignung, sondern das mythisch-buddhistische
der Entäußerung.
»Entdeckt habe ich diesen Weg zur Erwachung, und
zwar: durch Auflösung von Bild und Begriff wird
Bewußtsein aufgelöst, durch Auflösung des Bewußtseins
wird Bild und Begriff aufgelöst, durch Auflösung
von Bild und Begriff wird sechsfaches Reich aufgelöst,
durch Auflösung des sechsfachen Reiches wird
Berührung aufgelöst, durch Auflösung der Berührung
wird Gefühl aufgelöst, durch Auflösung des Gefühls
wird Durst aufgelöst, durch Auflösung des Durstes
wird Anhangen aufgelöst, durch Auflösung des Anhangens
wird Werden aufgelöst, durch Auflösen des
Werdens wird Geburt aufgelöst, durch Auflösung
der Geburt wird Alter und Tod aufgelöst, Schmerz
und Jammer, Leiden, Trübsal und Verzweiflung gehn
zugrunde, also kommt dieses gesamten Leidensstückes
Auflösung zustande. Auflösung, Auflösung!«[1]
Faustina
Ein Gespräch. Geschrieben 1907
Vor Jahren hatte in einem geselligen Kreis, in dem
ich damals verkehrte, die junge C. viel Aufsehen
gemacht. Abkömmling einer alten Adelsfamilie, hatte
sie sich, kaum zwanzig Jahre alt, von dem Zwang und
Drill ihrer Welt befreit, um, wie sie sich ausdrückte,
»selbst« zu leben. Die Ungebundenheit ihrer Lebensführung
war in der Tat erstaunlich. Eine Zeitlang
kämpfte sie im größten Elend; plötzlich ging sie zum
Theater, dort heiratete sie einen Schauspieler, von
dem sie sich nach dreimonatlicher Ehe wieder trennte.
Um Geld zu verdienen, übersetzte sie mittelmäßige
Romane aus dem Französischen. Eines Tages hieß es,
sie sei mit einem reichen Brasilianer verlobt und mit
ihm in seine Heimat gereist. Aber schon nach Jahresfrist
kam sie zurück, – ohne Brasilianer, leider genau
so arm wie zuvor.
In dieser Zeit näherte ich mich ihr. Wir hatten uns
ziemlich viel zu sagen. Faustina, so wurde sie meist
kurzweg genannt, war geistreich, und, was mehr ist,
ihr Geist hatte Fundamente. Sie war schön und sie
war exzentrisch; nimmt man aber dies Wort in genauem
Sinn, so hatte sie mehr Mittelpunkt als diejenigen,
in deren Bezirk sie sich fremd erschien. Ob
sie auch immer anziehend war, lasse ich dahingestellt;
eine Fremde war sie durchaus, stets fremd, nie bürgerlich
vertraut, höchstens seelisch verwandt. Zur Abenteuerin
fehlte ihr die Skrupellosigkeit, und um eine
große Dame zu sein, war sie zu ruhelos und zu voll
von Opposition.
Wieder eines Tages war Faustina verschwunden. Sie
verabschiedete sich nicht einmal von mir. Niemand
wußte, wohin sie gegangen war, und sie blieb verschollen.
Man vergaß sie, auch ich verlor sie beinahe
aus dem Gedächtnis. Da, wiederum nach Jahren, begegne
ich ihr plötzlich auf der Straße. Sie gewahrt
mich, sie zögert, ich mache Miene, sie anzureden, sie
grüßt und geht weiter. Kurz darauf erhielt ich ein
Billett von ihr mit der Aufforderung, sie zu einer bestimmten
Abendstunde zu besuchen.
Sie wohnte in einer Vorstadtpension. Ich trat in ein
Zimmer, das die übliche Halbeleganz fliegender
Quartiere aufwies. Faustina war noch immer schön,
aber wie von einem sich entlaubenden Baum kann
man auch von dem Herbst eines menschlichen Gesichts
sprechen. Ohne Zweifel las sie in meinem Gebaren,
daß ihre lakonische Einladung eher geeignet
war, Neugier zu erregen als an freundliche Beziehungen
zu erinnern. »Die Sache ist die, daß ich ganz ausgehungert
darnach bin, mit einem vernünftigen Menschen
zu reden«, sagte sie. »Ich habe berechnet, daß
ich seit siebzehn Monaten bloß mit Kellnern, Kut-
schern,
Zimmervermieterinnen, Hausmeistern und
Ladenmamsellen gesprochen habe. Das heißt doch
leben, wie? Daß ich so viel Talent zur wandelnden
Mumie besitze, wer hätte das gedacht.«
»Sie haben immer zu überraschen verstanden, Faustina«,
versetzte ich ablenkend.
»Als ich Sie auf der Straße sah,« fuhr sie fort, »hatte
ich ein Gefühl just wie Robinson, als er das erste
Schiff vor seiner Insel gewahrte.«
»Und doch sind Sie davongelaufen, gar nicht wie
Robinson, sondern wie Freitag, der scheue Wilde.«
»Ja; scheu bin ich geworden. Wenn ich wenigstens
schreiben oder musizieren könnte! Den Kunstdilettanten
bietet die Welt immer noch Lockungen, und
von allem, was im Menschen abzutöten ist, stirbt die
Eitelkeit zuletzt. Aber leider, ich bin stumm geboren,
und der bloße Kunstgenuß quält den Stummen
manchmal mehr, als er ihn beruhigt.«
»Ich wundre mich, Faustina. Sie waren doch stets
obenauf. Eine richtige, tüchtige Schwimmerin waren
Sie. Haben Sie denn keine Arbeit, keine Betätigung
mehr?«
»Ich finde es langweilig, zu arbeiten. Was kommt
dabei heraus? Eine Art von Trunkenheit und Selbstbetrug
bestenfalls. Arbeiten, wie das klingt! Dem
Leben mit Gewalt ein Versprechen abnötigen! Ich
brauche keine Versprechungen mehr, ich glaube an
keine mehr. Vorläufig hab ich noch ein bißchen Kapi-
tal,
meine Eltern sind nämlich gestorben, und man
hat mir den Pflichtteil ausbezahlt. Aber von den
Zinsen könnt ich nicht leben, das würde höchstens
für eine Büchse Kaviar im Monat reichen.«
»Also ist am Ende Ihre Einsamkeit ein ökonomisches
Prinzip?«
»Um Gottes willen, wer wird so philisterhaft denken!«
»Und da treiben Sie sich nun mutterseelenallein herum,
ohne Genossin, ohne Freundin –?«
»Ach was, Freundin! Ich habe keine Freundin, habe
nie eine gehabt. Eine Frau hat niemals eine Freundin.«
»Aber die Freunde, Faustina! Sie ließen mich einmal
glauben, daß ich Ihr Freund sei.«
»So? Wirklich? Mag sein, doch ich ärgerte mich, daß
Ihnen keinen Augenblick lang der Einfall kam, etwas
anderes sein zu wollen.«
Sie lachte über mein verdutztes Gesicht und fuhr fort:
»Spricht man hingegen nicht vom Freund, sondern
von den Freunden, so muß ich gestehen, daß ich für
solche Beziehungen nicht viel übrig habe. Die Freunde,
das sind Wesen von einer geradezu lächerlichen Gefräßigkeit.
Sie verdauen schneller als die Hühner, und
sie bleiben immer mager, ihr Herz bleibt immer
mager.«
»Dennoch, Faustina, mit Menschen verbunden zu
sein, bleibt der schönste Vorzug des Menschen. Einen
isolierten Zustand schadlos zu ertragen, dazu gehört
schon eine ungewöhnliche Seelenstärke.«
»Mag sein, mag sein«, erwiderte Faustina, und sie
lächelte unbestimmt vor sich hin.
»Offen gestanden, hätte ich nicht erwartet, Sie so zu
finden«, fuhr ich fort. »Ich dachte Sie mir in großen
Erlebnissen. Eine Gestrandete, oder wie Sie sagen,
einen Robinson, nein, das hatte ich nicht erwartet.
Faustina unentflammt, Faustina ohne Liebe, ohne
Verliebtheit, Faustina einsam, was hat das zu bedeuten?«
Sie sah mich lange schweigend an, bevor sie antwortete.
»Was kann es andres zu bedeuten haben,
bester Freund, als daß für Faustina keine Liebe mehr
da ist? Fertig, Freund, fertig! Abgewirtschaftet! Die
Rahel Varnhagen, die ja eine grundgescheite Person
war, hat es einmal als besondere Genialität Goethes
gepriesen, daß er im Wilhelm Meister die drei Frauen,
die lieben können, Marianne, Aurelie und Mignon,
sterben läßt; denn, sagte sie, es ist noch keine Anstalt
für solche da. Sehr tiefsinnig: es ist noch keine Anstalt
für solche da! Sie schweigen? Sie meinen, ich
lebe ja. Gewiß, ich lebe, aber wie, das sehen Sie doch.
Ehemals, da spürte ich nur mein eigenes Feuer, jetzt
empfinde ich die ganze Kälte des Zeitalters. Vielleicht
ist es mein Mißgeschick, für eine Epoche geboren zu
sein, in der die Liebe nur ein artistischer Begriff ist.«
»Verallgemeinerungen sind töricht. Man muß sich,
Faustina, vor der Manier der Malkontenten hüten.
Der Malkontente nämlich, das ist ein Mensch, der
aus seiner persönlichen Unfähigkeit eine Weltanschauung
macht.«
»Sie sind sehr deutlich, mein Lieber. Ich bin aber keine
Malkontente. Malkontente opfern sich nicht.«
»Haben Sie sich denn geopfert?«
»Wenn es opfern heißt, zu lieben, wahrhaft zu lieben,
sich wegzuwerfen –«
»Sich wegzuwerfen, das heißt nicht lieben und das
heißt nicht sich opfern. Doch wir verstimmen uns im
Wesenlosen. Erzählen Sie mir. Erzählen Sie mir von
Ihrem bisherigen Leben. Es gibt nichts Überzeugenderes
als das Erlebnis, Faustina, nichts Unbedingteres
als die Art, wie ein Mensch von Erlebnissen sie vorzutragen
weiß.«
»Um keinen Preis. Ich kann nicht von mir sprechen,
solang Sie argwöhnen, daß ich meine persönlichen
Enttäuschungen gewissermaßen an der Zeit rächen
möchte.«
»Es ist schwer, liebe Freundin, und nicht einmal dem
Glücklichen gelingt es, Zeit und Schicksal auseinanderzuhalten.«
»Was wäre auch zu erzählen«, versetzte Faustina.
»Eine Geschichte wie hundert andere. Wenn ich Ihre
Erwartungen in bezug auf meine Person betrüge, so
ist das Ihre Schuld.«
»Sie sagen, Sie hätten geliebt und sich weggeworfen.
Darin liegt mehr Schuld, als Sie glauben.«
»Ich habe keine Schuld. Oder sind übertriebene Hoff-
nungen
eine Schuld? Bin ich dafür verantwortlich,
daß eure Gesellschaft, wie sie nun einmal ist, Liebe
nicht mehr gewährt, daß für die Liebe kein Platz mehr
in ihr ist? Sie schütteln den Kopf, und doch ist es so.
Gibt es heutzutage noch eine Gestalt, in der Dichtung
oder im Leben, deren Existenz in der Liebe wurzelt?
Der Politiker, der Staatsmann, der Forscher, der Erfinder,
der Soldat, der Fabrikant, der Börseaner, im
Notfall sogar der Künstler, sie alle können ein modernes
Lebensideal bilden, der Liebende nicht. Man bewundert
eine Figur wie die des Casanova, man findet
eine Frau wie Julie de Lespinasse äußerst rührend,
man erstaunt über Ninon de l’Enclos, aber sie sind im
Grunde nichts weiter als Legenden und Raritäten, man
hat für sie das Interesse des Orientalisten, der babylonische
Ruinen ausgräbt. Wenn Casanova heute erschiene,
würde er wahrscheinlich als Hochstapler ins
Gefängnis gesteckt werden, und auch bei Don Juan
würde schließlich anstatt des steinernen Gastes ein
Polizeiagent vorsprechen. Der Staatsmann, der Soldat,
der Forscher, der Künstler, sie sind heute nichts weiter;
Staatsmann, Soldat, Forscher und Künstler, basta;
darauf sind sie gestellt, darin sind sie spezialisiert.
Liest man jedoch die Briefe Diderots an Sophie
Voland oder die Briefe Mirabeaus an Mademoiselle
de Monnier, so zeigt sich, daß da über den Geist hinaus,
über ein allgemeines, ja welthistorisches Wirken
hinaus noch Leidenschaften blühten, zwecklos wie
die Blumen in einem Garten. Heutzutage ist die Liebe
das Geschäft der Poeten, ob sie nun schreiben oder
bloß träumen, und nicht einmal der berufensten, denn
die stellen sich würdigere Aufgaben, sie müssen
Probleme lösen. So sagt man doch: Probleme lösen.
Nußknacker der Zeit, die sie sind.«
»Zu viel Bitterkeit, Faustina. Sie vergessen, daß die
menschliche Natur immer dieselbe bleibt. Die Wandlungen
der Zeit bringen nur eine oberflächliche Häutung
mit sich. Es sind Wandlungen des Geschmacks,
der Mode, der Manier, der Gebärde. Herz und Blut
verwandeln sich nicht. Die Leute des achtzehnten Jahrhunderts
gefielen sich in schwungvollen Episteln; das
war eben der Geist der Epoche. Sie mögen uns überlegen
gewesen sein in der Fähigkeit, über ihre Empfindungen
zu reden und sich darin zu spiegeln, darum
aber waren die Empfindungen selbst nicht tiefer. Sie
hatten auch die Gabe, alltägliche wie besondere Ereignisse
ihres Daseins in der Konversation auf das
anmutigste zu behandeln. Ich gebe zu, daß damit eine
Kunst der Geselligkeit verbunden war, deren Verlust
wir beklagen müssen –«
»Ja, sehr, sehr! Das ist es eben, was ich behaupte.
Unsere Form der Geselligkeit macht das Entstehen
der Liebe fast unmöglich. Bringen Sie einmal ein
Dutzend Menschen aus derselben Bildungssphäre
zusammen, die einander halbwegs fremd sind. Abgesehen
davon, daß Sie Gespräche hören werden, bei
denen Ihnen die Haut schaudert, wird auch der einzelne
mit dem Wunsch nach Annäherung die größten
Schwierigkeiten finden.«
»Wir sind eben schweigsam geworden.«
»Nur schweigsam? nicht auch zerstreut, nicht auch
müde? nicht auch faul?«
»Nur schweigsam. Unsere Altvordern, die hatten viele
Heimlichkeiten, aber Geheimnisse hatten sie eigentlich
keine. Für uns spielen Heimlichkeiten keine Rolle
mehr, dagegen sind wir voll von Geheimnis. Ehemals
kannte man in der Chemie nur vier Elemente, heute
hat sich alles Elementare in Atome gelöst. Ähnlich ist
es der Gesellschaft ergangen. Wir haben keine Gesellschaft
mehr, weil jedes Individuum als eine Welt für
sich und mit dem ganzen Geheimnis seiner Welt
auftritt.«
»Auch mit der ganzen Anmaßung seiner Welt.«
»Gut. Natürlich war es bei geschlossenen Gesellschaftskomplexen,
wo jeder gleichsam das Abzeichen
seiner Kaste trug, viel leichter, gewisse Kulturideale,
oder besser gesagt, modische Ideale durchzuführen
und als gang und gäbe festzuhalten. Modische Ideale
haben wir nicht mehr, weil wir von vornherein entschlossen
sind, in nichts, was mit dem Ideal zusammenhängt,
Konzessionen zu machen. Deswegen kann die
Liebe keine gesellschaftliche Übereinkunft mehr sein,
deswegen auch hat sie keine gesellschaftliche Abgrenzung
mehr. Es haben sich die Grenzen verschoben,
nach außen und nach innen. Nach außen und nach
innen ist alles komplizierter geworden; oder sagen
wir: verfeinerter, oder: verschwiegener. Ehemals begehrte
man in einem Liebesverhältnis die Person des
Liebenden oder Geliebten, jetzt begehrt man mehr,
nämlich die Persönlichkeit.«
»Modische Ideale oder andere Ideale, darnach frag
ich nicht«, entgegnete Faustina lebhaft. »Ideale aufzustellen,
in dieser Beschäftigung habt ihr es freilich zu
einer gewissen Handfertigkeit gebracht. Aber die
Sache scheint mir die, daß zwischen Ideal und Wirklichkeit
eine so ungeheure Entfernung ist, daß die
beiden schon gar nichts mehr miteinander gemein
haben. Da ist kein Weg, keine Brücke. Es ist, als
riefe man mir zu: geh nach dem Mond. Es war der
Vorzug vergangener Zeiten, daß sie realisierbare Ideale
hatten.«
»Heißt denn das schon ein Ideal realisieren, wenn
man imstande ist, sich gesellschaftlich mitzuteilen
oder selbst hinzugeben?« erwiderte ich. »Konversation
fordert Leichtigkeit; die allerdings fehlt uns.
Sie setzt ein Interesse für vieles voraus, wofür Teilnahme
zu heucheln uns gar nicht mehr einfällt. Wir
würden es abgeschmackt finden, über die Liebe und
ihre verschiedenen Arten zu philosophieren. Unsere
Zeit ist nach jeder Richtung hin monologisch gestimmt.
Gesteigerte Anschauung und ein erhöhter
Respekt verhindern uns durchaus, über das Bedeu-
tungsvolle
gewisser Lebensfragen zu sprechen. Wo
wir uns sympathisch erfaßt sehen, glauben wir eine
Erörterung darüber entbehren zu können; ganz mit
Recht. Ich möchte sagen, wir verkehren unter tieferen
Voraussetzungen miteinander. Ist Ihnen denn nicht
auch im Grunde jede Ankündigung eines Gefühls ein
Greuel? Finden Sie denn nicht auch die ganze Phraseologie
der Liebe von Anno dazumal lächerlich und
aufdringlich? Kribbelt es Ihnen nicht in den Fingern,
wenn der Liebhaber auf dem Theater seine Liebeserklärung
vom Stapel läßt?«
»Ach ja, das sind Geschmackssachen«, versetzte Faustina.
»Geschmack, das lasse ich gelten, Verfeinerung
ist mir zuwider. Die Scham seiner Gefühle haben,
schön. Aber noch schöner ist es, dünkt mich, den Mut
seiner Gefühle haben. Wenn Sie mir den Punkt angeben
können, wo eines aufhört und das andere anfängt,
ich meine, wo die Feigheit aufhört und die Verantwortlichkeit
anfängt, dann will ich mich zufrieden
geben. Aber dazu werden alle Waffen Ihrer Rabulistik
nicht ausreichen.«
»Möglich. Man kann ja überhaupt nicht streiten,
wenn man nicht derselben Meinung ist.«
»Wie? kann man nur streiten, wenn man derselben
Meinung ist?«
»Gewiß; im Grunde gewiß.«
»Großartig! Ein wildes Paradox!« Faustina lachte,
was ihrem Gesicht einen entzückenden Reiz verlieh.
»Aber wir verstehen uns am Ende doch«, fuhr sie
fort. »Sie kennen sicherlich die arabische Erzählung
vom Sklaven der Liebe; ist es nicht ergreifend, wie
der schöne Jüngling unter der Gewalt seiner Sehnsucht
hinsinkt, als ob ihn eine tödliche Krankheit erfaßt
hätte? Oder da las ich neulich die Geschichte
von Raimundus Lullus, der am Hof des Königs von
Arragon ein ausschweifendes Leben führte, bis ihn
plötzlich eine glühende Leidenschaft zu der schönen
Ambrosia de Castello packte. Eines Tages läßt ihn
die Dame in ihr Gemach kommen, enthüllt sich ihm,
und es zeigt sich, daß sie durch einen furchtbaren
Brustkrebs dem Tod verfallen ist. Raimundus, bis ins
Innerste erschüttert, weiht sich einem Leben völliger
Keuschheit. Doch wozu Beispiele; vielleicht beweisen
Beispiele nichts. Ich sehe freilich darin Kundgebungen
edler Leidenschaft. Dieser Raimundus Lullus etwa,
ich nenne gerade ihn, obwohl es auf Namen hier nicht
ankommt, er lebte in seiner Liebe wie die atmende
Kreatur in der Luft. Es gab für ihn nicht anderes
außer seiner Liebe. Er war in der Liebe, er war von
Liebe besessen, ein Besessener war er. Ich habe niemals
einen von Liebe Besessenen gefunden. Viele besaßen
die Liebe, das wohl, aber von ihr besessen
waren sie nicht. Solche fand ich, die vom Spiel besessen
waren, vom Geld, vom Ehrgeiz, von Wollust,
aber von Liebe Besessene fand ich nicht.«
»Wenn Sie Umschau halten, Faustina«, fiel ich ihr
ins Wort, »können Sie zu jeder Zeit und wo immer
es auch wäre, Handlungen von der gleichen Bedeutung
und Intensität gewahren. Wir führen eine zu
abgeschlossene Existenz, als daß Sinn und Motiv
ihrer einzelnen Vorgänge zu jeder Stunde offenbar
oder handgreiflich zu nehmen wären. Es ist nichts
einfältig genug, es ist alles zu vielfältig, zu weitschichtig,
als daß man durch anekdotische Belege imponieren
könnte. Selten hat ein Ereignis Anfang und
Ende für uns, selten läßt es sich als Anekdote fassen,
noch seltener ein ganzes Leben. Ja, es ist alles unfaßbar,
unendlich, alles auch scheinbar ohne Stichhältigkeit
oder ohne Konsequenz, und doch, wenn man
hinfühlt, wenn man im Nerv der Dinge lebt, von
tiefstem Belang.«
»Aha, Sie spielen schon wieder auf das Geheimnis an.
Es läßt mich kalt, Ihr Geheimnis, es ist mir zu pomphaft.
Ich lobe mir dafür die Heimlichkeit; sie ist heiter
und beweglich.«
»Lassen wir das Geheimnis. Ich sage nur: die Leidenschaften
waren und sind zu jeder Zeit und in jedem
Jahrhundert dieselben. Ich will gar nicht an die Tragödien
erinnern, die sich in stillen Stuben ereignen, es
wird davon wenig Aufhebens gemacht und drei Zeilen
in einer Zeitung sind alles, was bisweilen ans Licht
kommt. In meiner Heimat gab es ein junges Paar, und
sie liebten einander. Die Eltern des Mädchens setzten
der Verbindung hartnäckigen Widerstand entgegen.
Als man sah, daß die Liebe der beiden nur um desto
größer wurde, je mehr Hindernisse man ihnen bereitete,
wurde dem jungen Mann gesagt, er solle das Mädchen
haben, doch müsse er sich zuvor drei Jahre lang
nach Amerika begeben und während dieser Zeit dürfe
weder er der Geliebten schreiben, noch sie ihm. Wenn
er nach abgelaufener Frist seine Neigung unbesiegbar
finde, werde man gegen die Heirat nichts mehr einwenden.
Und so geschah es, der Jüngling reiste übers
Meer. Etwa ein Jahr lang ging alles gut, das Mädchen
lebte in schöner Gewißheit. Auf einmal fing sie an zu
kränkeln, verlor ihre Munterkeit, und ohne daß ein
Arzt den Sitz des Übels zu entdecken vermochte,
siechte sie hin. Die Eltern wurden besorgt, man begann
nach dem jungen Mann zu forschen, aber da er
keine Angehörigen in der Stadt hatte, verursachte dies
viele Umstände, und das junge Mädchen starb, ihr
Leben erlosch wie ein Feuer, das keine Nahrung hat.
Gleich darauf stellte es sich heraus, daß der junge
Mann dort drüben im fremden Land ebenfalls den
Tod erlitten hatte, und zwar beinahe an demselben
Tag, an welchem die Krankheit des Mädchens begonnen
hatte.«
»Eine hübsche Geschichte zwischen Menschen ohne
Elan«, sagte Faustina. »Warum waren sie gar so still
und subaltern, die armen Liebesleutchen? Ach, täuschen
wir uns nicht darüber hinweg; man hat aufgehört,
die Liebe als eine herrschende Gewalt zu be-
trachten.
Es ist deswegen auch ihr Ritus und Zeremoniell,
wenn ich mich so ausdrücken darf, verloren
gegangen. Und was ist schuld daran? Wer weiß es!
Vielleicht der Beruf, vielleicht die Bildung, vielleicht
beides. Der eine Moloch verschlingt die Zeit, die
schöne Muse zweckloser Träume, der andere vernichtet
die Ursprünglichkeit der Gefühle. Es gibt zu
wenig Leute, die sich langweilen, oder besser gesagt,
die das Talent haben, sich zu langweilen. Man ist
rationalistisch bis auf die alltäglichen Launen. Man
will immer einen Grund und immer einen Zweck.
Man geht nicht mehr spazieren, sondern man macht
Touren. Wenn man das Leben aufs Spiel setzt, geschieht
es für Dinge, die dessen nicht wert sind. Was
mich betrifft, ich sah Männer, ernsthafte Männer erschrecken
bei dem bloßen Gedanken an tieferes
Attachement. Ich kannte andere, die auf Abenteuer
ausgingen und die schleunigst, wie vom Donner gejagt,
die Flucht ergriffen, wenn sie in Gefahr waren,
einer Leidenschaft zu unterliegen, deren Meister sie
nicht sein konnten. Da ist ein Mann, fähig zur Hingebung,
ja, zur Aufopferung, der jeden Keim großer
Empfindung durch unablässiges Frage- und Antwortspiel
mit sich selbst zerstört, wie wenn ein verrückt
gewordener Gärtner jeden Morgen die schönsten
Knospen abrisse und zwischen den Fingern zerriebe,
und da sind andere die aus purer Herrschsucht, aus
purem Mutwillen, aus purer Eitelkeit, aus purem Un-
verstand
das Kostbarste, was sich ihnen anbietet, zu
niedrig einschätzen, nur weil es sich ihnen anbietet,
und verwesen lassen, was sie hegen sollten. Ich spreche
jetzt nicht von dem, was mir widerfahren ist, denn
mit uns Frauen ist es ja nicht viel besser. Da sind
solche, die ihr halbes Leben darnach versehnen, sich
in einem großen Gefühl verlieren zu dürfen; wenn
dann das wunderbare Ereignis kommt, sind sie plötzlich
voller Ausflüchte, voller Ausreden, voller Angst,
den Geist ihrer Kaste zu beleidigen. Sie haben jede
Entschlossenheit in der Idee und in der Sehnsucht
verausgabt. Das, sehen Sie, ist Empfindsamkeit, und
diese Art Empfindsamkeit, sich in der Idee und in der
Sehnsucht zu verschwenden, ist uns so verderblich.
Da stürzt man sich dann in den Pfuhl einer charakterlosen
Ehe, die Frauen, um ein Asyl zu gewinnen, oder
um den Zustand einer allgemeinen sinnlichen Unruhe
zu beenden, oder um Konflikten zu entgehen, denen
sie nicht gewachsen sind, oder um gewisser sozialer
Vorrechte teilhaftig zu werden oder aus frivoler Gedankenlosigkeit
schlechthin; die Männer, um ein
Heim zu gründen, wie sie mit heuchlerischer Poesie
behaupten, in Wirklichkeit, um sich zur Ruhe zu
setzen, um sich von ihren Jugendsünden, Sünden des
Geistes und des Herzens, des Körpers und der Seele
zu erholen. Wäre dabei die Ehe bloß eine soziale
Konvenienz, die wie im Zeitalter der Galanterie gewisse
Freiheiten eher fördert als verbietet, oder wie im
Altertum ein ungleiches Verhältnis von Tyrannei und
Sklaverei zum Gesetz erhebt, so wäre es noch gut;
aber nein, sie ist sakrosankt, und damit schützt sich
die Gesellschaft vor dem schlechten Gewissen, das
ihr die Phrasenhaftigkeit der ganzen Institution sonst
erwecken müßte. Großer Gott, was für ein Rattenkönig
von Verlogenheiten! Alles muß herhalten, um
den Mangel wahrhafter Liebe, uneigennütziger und
edler Gefühle zu vertuschen: Wissenschaft und Kunst,
Staatsinteresse und Humanität, Christentum und Freigeisterei,
lauter schöne Kulissen für ein nichtswürdiges
Schauspiel!«
Faustina war außerordentlich bewegt. Ich hatte Mitleid,
ihr zerstörtes Wesen rührte mich. Ich erkannte,
wie das Schicksal in ihr gehaust, und ein halb entschuldigendes,
halb selbstverspottendes Lächeln, das
alsbald auf ihre Lippen trat, konnte mich nicht täuschen.
Ich schwieg; mein langes Schweigen gab ihr
wieder einige Haltung. Sie erhob sich und ging mit
verschränkten Armen auf und ab, wobei sie fortfuhr:
»Es gibt eine Novelle von Tschechow, sie handelt von
einem alternden Mann, der ein Liebesverhältnis mit
einer verheirateten Frau hat. Sie treffen sich heimlich,
und einmal, gerade während er sie begrüßend umarmt,
wird er traurig und fragt sich, warum ihn diese so liebt.
Er denkt an die andern, er denkt daran, wie viele ihn
geliebt haben, und daß keine von ihnen, keine einzige
mit ihm glücklich gewesen sei. Die Zeit verging, so
heißt es ungefähr, er machte Bekanntschaften, schloß
Verhältnisse, trennte sich wieder, aber niemals liebte
er; es war alles, was man nur wollte, gewesen, aber
keine Liebe. Das Wort ist in mir haften geblieben.
Alles, was man nur wollte, war es gewesen, aber keine
Liebe. Der Mann war, wie viele sind, und die Frau
liebt ihn, ja, sie liebt ihn, aber nicht ihn selbst, sondern
den Menschen, den ihre Phantasie geschaffen hat,
und wenn sie ihren Irrtum bemerkt, liebt sie ihn dennoch
weiter. Was sollte sie sonst tun? Darf ich Ihnen
etwas verraten? Etwas recht Lächerliches? Ich habe
eine kleine Einteilung gemacht. Ich habe die Frauen
eingeteilt in Katzennaturen und in Hundenaturen,
und die Männer in Streber und Faulpelze. Katzen
sind an den Ort gebunden, Hunde an den Herrn,
Katzen sind treulos, Hunde sind treu, Katzen haben
Charakter, Hunde nicht; wenn Sie den Finger ausstrecken,
wird die Katze auf Ihre Hand, der Hund
aber gegen das Ziel blicken; und so weiter. Sie wissen
schon, was ich meine. Oder ist die Analogie nicht
plausibel? Streber und Faulpelze, darüber lassen sich
amüsante Beobachtungen machen. Was dem einen die
Karriere, ist dem andern die Behaglichkeit. Der Streber
ist skrupellos, der Faulpelz satt; der Streber ist ein
Glücksjäger, der Faulpelz ein heimlicher Dieb, der
seine Beute in Sicherheit gebracht hat, denn der Faulpelz
ist immer ein heimlicher Dieb. Der Streber ist
konservativ aus Grundsatz, der Faulpelz aus Stumpf-
sinn,
der Streber ist revolutionär aus Opportunismus,
der Faulpelz aus Eigennutz; der eine ist ein Wucherer,
der andere ein Kuppler, und Philister sind alle beide.
Ja, es ist eine herrliche Welt, eine herrliche Zeit! Wenn
man dieses ganze Geschlecht in einen großen Sarg
legen und auf einmal beerdigen könnte, so wüßt’ ich
eine wunderbare Grabschrift.«
»Und die wäre?«
»Verstorben an der weitverbreiteten schleichenden
Seuche: Trägheit des Herzens.«
»Na, daran stirbt man nicht.«
»Gewiß nicht, weil man ganz bequem davon leben
kann.«
»Verrannt, verrannt, Faustina, rettungslos verrannt.«
»Freilich,« murmelte Faustina, »verrannt wie Theseus.
Aber aus diesem Labyrinth gibt’s kein Entkommen.«
»Packen wir doch den Stier bei den Hörnern, Faustina.
Was ist Liebe? Wer hat Liebe? Wer ist der
Liebe fähig? Wer darf sich vermessen zu reden: Liebe
ist so und so und nicht anders. Wer darf es wagen,
über die Relationen des Begriffs hinauszufliegen und
seine Einheit, seine pragmatische Gültigkeit, seine
reinste Inkarnation zu verkündigen? Liebe ist etwas
ungeheuer Seltenes, Faustina. Machen wir uns das
klar! Die Liebe, die wirkliche Liebe, nicht die aus
aller Leute Mund, ist ein Phänomen, genau so selten,
genau so großartig, genau so bewunderungswürdig
wie das Genie. Ihre niedrigen oder minder niedrigen
Erscheinungsformen durch die Rangstufen der Kreaturen
sind allerdings so reich und wechselnd wie die
Kreaturen selbst. Nehmen Sie aber ein Individuum
heraus, um es nach Ihrer Weise kurzerhand vor den
Imperativ der Liebe zu stellen, so ist das ungefähr so,
wie wenn Sie ihm die fünfundzwanzig Buchstaben
des Alphabets vorsagen und ihm dann befehlen: da
hast du alles Notwendige, nun schaffe mir ein schönes
Dichtwerk. Man ist gewohnt, mit dem Wort Liebe
umzuspringen wie mit einem Hausgerät. Es hat gar
keine Unberührtheit mehr, dies unglückselige Wort,
es ist wie eine Dirne zu jedermanns Diensten, und
mir scheint, man müßte ein neues erfinden, um das
auszudrücken, was es ausdrücken sollte. Da ist eine
gewisse mittlere Literatur, die vorzugsweise von Liebe
handelt, und zwar von einer Liebe, die Distinktion
haben soll, Bedeutung haben soll, edelherzig und
selbstlos sein soll, und ach, nichts von alledem besitzt
sie, eine Wachspuppe ist sie. Wollte man sich, was ja
nahe liegt, durch diese Produkte verführen lassen, an
die Häufigkeit der Liebe zu glauben, so ginge man
sehr fehl. Unsere besten Dichter, denen eine untrügliche
Vision die Realität ihrer spezifischen Welt gibt,
beziehen auch nur mit einer höchst belehrenden Vorsicht
die Liebe in das Bereich ihrer Erfindungen.«
»Weil sie nichts davon wissen und weil sie sich davor
fürchten, genau wie im Leben.«
»O nein, Faustina, das wäre ein gar zu billiger Schluß.
Weil sie ihre Seltenheit erkannt haben. Halten wir
uns an das Gleichnis mit dem Genie. Das Genie tritt
erst in Funktion, wenn es in eine Zeit geboren ist, die
für sein Wirken schon vorbereitet ist. Es ist zwischen
dem Genie und der Zeit sozusagen eine elektrische
Spannung aufgespeichert. Mit der Liebe ist es nicht
anders. Der zur Liebe geborene Mann muß den für
ihn bestimmten höchsten Typus gewinnen und umgekehrt.
Es genügt nicht, daß in einem Einzelwesen
die Fähigkeit und Möglichkeit der Liebe vorhanden
ist, sondern sie muß durch ein besonderes Walten
günstiger Umstände einen würdigen Gegenstand finden.
Wer zur Liebe bestimmt ist, der muß zugleich
etwas vom Helden und etwas vom Märtyrer haben.
Nehmen wir also an, es entsteht in zwei bevorzugten
Individuen die Liebe. Gehen wir ein wenig anatomisch
zu Werke. Zerlegen wir eine solche Liebe in ihre Bestandteile.
Da haben wir in erster Linie die Leidenschaft,
die als eine Art Entflammung des Blutes und
des Geistes gelten muß; ferner: vergöttlichende Kraft;
durch sie wird das geliebte Wesen herausgehoben aus
der Schar der Mitlebenden und in ein Idol verwandelt.
Ferner: sinnliches und übersinnliches Verlangen; das
sinnliche entspringt der Leidenschaft, das übersinnliche
der Vergöttlichung; sodann: unbegrenzte Hingebung;
ihr Merkmal ist jedoch, daß sie auch bei
höchster Großmut des Gewährens nie zu befriedigen
vermag; ferner: eine Zartheit der Empfindung, die
abhängig ist von jedem Traum, von der leisesten
Ahnung, und endlich eine Ruhelosigkeit, die gleichwohl
ein ganz bestimmtes Ziel hat, so wie die zitternde
Magnetnadel. Sie mokieren sich über meinen professoralen
Ton, wie ich sehe. Ich wähle ihn mit Absicht,
da ich zwischen Schwärmerei und Sachlichkeit keine
Wahl habe, und wenn ich nicht schwärmerisch erscheinen
will, muß ich trocken sein.«
»Ich mokiere mich nicht. Fahren Sie nur fort.«
»Man braucht nur geringen Scharfblick, um daraus
zu erkennen, daß die Liebe zwei Hauptquellen hat;
eine elementare und eine ethische, eine sinnliche und
eine sittliche. Betrachtet man nun die trivialeren Formen
der Liebe, so zeigt es sich, daß sie fast immer nur
auf eine einzige jener Eigenschaften gegründet ist.
Wir haben dann die Liebe aus Leidenschaft; oder die
Liebe aus Sinnlichkeit; oder die selbstentäußernde
Liebe; oder die empfindsame Liebe; oder die ruhelos
unbefriedigte Liebe. Die Variationsmöglichkeiten sind
natürlich zahllos; zum Beispiel, wenn der Mann eine
sinnliche und das Weib eine vergöttlichende Liebe
hegt oder umgekehrt; oder wenn der Mann ruhelos
unbefriedigt und das Weib selbstentäußernd liebt,
und so weiter. Meist wird es so sein, daß gerade die
schroffsten Gegensätze zusammentreffen. Mit der
Variation beginnt auch schon der Konflikt, und wo
Konflikte sind, ist keine Beständigkeit. Die große
Liebe kennt keine Konflikte; bei ihr findet ein voll-
kommener
Ausgleich statt. Alles Differenzierte vereinigt
sich zur Harmonie und zur Schönheit. Ein auszeichnender
Vorzug wird nie isoliert sein und nie ohne
Widerspiel wirken; erst das Widerspiel, in einem bejahenden
Sinn, bringt eine Tugend zur Entwicklung:
Anmut wird zum Beispiel den Geist bedingen, Güte
die Kraft, Vornehmheit die Tapferkeit. In der großen
Liebe und nur in ihr, verwandelt sich der Mensch; er
wird sozusagen nach seinen idealen Grenzen erweitert.
Er ist in einem Zustand von Dämonie, oder um Ihren
Ausdruck zu gebrauchen, von Besessenheit. Alles
Sichtbare und alles Fühlbare hat nur einen einzigen
Bezug, er findet überall und in allen Dingen das
Gleichnis mit dem Objekt seiner Liebe, in der Musik
und im Gedicht, im Ziehen der Wolken, im Rauschen
der Bäume, im Anschauen eines Bildes, einer Flamme,
eines Steines; Vogelflug und Menschenwege haben
für ihn dieselbe nebelhafte Ferne, und doch hat er
alles in sich und nichts außer sich, er ist nach allen
Seiten gegen die Welt geöffnet und doch von ihr nicht
mehr berührbar, er ist der freundlichste Freund, der
teilnehmendste Gefährte und trotzdem mit der Geliebten
im ganzen Universum allein. Was ihn zuerst
an ihr hingerissen hat, sagen wir eine besondere Wölbung
der Stirne, eine besondere Art, die Lider zu heben
oder die Hand zu reichen, ein Ton der Stimme, ein
Rhythmus des Schrittes, ein Lächeln, eine Gebärde,
das alles wird Weltgesetz, das heißt: so gehen ein für
allemal die Menschen, so sprechen sie, so blicken sie,
so reichen sie die Hand, das ganze Bild des Daseins
wird zu einem fixierten Bild der Schönheit. In der
großen Liebe nämlich ist alles Positivität, und es ist
alles in ihr unendlich und ewig. Sie kann deshalb niemals
aufhören, weder auf der einen, noch auf der
andern Seite. Nur der Tod kann ihr ein Ende bereiten,
ein Ende, das freilich dem tiefsten Sinne nach ein
scheinbares ist und sein muß. Glück oder Unglück
kommen für sie nicht in Frage, ihre Tragik liegt anderswo,
ja sie ist die einzige Lebensform, die eine mitgeborene
Tragik besitzt, und diese Tragik ist für sie
nicht nur in der Möglichkeit, sondern auch in der Notwendigkeit
des Untergangs, des Todes beschlossen.
Die Liebe weiß keine andere Gefahr und Bedrohung
als den Tod. Vom ersten Augenblick der Liebe steht
der Tod als stummer Wächter förmlich sichtbar daneben.
Sehr schön ist das in Shakespeares Liebestrauerspiel
zur Anschauung gebracht: alles strebt von Beginn
an dem Tode zu, die Unabweisbarkeit, mit der
er auftritt, regiert heimlich jedes Geschehen. Und um
den Unterschied der Gattungen zu bezeichnen, ist
Romeo, bevor das große Entetement eintritt, in eine
Liebe von gewöhnlicher Beschaffenheit verstrickt.«
»Wohin führen Sie mich da, mein Teurer«, seufzte
Faustina. »Das gelobte Land dieser Liebe ist für unsereinen
nicht erreichbar. Dazu müßte man unter einem
besonderen Stern zur Welt kommen.«
»Ja, wie zu allem Großen«, versetzte ich.
»Glauben Sie denn im Ernst, daß es eine solche Liebe
wirklich gibt?«
Ich mußte lächeln, denn ihre Frage hatte etwas von
der Naivität eines Kindes.
»Glauben Sie auch,« fuhr sie fort, »daß die Bestimmung
dazu nur auf der einen Seite, auf der Seite des
Mannes oder des Weibes liegen kann, daß der eine
Teil vergeblich nach dem andern schmachtet und die
ganze Erde durchsucht, ohne ihn zu finden?«
Faustina sah mich ängstlich an, sie wollte offenbar eine
Beruhigung gewinnen, sie merkte nicht, daß ich die
Antwort auf diese Frage schon gegeben hatte. »Ohne
Zweifel«, erwiderte ich. »Jeder denkbare Zustand der
Seele und des Gefühls kann und wird irgendwie und
irgendwo zur Erscheinung gelangen, sonst wären wir
nicht imstande ihn uns vorzustellen. Der Fall, den Sie
fiktieren, hat aber mit der großen Liebe nichts mehr
gemein, vielleicht überhaupt nicht mit der Liebe.«
»Sondern?«
»Sondern mit der Sehnsucht. Sehnsucht kann produktiv
sein, sie kann aber auch unfruchtbar sein. Das
hängt von dem ab, der sie nährt.«
»Mich dünkt, Sehnsucht ist das erhabenste Gefühl
in der menschlichen Brust.«
»Wenn sie produktiv ist, ja.«
»Was nennen Sie produktive Sehnsucht?«
»Produktive Sehnsucht nenn ich diejenige, die im-
stande
ist, einer Vorstellung Wirklichkeit, einem geträumten
oder erwünschten Zustand Gegenwart zu
verleihen.«
»Da setzen Sie ja, und wie ist das möglich bei der
Sehnsucht, einen Willensakt voraus?«
»Ja, das tue ich allerdings; einen Willensakt, der vielleicht
durch geheimnisvolle telepathische Mächte begünstigt
und unterstützt wird.«
»Hm, ich sehe schon, Sie decken sich. Wenn man zum
Unerforschlichen seine Zuflucht nimmt, hören die
Argumente auf. Dem Unerforschlichen gegenüber
gibt es ja keine Schuld und keinen Irrtum mehr.«
»Warum auch von Schuld reden, Faustina? Aber Sie
mögen recht haben, vielleicht ist es wirklich eine Art
von Schuld, wenn das Gefühl nicht bis zum geliebten
Gegenstand trägt, sondern unterwegs durch fremde
Einflüsse gebrochen wird. Nie beirrbaren Instinkt zu
besitzen, das ist schon eine große Sache; und eine
seltene Sache. So wie unser Leben sich heute abspielt,
nicht wahr, wie jeder einzelne verwoben ist in ein
maschinenhaft bewegtes Ganzes, wie er gezwungen
ist, sich an vieles hinzugeben, was seinem Wesen fremd
ist, wie sein geringster Fehltritt ihn unrettbar hinunterreißt
von dem Weg seines Willens, wie er unverborgen
dasteht, immer Kettenglied, wie all sein Tun und Handeln
eine weitaus nähere und schnellere Folge hat als
er es wünscht, wie das Elementare beständig in ihm
ankämpfen muß gegen die Forderungen des Tages
und der Welt, wie er Ruhe und Selbstbestimmung hingeben
muß, nur um nicht erdrückt zu werden von den
Gewalten, die um ihn toben, so wird es natürlich immer
schwerer, einer inneren Stimme zu gehorchen, ja bloß
überhaupt sie zu hören. Was vor wenigen Generationen
noch einer Zahl von fünfzig beschieden war,
das wird heute infolge der strengeren Wahl und härteren
Erprobung nur an zwölfen oder fünfen oder
dreien erfüllt. Wer wird um des Ideals in der Liebe
willen sein Leben aufs Spiel setzen? Glücklicherweise
ist das menschliche Herz immer zu Verträgen bereit.
Würde die Liebe plötzlich Gemeingut aller, so wäre
in vierzig Jahren die Erde ausgestorben. Wer nicht
zur Liebe erwählt ist, dem hat das Schicksal auch
Stärke und Geduld versagt. Er bescheidet sich, weil
er sich bescheiden muß. Er liebt, was ihm Liebe entgegenbringt;
sein Regent ist der Zufall. Er erobert
oder er läßt sich erobern, ein Anschein von Schwierigkeit
und Ferne erzeugt die ihm notwendige Poesie.
Der eine liebt einen Körper, der zweite ein Gesicht,
der dritte einen Blick, ein Hand. Ich meine das nicht
gerade wörtlich, ich will damit nur sagen, daß er den
Teil für das Ganze nimmt. Den Teil für das Ganze zu
nehmen, das ist so Menschenart, und nicht einmal die
schlechteste, sie bildet sogar Charaktere. Der Liebende
ist Augenmensch; seine Leiden sind wirklich, seine
Freuden sind dionysisch; der andere, der die Liebe
nur ahnt wie ein Nachtgänger das Morgenrot, ist ein
tastender Mensch, seine Glut ist ein Fieber, seine
Leiden und Freuden sind imaginär, er sättigt sich von
Brot, indes seine Phantasie Himmelsspeise verzehrt,
er sieht nicht, er versteht gar nicht zu sehen, er will
nur eingelullt sein, er will nur träumen, er ist stets
philosophisch aufgelegt oder ist argwöhnisch, eifersüchtig,
traurig, unersättlich, rasch übersättigt; er kann
sich nicht in der Liebe verlieren, so gern er es möchte,
denn der Strom, der ihn erfaßt hat, ist nicht tief genug.
Manche lieben nur die Liebe oder die Sehnsucht nach
der Liebe oder die Maske der Liebe oder die Unruhe
der Liebe oder den Triumph der Liebe, und so können
wir immer tiefer heruntersteigen, bis von der Liebe
nichts mehr übrig bleibt als der Name. Unvermögen
hat vielerlei Gestalten. Kannten Sie nicht damals auch
den jungen Baron B., der bei der deutschen Gesandtschaft
war?«
»Den großen Frauenverführer –?«
»Jawohl. Nichts ist heute leichter als den Titel eines
Verführers zu erwerben, man braucht bloß ein wenig
Methode in die Art zu bringen, wie man sich amüsiert.
Dieser Baron B. also war immer mit einem Dutzend
Frauen gleichzeitig intim. In jede einzelne war er eines
bestimmten Vorzugs wegen verliebt, und er setzte mir
einmal allen Ernstes auseinander, seine Vorstellung
von Liebe sei eine so ungeheure, daß er niemals hoffen
könne, das was er suche, in der Totalität einer Person
anzutreffen.«
»Ein Freibeuter«, erwiderte Faustina verächtlich. »Vor
fünf Jahren hat er eine ältliche Millionärin geheiratet.«
»Ja, so enden unsere Verführer in der Regel.«
»Von hundert sogenannten Frauenhelden wissen neunundneunzig
überhaupt nicht, wie eine Frau beschaffen
ist«, sagte Faustina.
»Nun ja, wo Sinnlichkeit den Blick verwirrt, kann
von Liebe nicht mehr die Rede sein. Es ist ein Unterschied
wie zwischen dem Rauch und der Flamme.«
»Ist es so? Ist es wirklich so?« versetzte Faustina
hastig. »Sinnliche Leidenschaft trägt nicht, das gebe
ich zu. Aber wenn wir die Liebe nur in ihrer Vollkommenheit
anerkennen wollen, was bleibt dann noch
bestehen? was darf dann noch Liebe heißen? Lassen
Sie mir doch die Dinge ein wenig einfacher. Der
Mensch, so wie er eben ist, vermag sich nicht auf der
Höhe seines Gefühls zu halten. Der Gütigste, der
Edelste hat einen Teufel in der Brust, der ihn zwingt,
sich am göttlichen Teil seines Wesens zu vergreifen.
Vielleicht ist in der Liebe die Sinnlichkeit so ein Teufel,
vielleicht ist sie ein boshaftes Tier, wie die Heiligen
sagen. Vielleicht ist sie aber die Erhalterin der Welt?
Und wenn sie die Erhalterin der Welt ist, warum ihr
Übles nachreden? Läßt sie sich denn von der Liebe
trennen? Sie sagen: Liebe will den Tod. Ich wage nicht
daran zu rütteln, obwohl ein solcher Satz alle meine
Gedanken durcheinanderwirbelt. Aber angenommen,
Sie haben recht, wie läßt sich das mit der Absicht der
Natur vereinigen, die doch durch Liebe die Gattung
fortpflanzen will?«
»Das ist ein Irrtum, Faustina. Durch Liebe wird die
Gattung eben nicht fortgepflanzt, zum mindesten ist
sie nicht darauf gestellt. Sie ist sich selber Zweck.«
»Oho! Wenn Sie das vor versammeltem Volk sagen,
wird man Sie steinigen. Ich dachte, ein heutiger Mensch
dürfe gar nicht an Liebe denken, ohne zugleich an das
Kind zu denken. Mein Gott, sehen Sie nur unsere gebildeten
jungen Mädchen an! Welche Sachlichkeit!
Welche Wissenschaftlichkeit! Sie tun, als ob sie in der
Liebe zugleich ein Hebammenexamen bestehen müßten.
Na gut, werde jeder selig wie er will. Aber das
muß ich schon sagen, ein Symptom liegt darin. Man
ist nicht ehrlich in diesen Dingen. Und weil man nicht
ehrlich genug ist, der Liebe oder der Sinnlichkeit ihre
selbstverständlichen Rechte zuzugestehen, nimmt man
das Kind als Vorwand, sich zu decken. Man gibt der
Prüderie und der Entschleierung ein Pseudonym, das
sie mehr entwürdigt als beschönigt.«
»Nicht so wild, Faustina! Sie haben eine Art mir beizupflichten,
die mich fast an meiner Meinung irre
macht. Die Geschöpfe, von denen Sie sprechen, sind
ja nur Mißleitete. Und der Geist der Zeit selber ist
es, der sie betrügt. Aufklärung heißt heute das große
Wort. Nur ist allerdings diese Aufklärung etwas anderes
als man sie vor hundert Jahren verstand. Vor
hundert Jahren wollte man einfach alles aufklären:
Himmel und Hölle, Märchen und Wunder, Kunst und
Religion. Eine verhängnisvolle Strömung, der das noch
lange nicht genug, nicht dankbar genug gewürdigte
Emporwachsen der deutschen Romantik sich hilfreich
entgegendämmte. Unsere Aufklärung hat sich verinnerlicht.
Man will allem, was in der Seele des Menschen
vor sich geht, nicht so sehr verstandesmäßig als
auf Wegen des Gefühls, der Deutung, der Ahnung
beikommen. Die Schriftsteller haben sich in Seelenforscher
verwandelt, die Erzieher in mehr oder weniger
eigensinnige Deterministen. Man legt dem Unbestimmtesten
eine Bestimmung unter, uralte Traditionen
verlieren ihr Gewicht, bedeutungsvoll Gestaltetes
seine Kontur, Rangunterschiede werden verwischt,
Autorität erweckt Mißtrauen, und ich leugne
es nicht, ich kann es leider nicht leugnen, die allgemeine
Demokratisierung, dem kleinen Geist eine
Wohltat, dem großen ein Horror, erstreckt sich bis in
die verborgensten Winkel des Herzens. Aber mein
Trost ist, daß dies alles ja nur ein Übergang ist. Mir
ist oft zumut, als ob ein unsichtbarer Riese unsere Welt
in Stücke zerfetzte, um aus den Bestandteilen eine
neue, bessere, schönere zu machen, und als ob diese
Zerstückelung notwendig sei, um unser Dasein auf
eine höhere Fläche zu heben.«
»Hirngespinste«, sagte Faustina kopfschüttelnd. »Was
soll ich mit Hirngespinsten? Um mich mit einem Gegebenen
abzufinden, dazu bin ich. Ist mir der gegebene
Zustand unerträglich, nun, so empöre ich mich. Demokratisierung,
ja, ja, das ist es! Was heißt denn: Demokrat
sein? Demokrat sein heißt, etwas bedeuten wollen
außerhalb einer organischen Sozietät. Nicht wahr?«
»Jawohl, oder als Persönlichkeit auftreten außerhalb
der Sozietät und sich ihr entziehen auf Grund singulärer
Rechte oder selbstgeschaffener Befugnisse.«
»Ausgezeichnet. Was kann nun dabei zustande kommen?
Da ist der Adel. Was hat ihn zu allen Zeiten so
mächtig werden lassen? Doch wohl nur der eherne
Zusammenhang seiner Mitglieder auf Grund einer
ehernen Überlieferung. Heute aber, heute ist jeder
Ladendiener schon mit einer Individualität versehen,
und jede aufgeputzte Kuh faselt von ihrem Selbstbestimmungsrecht.
Was ist die Folge? Ehe noch die
ärmlichsten Menschenpflichten erfüllt sind, werden
der Menschheit schon Glücksforderungen gestellt,
wie man einen Wechsel auf Sicht präsentiert. Alle,
die so im glücklichen Besitz einer Persönlichkeit sind,
was eben Persönlichkeit nach ihrer Ansicht ist, gleichen
den schlechten Kaufleuten, die sich bei einem großen
Unternehmen mit einem kleinen Kapital beteiligen
und über Nacht Millionäre werden wollen. Diese
Persönlichkeitsritter üben ein neues Faustrecht aus
und die Gesetzlosigkeit, die sie begünstigt, erscheint
ihnen als der Gipfel der Freiheit und Kultur. Meine
Überzeugung ist aber die, daß ein demokratisches
Zeitalter nun und nimmermehr ein Zeitalter der Liebe
sein kann. Gerade in der Liebe wird ja die Aufopferung
der Persönlichkeit verlangt. Hingabe! Ein herrliches
Wort! Der Demokrat, der individuelle Demokrat, er
gibt sich nicht hin, er gibt sich nur auf. Und liebt er,
so muß er zweckvoll lieben. Und außerhalb der Sinnlichkeit,
wo wäre da für ihn noch Zweck? Also muß
er sinnlich lieben.«
»Man kann das formulieren, wie man will, Faustina,
und ich streite nicht dagegen, nur wundre ich mich,
weil Sie vorhin doch selbst für die Sinnlichkeit plädiert
haben.«
»Hab ich das? So wollt ich eben damit sagen, daß
die Sinnlichkeit ihren eigenen Thron aufgerichtet und
die andern Kräfte der Liebe unterjocht hat. Wenn das
organische Ineinanderwirken der Kräfte aufhört, so
entstehen, medizinisch gesprochen, Neugebilde, die
sich auf Kosten des übrigen Körpers nähren und ihn
langsam vernichten.«
»Dieser medizinische Vergleich ist mir zu – moralisch,
liebe Freundin. Wir dürfen hier um keinen Preis
moralisch sein, wir untergraben uns sonst die Möglichkeit
der Verständigung. Es gibt eine Art von Sinnlichkeit,
die wirkt nicht viel anders als das Licht, wenn
es in klares Wasser fällt und das Wasser bis auf den
Grund durchleuchtet, es entmaterialisiert. Welche
Sinnlichkeit wollen Sie der individuellen Sinnlichkeit
entgegenstellen? Etwa die naive? Das gäbe ein Schema.
Jedes Schema bleibt hinter der Erfahrung zurück, von
der Synthese ganz zu schweigen. Statuieren wir also,
beispielsweise, einen Unterschied zwischen elementarer
und differenzierter Sinnlichkeit. Wo ist die
Grenze? Ist der Wilde elementar, weil er nur das
Weibchen schlechthin begehrt? Ist Werther differenziert,
weil er sich um Lotte erschießt? Sie sehen, man
hat bei solchen Unterscheidungen keinen Halt.«
»Ach, unterscheiden Sie nach Herzenslust, aber Sie
werden mir doch nicht ausreden, daß es eine Sinnlichkeit
gibt, die eine Ursache und eine Sinnlichkeit, die
eine Folge ist. Die eine ist eine Wallung, die andere
eine Kraft, die eine regiert den Willen, die andere
kommt aus der Seele ...«
»Gut, gut, das mag seine Richtigkeit haben, aber damit
kommen wir zu keinem Ergebnis. Wir gewinnen nur
dann Einsicht, wenn wir von der Phantasie ausgehen,
wenn wir sagen: es gibt eine Sinnlichkeit ohne Phantasie,
und es gibt eine Sinnlichkeit mit Phantasie. Ja,
ich gehe so weit zu behaupten: Phantasie und Sinnlichkeit
sind gleichsam die beiden Flügel desselben
Wesens, des Liebewesens nämlich, die beiden Flügel,
ohne welche es sich nimmermehr vom Chaos lösen
und von der Erde erheben kann. Und das eine ist mir
klar: daß das moderne Ideal von Liebe oder von Sinnlichkeit
viel mehr unter dem Zeichen der Phantasie
steht, als es jemals der Fall war.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Mein vollkommener Ernst. Ich sage ausdrücklich:
das Ideal. Ich will die Erscheinungen selbst nicht betrachten;
ich will gern zugeben, daß wir vom Ideal
weiter als je entfernt sind. Der Grund liegt aber
nicht in der Inferiorität des Lebens, sondern in der
Superiorität des Ideals. Gerade durch die Persönlichwerdung
unserer Existenz wird ja der Reichtum der
Formen und der Reichtum der Daseinsresultate unendlich
gesteigert. Was auf der einen Seite die Vereinzelung
der Guten, die Vereinsamung der Tüchtigen
bewirkt, macht auf der andern Seite den Zwang und
das Gesetz aus, unter dem sie überhaupt zur Geltung,
zur Entfaltung ihrer Kräfte gelangen. Es findet dadurch
ein Zusammenfluß von vielen isolierten Idealen,
ein Ineinandergreifen erhöhter Lebensstimmungen
der heterogensten Art statt, deren Gesamtheit und
deren organische Verschmelzung, wenn es einmal so
weit gekommen sein wird, sich gar sehr von den primitiven
und deswegen von vornherein harmonischen
Idealen früherer Epochen unterscheiden wird. Und
außerdem, was könnte ein stärkerer Ansporn für die
Phantasie sein als gerade die Distanz zwischen Ideal
und Wirklichkeit?«
»Ach so,« sagte Faustina stirnrunzelnd, »es soll also
die Phantasie ein Mittel des Verzichtes werden? Da
sieht mans, mit Logik kommt man herrlich weit!«
»Zu einem Mittel des Verzichtes, – ja. Aber nicht im
Geist der Askese, sondern im Geist der Vollkommenheit
und Vervollkommnung. Ein Liebender, Faustina,
was ist er denn anders als einer der gewählt hat, einer
dessen drängendes Gefühl sich für die intensivste
ihm mögliche Lustquelle entschieden hat. Denken wir
uns die sinnlichste Natur; denken wir sie zugleich
liebefähig und zur Liebe bestimmt in der edelsten
Art. Indem sie wählt, vollzieht sie unwiderruflich ihr
Schicksal; das weiß sie, und weil sie es weiß, folgt sie
einem hohen sittlichen Gebot, wenn sie den Gegenstand
der Liebe in die höchste Region der Vollkommenheit
erhebt. Je mehr Phantasie nun dabei im Spiel
ist, je mehr kann die Realität vergessen werden, und
nicht in einer selbstsüchtigen Täuschung, sondern in
einer schönen, selbstlosen, idealen Täuschung, ja,
schlankweg gesagt, in einer Täuschung zugunsten
des Vollkommenen. Oder nehmen wir ein negatives
Beispiel: nehmen wir unglücklich Liebende; ich meine
natürlich nicht solche, die aus äußerlichen Gründen,
sondern solche, die aus innerlichen Gründen verhindert
sind, eins zu werden. Unglücklich Liebende sind
Wesen, die nicht die Geduld, das heißt, nicht die
Kraft, im letzten Grund nicht die Bestimmung hatten
zu wählen. Nun was heißt aber das: geduldig sein
und dabei leidenschaftlichen Gemüts? Es will nichts
anderes sagen als schöpferische Phantasie besitzen.
Und daß der wahrhaft Liebende schöpferische Phantasie
besitzt, das zeigt sich eben in demselben Augenblick,
wo er zu lieben beginnt.«
»Noch immer nicht, lieber Freund, noch immer nicht
sehe ich ein, inwiefern wir, wir Auserlesenen des
zwanzigsten Jahrhunderts, darin einen Vorzug haben.
Ihre Argumente genügen mir nicht; ach, in Argumenten
bin ich so ungenügsam wie in allem andern.
Es gab eine Zeit, da war die Liebe ein Ereignis, ein
Abenteuer, ein Wunder, ja, ein Wunder war sie, und
heute? Ist für Sie oder für Ihre Altersgenossen, ist für
Mann oder Weib die Liebe noch ein Wunder? Dies
große Unbegreifliche, dies ... nun dies Wunderbare –?
Nein, nein, nein! Oder kenne ich uns nicht? Kenn ich
nicht meine Zeit? Sind die Augen einer Frau befangen?
Verwandeln sich die Erlebnisse einer Frau nicht in ein
Erkennen? In diesem Punkt ist eure Gerechtigkeit,
eure berühmte Männergerechtigkeit nichts wie aufgeschmückte
Philosophie und Ausrede. Wo das Wunder
nicht ist, was soll da die Phantasie? Was sollen
Flügel, wo keine Luft ist, die sie trägt? Vom Adler erzählt
man, daß er sterben muß, wenn er nicht mehr
fliegen kann; zu gehn vermag er nicht, also muß er
sterben. Ihr gleicht nicht den Adlern, ihr Männer, ihr
könnt auch gehn und macht euch vor jedem Jäger aus
dem Staub.«
»Das Wunder! Das Wunder der Liebe! Wie das
klingt, Faustina! Wie aus einem Roman der George
Sand. Die Sache ist wirklich die, daß uns die Liebe
gar kein Wunder mehr bedeutet.«
»So? Und warum, wenn man fragen darf? Lassen
Sie mich den Grund hören; ich bin neugierig und im
voraus voller Widerspruch, denn daran hängt mir ein
Stück Herz.«
»Nein, die Liebe als Phänomen ist für uns kein Wunder
im Sinn von 1750 oder 1820, wo der Liebende sich
in der Erlesenheit seines Gefühls spiegelte, an seinem
Gefühl fast zum Narziß wurde. Der Grund, weshalb
dem nicht mehr so ist, besteht darin, daß wir einerseits
zu wissenschaftlich, andrerseits zu historisch dazu
empfinden. So trocken herausgesagt, schmeckt das
nach Pedanterie, aber wir sind uns ja der Ursachen
nicht bewußt. Zu wissenschaftlich: nicht nur, weil wir
es in Büchern lesen oder weil wir es in der Natur
beobachten oder weil uns jeder Vorgang des Lebens
darüber belehrt, sondern weil uns die Überzeugung
oder besser ausgedrückt die Anschauung in Mark und
Knochen sitzt, daß alles, was da atmet, wird und
wächst, ein und demselben Gesetz gehorcht, daß ein
Band der Liebe sich um alle Wesen schlingt, ein Trieb
der Zeugung, ein Wille, Schöpfer zu sein, den Tod
zu besiegen, alle und alles bis ins Innerste durchdringt.
Zu historisch darum, weil unser Geist in keinem Fall
berauscht und egoistisch am Augenblick hängt, weil
wir voll sind von Vergangenheit, von immanenter Erfahrung,
weil das Geschick einzelner sowohl wie
ganzer Geschlechter, ja der ganzen Gattung beständig
und ohne daß wir dessen gewahr werden, zu uns redet
und unsere eigenen Wege deutet. So wenig uns ein
Gewitter in abergläubische Furcht versetzt, so wenig
also wird uns das Ereignis großer Liebe wunderbar
dünken; beides kommt ja aus der Natur, beides ist im
Entstehen und Vergehen gegründet. Nun jedoch tritt
das Seltsame ein: Im Großen, in allem Katastrophalen
der Existenz haben wir aufgehört, Wunder und Begünstigung,
Geheimnis und persönliche Verschuldung
zu erblicken; im Kleinen aber, im Alltäglichen des
Tuns und Betrachtens wird uns ein jedes Ding verwunderlich.
Höchst bezeichnend ist es, dies Wort: sich
wundern. Wir verwundern uns eigentlich unaufhörlich.
Es erstaunt uns der Wurm, es erstaunt uns der
Sternenhimmel, es erstaunt uns der Apfel, es erstaunen
uns Berg, Strom und Wasser. Es erstaunt uns der
Bettler und es erstaunt uns der reiche Mann, es erstaunt
uns der Mörder und es erstaunt uns der Dichter,
es erstaunt uns der Tapfere und erstaunt uns der Feigling.
Das macht, weil wir in allen diesen die Notwendigkeit
entdeckt haben, das Gefühl für die Unbedingtheit
ihres Seins und damit in letzter Linie die
Schönheit, die ihnen eigene Form der Schönheit. Wie
ehedem von einem Pantheismus könnten wir von
einem Panhumanismus sprechen oder besser von einer
Allwesenheit. Es ist uns alles menschlich geworden,
kreatürlich geworden, – zugehörig. Daß sich dadurch
die Quellen der Freude um ein Unermeßliches vermehrt
haben, ist klar, und das Reich der Schönheit
ist, wie Christus vom Reich Gottes sagte, in uns. Das
Reich der Liebe auch. Und wenn wir nun die ganze
Welt dermaßen in uns haben, wenn unsere Sinne sie
unaufhörlich besitzen, so folgt daraus doch für die
Sinne selbst, daß sie auf ein Begrenztes, auf ein Gehaltvolles,
auf ein Zweck- und Zielvolles gewiesen sind,
daß sie mutiger, sicherer und stolzer geworden sind
und daß ihr unentbehrlichster Verbündeter, weil sie
von Anschauung, von Ahnung, von Begreifen, von
Andacht, von Weltgefühl genährt werden, die Phantasie
ist. So ist es auch in der Liebe. Die Sinnlichkeit
ist darum nicht mehr auf den Körper beschränkt, sie
will nicht erobern und nicht verführen; von galanten
Künsten braucht sie überhaupt nichts zu verstehen,
denn sie sucht nichts weiter als Übereinkunft. Sie
überlistet nicht, weil sie wertet; sie enthüllt nicht den
Leib, sondern die Seele, ja, sie ist ganz und gar auf
solche innere Enthüllungen angewiesen, und eine
Form gibt ihr nichts, wenn der Form nicht ein Inhalt
entspricht. Eifersucht ist ihr deshalb ein unfaßbarer
Begriff, denn gerade die Einmaligkeit, die unwandelbare
Gesetzmäßigkeit, darauf beruht sie. Es ist keine
Regung in ihr, die nicht, mit einem Wort gesagt, auf
Verständigung beruhte. Damit sind wir wiederum bei
der Phantasie angelangt, denn Verständigung hat ja
keine andere Wurzel als die geistige Macht des Menschen,
die Phantasie.«
»Sie springen etwas willkürlich mit der Phantasie um,
mein Bester«, bemerkte Faustina kühl.
»Tu ich das? In der Tat, ich schreibe der Phantasie
eine weitaus größere Rolle zu als es sonst geschieht.
Erst mit ihrer Hilfe sind wir fähig, die Seelen anderer
Menschen zu erfassen. Viele Eigenschaften, die man
nur zu leicht als Laster anzusprechen geneigt ist, sind
lediglich in einem Mangel an Einbildungskraft begründet.
Der Geizhals, der Hoffärtige, der Grausame,
der Nörgler, der Denunziant, der Selbstzufriedene, der
Gottesleugner usw. was sind sie anders als Phantasielose
oder – Phantasten, was beinahe das selbe ist. Gewisse
Worte müßten uns töten, wenn nicht die Einbildungskraft
wäre, die sie zu Luft und Schall zerstieben
läßt. Haben Sie das nie erfahren, Faustina?«
»Ich hab’s erfahren, wahrlich.«
»Und gäbe es Verzeihung für erlittene Beleidigungen
ohne die Phantasie? Nein. Der Mensch ist rachsüchtig,
die Phantasie veredelt diesen Impuls. Ein solcher
Mensch ist nun nicht mehr lasterhaft. Man kann getrost
sagen: wer echte Phantasie besitzt, der ist tugendhaft.
Wenn Sie nun der Sinnlichkeit die Phantasie
nehmen, was bleibt dann übrig? Wenn ich liebe, und
mein sinnliches Verlangen ist ohne Phantasie, so bin
ich wie einer, der in absoluter Finsternis gefangen ist,
ja, es ist möglich, daß ich dadurch dem Wahnsinn
verfalle. Erst durch die Phantasie erhält meine Begierde
die Weihe, die Süßigkeit, die Schönheit, den Mondglanz
der Bezauberung und jenen Tropfen von Melancholie,
ohne den eine Leidenschaft nicht beseelt erscheint.
Sinnlichkeit ohne Phantasie ist nichts als der
traurige Zweikampf zweier Wesen, die einander unbewußt
zu vernichten trachten. Freilich, es gibt im
Leben nicht bloß das eine oder das andere; die Leiden
und Irrungen, die ein unvollkommener Zustand mit
sich bringt, bleiben schließlich wenigen erspart. Wie
oft sieht man Eheleute oder Liebesleute im Streit!
Wie manche Ehe, die durch die Liebe getragen schien
und nur noch durch Gewohnheit und bürgerliche
Rücksichten befestigt ist, schleppt sich mühselig hin
unter Hader, Zank und Mißverständnissen! Männer,
sonst gerecht und vornehm, Frauen, sonst zärtlich und
nachsichtig, vergessen sich; sie werden zu Tieren, die
auf einander Jagd machen, sich einander Wunden zufügen,
harte Worte wählen, Worte wie geschliffene
Messer, mit übertriebenen Beschuldigungen die Achtung
untergraben, die jeder vom andern billig verlangen
muß, und ohne die Haltung sind, die sie auch
dem Gleichgültigen gegenüber zu wahren wissen. Es
sind das häßliche Szenen, und häßlich sind sie, weil
solche Menschen aller Phantasie bar sind, weil sie
nicht vermögen, die Armseligen, über den Augenblick
hinauszudenken, weil der Augenblick in ihnen stärker
ist als das Herz, als das Schicksal, als Tod und Ewigkeit.
Ja, so sind die Phantasielosen, sie leben nur von
Augenblick zu Augenblick, sie schwingen nur in den
Intervallen, der Augenblick selbst ist ihnen nichts.«
»Das alles ist mir zu allgemein«, sagte Faustina. »Teils
zu allgemein, teils zu kategorisch. Ich kenne Verhält
nisse,
deren Beschaffenheit mit der Phantasie gar nichts
zu tun hat, oder ich müßte den Begriff der Phantasie
zu weit ausdehnen. Nehmen Sie an, eine geistig bedeutende
Frau liebt einen Gimpel; oder ein Mann von
Genie liebt eine gewöhnliche Gans. Das kommt doch
häufig genug vor, sollt ich denken. Und wie einfach
sind diese Beziehungen, mein Gott, wie einfach. Ihr
A und O ist eine natürliche Sinnlichkeit, und bieten
sie nicht meist größere Gewähr für ein dauerndes
Glück als jene feinnervigen Bündnisse, in denen doch
alles auf Eigenschaften gestellt ist, und nicht auf das
Ganze der Kreatur? Man muß einander nicht gar zu
gut verstehen in der Liebe; ein wenig Fremdheit tut
not. Wir Leute, wie wir da sind, wir verstehen einander
zu gut und mißverstehen uns deshalb so oft.
Den Leibern, finde ich, ist die allzugroße Vertrautheit
der Seelen von Übel. Sie verletzt die Schamhaftigkeit.«
»Die Schamhaftigkeit? Inwiefern?«
»Das leidet gar keinen Zweifel. Je größer die seelische
Verfeinerung wird, je größer wird auch die Schamhaftigkeit.
Es ist ein heikles Thema, und irgendein
Schriftsteller meint mit Recht, daß es schon schamlos
sei, über die Schamhaftigkeit zu sprechen oder was
jemand darüber sagt, anzuhören. Je tiefer man in den
andern hineinschaut, je mehr ist man geneigt, das, was
in ihm vorgeht, zu überschätzen, je mehr fürchtet man
den andern oder fürchtet sich selbst, je mehr versteckt
man sich, ja ich habe es erlebt, daß solche Menschen
aus lauter Zartfühligkeit und Hellseherei sich die Möglichkeit
harmlosen Daseinsgenusses untergruben.«
»Aber was hat das mit der Schamhaftigkeit zu tun?«
»Sehr viel! Wenn die dunklen Zustände und Vorgänge
in der Brust dermaßen ans Licht gezerrt werden, daß
der Mensch sozusagen in sich selber kein Heim mehr
hat, wo er sich mit seinem Verschwiegensten bergen
kann, so muß ihm doch allmählich dabei zumute
werden, als ob man ihn entblöße und an den Pranger
stelle. Ich, ich für meinen Teil, fühle mich durch das
beständige, wachsame Verständnis eines andern, und
sei er das geliebteste Wesen, ganz und gar an den
Pranger gestellt, und ich sage Ihnen auch, daß mir
jene Frauen, die man unverstandene zu nennen beliebt,
mir, mir für meinen Teil, immer nur schamlos erschienen
sind. Das wären die einen. Dann sind jene,
bei welchen die Schamhaftigkeit sich ins Krankhafte
steigert und die in einer so dünnen Luft leben, daß
ihnen das gesund Sinnliche zum Ekel wird. Ich hatte
einst eine solche Unglückliche zur Freundin; sie war
die schamhafteste Natur, wurde aber bisweilen von
einem förmlichen Enthüllungswahn verfolgt, und indem
sie sich preisgab, unterlag sie einem Zwang, der
sie etwas ausüben hieß, was ihrem wahren Wesen
gerade entgegengesetzt war. Da war kein Halt, keine
Haltung, und als sie eines Tages liebte, versagte sie
sich dem betreffenden Mann, weil sie überzeugt war,
daß er nur ihren Körper liebte und nicht die Seele.
Ist das nicht schauerlich? Ein einziges, grobes Mißverständnis
des Lebens?«
»Freilich; es gibt Frauen genug, die in dieser Hinsicht
einem unheilvollen Irrtum und Unbegreifen verfallen
sind«, erwiderte ich. »Der unheilvollste Irrtum, den
sie begehen können, ist aber, wenn sie aus ihrer Art
der Schamhaftigkeit und deren Überwindung einen
Begriff der Treue folgern, der für sie Gesetz und Notwendigkeit,
für den Mann aber eine Freiwilligkeit ist.
Diese Freiwilligkeit wieder einer höheren Notwendigkeit
unterzuordnen, das ist die Tat des liebenden
Mannes, eine Handlung, die von seiner Kultur, von
seiner Selbstbeherrschung, von seinem Schönheitsempfinden
abhängt. Die Frauen besitzen nur die
Scham des Geschlechts; die Keuschheit einer Nonne
und die Verderbtheit einer Dirne sind nur verschiedene
Wirkungen ein und derselben Kraft, ähnliche Zustände
mit verschiedenen Hemmungen. Dem Mann
ist eine andere Schamhaftigkeit eigen, eine übersinnliche,
ich möchte sie die Scham vor Gott nennen, und
er kann sie nur verlieren, wenn er sich selber vor Gott
verliert. Wir haben demnach das Schauspiel eines beständigen
Krieges zweier dem Grund und der Beschaffenheit
nach völlig unähnlicher Arten der Schamhaftigkeit,
und während eine Frau die ihre sozusagen
wörtlich nimmt, sie trägt oder abwirft wie man ein
Kleid trägt oder abwirft, verheimlicht der Mann die
seine, denn ihm ist sie nur ein Symbol. Niemals darf
die Frau sich einfallen lassen, das Symbol in die Wirklichkeit
zu zerren, etwa eine Forderung daraus zu
machen.«
»Das sagt – ein Mann!« rief Faustina. »Ich muß Sie
schon sehr hoch einschätzen, lieber Freund, wenn ich
das nicht anmaßend finden soll. Klipp und klar gesprochen
heißt das doch: die Liebe des Weibes ist
eine Realität, die des Mannes ein Symbol. Oder
nicht?«
»Ausgezeichnet formuliert, Faustina.«
»Na, schön. Ich will dagegen nicht streiten, weil es
ins Grenzenlose führt. Ich sehe nur so viel, die tägliche
Erfahrung beweist es mir, daß diese Realität keinen
Bestand und dieses Symbol keine Bedeutung hat.
Flausen, Flausen, nichts als Flausen! Bester Freund,
sperren Sie mich doch nicht ein für allemale in die
Rumpelkammer der ›Realität‹! Denken Sie daran, daß
auch ich geliebt habe! Ja, wirklich, wirklich geliebt!
Beweisen kann ich nicht, daß es mehr war als ein
Irdisches, Erdgebundenes, an Zweck und Zeit und
Augenschein Gebundenes, aber dafür kann ich beweisen,
daß der andere, der Partner im Spiel, keinen
Einsatz wagte, der die Mühe verlohnte zu kämpfen,
beweisen kann ich, daß seine Liebe – und er liebte –
nur unzulänglich war, also nicht bis zu dem Punkt
reichte, wo eine symbolische Kraft das Flüchtige des
Lebens festhält. Aber weshalb so hohe Worte? Napo-
leon
tat auf Sankt Helena den ungeheuerlichen Ausspruch:
Ein solcher Schurke kann kein Mann sein als
ich von ihm glaube, daß er einer ist. Fast jede Frau
kann dasselbe von ihren Erfahrungen in der Liebe
sagen, vorausgesetzt, daß sie nicht ein blindes Tierchen
ist. Ihrer Methode gemäß werden Sie mir wahrscheinlich
entgegenhalten: du hast eben nicht zu wählen verstanden.
Ja, um Gottes willen, wenn der sich nicht
bewährt, den ich als den besten erkenne, wozu schlägt
dann mein Herz, warum denke und fühle ich dann?
Entweder muß ich demnach mein Leben in der Wurzel
verneinen oder Ihre ganze Weisheit wird mir zum
Sophisma. Da ist ein Mann, der mich anbetet; es erscheint
mir zweifellos, daß ich ihm viel, daß ich ihm
alles bin, ich ergebe mich, verbünde mich ihm, und
da muß ich entdecken, daß er nur zu werben versteht,
zu besitzen, den Besitz zu verteidigen, zu bilden, zu
erhöhen, dazu ist er nicht fähig. Oder ein anderer Fall:
da ist ein Mann von Geist, Gemüt, Talent, aber er
lebt in tiefem Elend. Das Mitleid nähert mich ihm, es
gelingt mir einen wahren Sturm der Energie in ihm zu
entfesseln, die Liebe zu mir trägt ihn empor, das
Schicksal begünstigt ihn, aber er kann es nie verwinden,
daß diejenige, die er liebt, auch seine Helferin
war, er selbst gesteht mir seine Scham und alles scheitert
an einer Grille.«
»Und was taten Sie?«
»Was sollt ich tun? Ich ließ ihn seiner Wege gehen.
Ist es etwa diese Scham, die Scham, nicht mehr der
Mächtige zu sein, die Sie symbolisch nennen?«
»Der Mann hatte vielleicht nicht viel zuzusetzen, deshalb
raubte diese Scham seiner Liebe die Kraft«, antwortete
ich. »Es kommt nur darauf an, was einer zuzusetzen
hat, und für den Mann ist in der Liebe tatsächlich
alles nur eine Frage der Macht. Mitleid ist ein
Feind der Liebe, Mitleid zerstört die Gleichberechtigung,
geradeso wie ein ausschließliches ästhetisches
Wohlgefallen; jenes schafft eine zu große Nähe, dieses
eine zu große Ferne. Der Bemitleidete und der Bewunderte
atmen nicht dieselbe Atmosphäre mit demjenigen,
der Mitleid oder Bewunderung hegt, und sie
sprechen nicht in derselben Sprache zueinander. Aber
es gibt Mittel, den Zwiespalt zu überbrücken, und die
Frau ist es, die in dem einen wie im andern Fall ausgleichend
zu wirken vermag, und zwar durch die göttliche
Eigenschaft der Sanftmut. Sie, Faustina, sind
nicht sanft genug.«
»Nicht sanft genug! Das wurde mir schon einmal
gesagt. Wenn ich sanft wäre, wurde gesagt, hätte ich
weniger Anlaß, mich über das Leben zu beklagen.«
»Oder über die Liebe. Das ist meine Meinung.«
»Sanftmut! Die schätzbare Gabe, stumm zu bleiben,
wenn man getreten wird, und nur zu seufzen, wenn
das Herz bricht, die nennt man Sanftmut, die nennen
die Männer Sanftmut. Und weil sie ihnen die bequemste
Eigenschaft am Weibe ist, darum wird sie
gepriesen. Wer aber Augen hat und sieht, und vieles
sieht, und Blut, das sich erhitzt, und eine Faust, die
sich ballen muß, der kann nicht sanft sein.«
»Gemach, Faustina. Sie erinnern mich ein wenig an
den Knaben, den man fragte, wer tapfer zu heißen sei,
und der darauf entgegnete, tapfer sei, wer nicht davonlaufe.
Sanftmut ist nicht Nachgiebigkeit, nicht Unterwürfigkeit,
nicht Schweigsamkeit. Sanftmut ist der
Ruhe des Feldherrn zu vergleichen, oder der Besonnenheit
des Künstlers. Sie ist nicht eine Schwäche, sondern
eine Kraft. Sie ist in der Liebe die eigentliche Kraft
des Weibes, ihre Waffe wie ihr Schutz. Sie ist nicht
an ein bestimmtes Temperament gebunden, dem cholerischen
kann sie gegeben, dem melancholischen kann
sie versagt sein. In jedem Tun und Lassen drückt sie
sich aus: in der Freude, in der Angst, in der Trauer
und im Schmerz, im Blick und im Schritt. Sie ist
geradezu ein Rhythmus des Lebens. Das Lächeln der
sanften Frau ist unwiderstehlich, die sanfte Frau ist
niemals häßlich. Nun ist freilich die echte Sanftmut
beinahe ebenso selten wie die Liebe, und leider muß
man konstatieren, daß sie immer seltener wird, je mehr
die Erregbarkeit der Nerven wächst, je mehr auch die
Frauen von Liebe und über die Liebe wissen, und je
weniger sie Liebe fühlen. Denn die Liebe der Frau ist
hauptsächlich auf ein Elementares, auf ein Unbewußtes
gestellt. Da gibt es Frauenrechte und Frauenberufe,
man bildet Körperschaften und veranstaltet Versamm-
lungen.
Dabei mag viel Nützliches entstehen, aber für
die Sanftmut ist alles zu fürchten. Haben Sie nie den
Unterschied bemerkt zwischen dem Geschmack einer
Birne, die frisch vom Baume kommt, und einer solchen,
die schon unter vielen andern Birnen auf dem Speicher
gelegen war? Ein solcher Unterschied herrscht zwischen
der Frau als Einzelwesen und der Frau, die sich
sozial betätigt.«
»Sie mögen ja recht haben«, antwortete Faustina. »Aber
am Birnenbaum hängen viele Birnen. Sollen die Birnen
also warten, bis die Leckermäuler anspazieren, um die
schönsten zu verspeisen? Die übrigen können warten;
sie müssen verfaulen und ins Gras fallen, wie? Um
der Sanftmut willen. Danke schön. Wir haben nicht
Konsumenten genug, wir armen Birnen, wir müssen
unterzukommen trachten. Ihr wollt uns rein, ihr wollt
uns engelhaft, ihr wollt, daß jede sich für einen Messias
aufspare, aber ihr, ihr wollt nichts entbehren,
keinem Gelüst die Befriedigung vorenthalten, keinem
Appetit die Stillung. Und der Messias, der sich schließlich
bei uns einstellt, ist entweder ein alberner Fant,
der nicht weiß, was er in Händen hält und seinen
blinden Jünglingsrausch austobt, oder ein kritischer
Herr, der sich wieder trollt, wenn das Birnchen einen
Flecken hat.«
»Das ist wohl wahr, Faustina, praktisch genommen
ist es wahr, und daß ihr Grund habt, euch selbst zu
schützen, kann nur einem Dummkopf verborgen blei-
ben. Jedoch von einer höheren Zinne betrachtet, liegen
die Dinge anders. Die Natur will nicht, daß man ihr
zuvorkomme. Sie will nicht, daß ihr heiligstes Gesetz,
das Gesetz der Auslese, umgestoßen wird, und wenn
es trotzdem geschieht, rächt sie sich durch die Hervorbringung
lebensuntüchtiger Geschöpfe. Ist Ihnen bekannt,
daß zum Beispiel unsere Jagdvorschriften der
Rassigkeit und Widerstandsfähigkeit des Wildes, besonders
des Edelwildes, erheblichen Abbruch tun?
Wir haben Frauen, die gezwungen sind, einen Beruf
zu ergreifen; ohne Pathos tun sie es, verdienen ihr
Brot; andere sind mit Intelligenz und Scharfsinn am
Werk, um soziales Elend zu mildern. Wer hätte dagegen
etwas einzuwenden? Das Schicksal des Individuums
wird mir immer Teilnahme einflößen, ob
es eine Nähmamsell oder eine Fürstin ist; Massenbestrebungen
aber, wenn sie der unmittelbaren
Leidenschaft des Erlebnisses entbehren, lassen mich
natürlich kalt. Das Wesen der Frau deutet mehr als
das des Mannes auf Vereinzelung; ich habe immer
gefunden, daß die edlere Art der Frau sich nur kraft
dieser Vereinzelung bewahrte, und daß sie sich zur
Vervollkommnung der Rasse gar nicht teuer genug
bezahlen läßt.«
»Und wenn dem so wäre,« versetzte Faustina, »was
hülfe es? Ist denn die Frau nicht immer willfährig zum
Besten, wo der Mann das Beispiel edler Initiative
gibt? Was frommt aber der Natur, was hilft selbst
Gott das Gesetz der Auslese, wenn ihm das Gesetz
der Trägheit entgegensteht?«
»Der Trägheit ... Schon vorhin haben Sie das Wort
gebraucht. Sie sagten Trägheit des Herzens.«
»Ja. Trägheit des Herzens.«
»Trägheit des Herzens ist eine von den sieben Todsünden,
soviel ich weiß.«
»Sie ist die einzige Todsünde, die es gibt.«
»Sie verbergen also einen großen Sinn dahinter, so
etwas wie eine Idee.«
»Einen großen Sinn, da haben Sie recht, einen schmerzlichen
Sinn. Das Gute, das ich will, das tue ich nicht,
sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich, heißt
es in einem Brief des Paulus an die Römer. Da ist ein
Erkennen: das Gefühl trotzt dem Erkennen, beharrt
auf dem falschen Weg; oder da ist ein Gefühl, ein
großes, ein wahres; und doch, es läßt sich betrügen,
es läßt sich verwirren durch Rede und durch Denken.
So entsteht Trägheit des Herzens, und ist selber
noch ein Tieferes, Schwereres, Dunkleres, Schuldigeres.
Es gab Zeitläufte, wo die Menschen mehr
ihren Trieben untertan waren, barbarische, kriegerische,
im großen und ganzen auf eine Sache, auf ein
Ziel gestellte Zeiten. Da konnte Trägheit des Herzens
für eine Sünde gleich andern gelten, gleich Geiz oder
Neid oder Habsucht. Heute ist der Mensch zur
Rechenschaft gezogen, heute ist jeder sich selbst verantwortlich.
Sie sagen es selbst, nicht die Religion,
nicht Himmel und Hölle darf er zur Ausrede und Ausflucht
machen, in seiner Brust muß er sein Schicksal
suchen. Da wird Trägheit des Herzens zur Kardinalsünde,
und wie es nun ist, diese Sünde liegt auf uns
allen wie Gewitterlast. Fordern Sie Beispiele? Wo soll
ich anfangen? wo enden? Vorübergehen, wenn die
Stimme des Gemüts zum Bleiben mahnt, bleiben, wenn
sie verlangt, daß ich weitergehe; die Augen schließen,
wenn es gilt zu sehen, und schweigen, wenn es gilt,
Partei zu nehmen; urteilen und verdammen, wenn vieles
davon abhängt, zu schweigen und Milde zu üben; den
reinen Sinn betäuben, den unreinen zu falscher Tat
stacheln; Zwecke wollen, wo keine sind; nach Gerechtigkeit
streben und der Liebe vergessen; Liebe
beanspruchen, ohne sie zu geben; genießen wollen
und nicht bezahlen; von Gott reden und den Teufel
im Innern füttern; Ideale aufrichten und einen armen
Schuldner vor Gericht zitieren; in Musik und Dichtung
schwelgen und vor den kleinen Menschenpflichten
die Flucht ergreifen; Freundschaft preisen
und den Freund verleugnen; Philosoph sein und den
Dienenden mißhandeln; den Genius herbeiwünschen
und, wenn er sich zeigt, ihn schmähen und in den Kot
zerren, alles dies, all dies Vergessen, all dies Wissen
und Nicht-Tun ist Trägheit des Herzens. Ach, wie
schön ist das Herz! zu wie vielem fähig! wie viel vermag
es! Und Liebe, das Herz des Herzens, wie wird
sie mißachtet, mißbraucht, vergewaltigt und zertreten!
Wie ummauert sind alle Herzen, wie wenig mag ein
jedes sich verraten, und wie schnell und bereitwillig
das des anderen! Wir reden da von Liebe, von Liebe,
und wo ist sie, die Liebe? Ein Symbol soll sie sein,
ein seltenes Phänomen, ich aber möchte sie haben,
sehen möchte ich sie! Zeigen Sie mir einen Liebesbegeisterten,
zeigen Sie mir einen Verschwender der
Liebe! Die Liebe, von der ich weiß, war immer nur
ein zartes Pflänzchen, es ertrug die Lebensstürme
nicht, versteckte sich vor der Sonne und kroch in
labyrinthisch verschlungene Tiefen, weltabgewandt,
der Nacht zugewandt. Ich fragte einmal einen Mann,
ob seine Geliebte schön sei. Schön, das könne er nicht
behaupten, sagte er, aber alles an ihr sei charakteristisch.
Ei, erwiderte ich ihm, Sie sind ein ganz famoser Zeitgenosse.
Charakteristisch! Ein niedliches Wort! Man
müßte es in eiserne Lettern gießen und auf den Schandpfahl
des Jahrhunderts nageln. Alles ist so charakteristisch,
so individuell, so besonders, so künstlich, so
ins Kleine zerspalten, ins Geistige verdünnt, so scheu,
so furchtsam, so wissend und so unsicher in jeglichem
Gefühl. Was ist da um Gottes willen noch zu hoffen,
Freund! Was kann ein volles Herz noch für sich
hoffen? Es gibt nur eines; nur eines gibt es: sich bescheiden.«
»Es gibt noch ein zweites, Faustina, ein größeres.«
»Und das wäre?«
»Die Freude an der Erscheinung. Beklagenswert ist
allerdings der Druck, unter dem wir leben, das seltsam
fatalistische Dahinrasen. Das Dasein wird immer
scheinhafter, seine kurze Dauer wird uns immer
schmerzlicher bewußt, und wer Sinn und Liebe sucht,
kann wohl in ungemessene Verzweiflung stürzen,
wenn ihn dies eine nicht rettet: zu schauen. Dem
Schauenden enträtselt sich die Welt; ihm entwirrt sich
jedes Dunkel; er legt seine Hand auf Gräber und sie
werden zu Altären, er wandelt durch Schneegestöber
und er spürt den Frühling, er ist verlassen von den
Freunden und er lebt mit der Menschheit. Daß die
Dinge da sind, daß ich sie besitze, daß Schöpfer und
Geschaffenes mein sind, daß das Leben, soweit es
denk- und fühlbar ist, in mir steckt, daß es nichts gibt,
nicht das kleinste Denk- und Fühlbare außerhalb des
Lebenskreises, und daß mir das Ungeheure wie das
Unscheinbare, Hohes und Niedriges, der Festzug des
Kaisers und das Vorüberflattern eines Schmetterlings,
daß mir Schönheit und Häßlichkeit, Liebe und Haß,
Selbstentäußerung und Trägheit des Herzens, daß mir
alles dies zur Erscheinung wird, das kann mich retten.«
»Mit einem solchen Quietismus will ich mich nicht
beruhigen«, antwortete Faustina düster.
»Wenn das Quietismus wäre, dann wäre der Erdball
nicht mehr imstande, seine Bahn um die Sonne zu
laufen. Glauben Sie doch nicht, Faustina, daß ich mich
damit freispreche von menschlichem Tun oder mich
des mitstrebenden Herzens entledigen wollte. Es ist
kein künstlerisches, kein ästhetisches Prinzip, sondern
durchaus ein religiöses, durchaus ein göttliches. Wie
in der Liebe durch ein höchst instinktives und beseligtes
Erkennen Vorzüge und Fehler des andern zu
einem anbetungswürdigen Bild vereinigt werden, so
und nicht anders ergeht es dem Schauenden mit der
Welt. Er hat alles innen; alles was außen ist, hat er
innen; ihm ist nichts verloren, ihm ist alles gegenwärtig.
Er gibt sich hin, er gibt sich aus, aber er wirft
sich niemals weg, denn wie er das Leben besitzt und
wie er Gott besitzt, so besitzt er sich selbst. Und das,
Faustina, ist das Große: sich selber besitzen. Dann
besitzt man auch die Welt, dann besitzt man auch die
Menschheit; die andern, die sich zu jeder Stunde wegwerfen,
die besitzen nichts und niemanden. Nur die
Erwartung der Liebe täuscht sie mit der Hoffnung auf
Besitz.«
Faustina hatte den Kopf abgewandt und schwieg. Eine
lange Zeit verging im Schweigen und die Freundin
hielt beständig den Kopf abgewandt. Die gesprochenen
Worte erzeugten eine doppelte Stille. Es war weit
über Mitternacht, als ich mich zu gehen anschickte.
Mit starrer Miene reichte mir Faustina die Hand. Sie
sah mich an, und wundersam, ihr Auge war voll Frage
wie das eines kleinen Mädchens.
Sehr gern hätte ich Faustina wiedergesehen, aber als
ich zwei Tage später in die Wohnung kam, wurde
mir gesagt, daß sie abgereist sei.
Der Literat
Geschrieben 1909
Der Literat, ein geheimnisvoll beschlossenes Wesen,
hat der Kultur unserer Zeit seinen unverwischbaren
Stempel aufgeprägt. Ja, man könnte sagen,
daß alles, was sich heute gemeinhin unter dem Titel
Kultur begreift, ein Werk des Literaten ist.
Was ist ein Literat? Die nachfolgenden Untersuchungen
wollen diese Frage beantworten; sie wollen
die Art und die Wirkung des Literaten, die Bedingungen
seines Lebens, die Fundamente und Ziele
seines Geistes mit Hilfe einiger typisierter Charaktere
erforschen.
Die damit aufgestellten repräsentativen Figuren werden
sich natürlich in der Wirklichkeit kaum so unterschieden
und formelhaft finden lassen; das Leben gibt
Mischungen. Man wird im Psychologen viel vom Tribun,
im Dilettanten viel vom Psychologen, im Apostel
viel vom Schöngeist nachweisen können. Auch ist es
möglich, daß in einer einzigen Person die Elemente
von mehreren jener Typen stecken, daß Schöngeist
und Psycholog, oder Dilettant, Tribun und Apostel
vereinigt sind. Sogar im schöpferischen Menschen
sind Züge des Literaten vorhanden, vielleicht hat die
moderne Zeit überhaupt keinen schöpferischen Men-
schen
hervorgebracht, der davon ganz frei wäre. Beim
Literaten werden aber die bezeichneten Eigenschaften
von einem jener Repräsentanten immer in bestimmter
und auffallender Art zur Erscheinung gelangen, und
die Besonderheit und das wechselnde Ausmaß der
Mischung sind dazu angetan, ihm in seiner menschlichen
und künstlerischen Wirkung das Interessante,
reizvoll Problematische und Unergründliche zu verleihen.
Der Literat als Dilettant
Eine Kunst aus Liebe zur Sache üben, das macht
den Dilettanten in der edlen Bedeutung des Wortes.
Der Dilettant und der Künstler unterscheiden sich
vielleicht nur durch die Konsequenz eines leidenden
Zustandes, welcher den Künstler im Bereich seiner
Kunst gefesselt hält, während der Dilettant frei bleibt.
Der Künstler ist gefesselt, nur seine Sehnsucht, das
Vermögen seines Geistes, sich mit allen Dingen dieser
Welt zu identifizieren, macht ihn scheinbar frei. Beim
Dilettanten ist es umgekehrt. Der Dilettant identifiziert
sich wirklich mit den Dingen dieser Welt, indes
sein Geist gebunden ist. Seine Sehnsucht richtet sich
daher nicht gegen die Welt als gegen etwas, das erobert,
begriffen, gedeutet werden soll, sondern gegen
die Kunst, deren er sich bemächtigen will. Der Künstler
hat die Kunst innen und möchte sich gleichsam ihrer
entledigen im Austausch gegen Göttliches und gegen
ein Stück Welt; der Dilettant hat sie draußen und
wünscht sie zu gewinnen, indem er Welt und Gott
in seinem Innern dadurch zu beruhigen und in Harmonie
zu bringen sucht.
Der Literat als Dilettant hat aber weder Welt noch
Gott noch Kunst in sich selbst. Ihm ist nicht nur die
Kunst ein Äußeres, zu Erraffendes, sondern auch Welt
und Gott. Er tritt leer auf den Plan. Wahrscheinlich
ist er ermüdet von Erlebnissen. Er ist nicht von stark
organisierter Seele, sonst würden geringe Kämpfe nicht
imstande sein, ihn zu ermüden. Er hat einer Schlacht
beigewohnt; in den hintersten Reihen hat er den
Kanonendonner gehört und zugesehen, wie man Verwundete
und Tote vorübertrug. Das hat genügt, ihn
mit Abscheu gegen den Krieg zu erfüllen, ja, er ist der
gründlichste Hasser alles Kriegswesens geworden, ein
Quietist aus Philosophie, da ihn die Beschaffenheit
seines Geistes zwingt, seine Schwäche wie eine Stärke
zu behandeln.
Schon daraus läßt sich schließen, daß er nicht aus
innerer Notwendigkeit am Kampf teilgenommen hat,
sozusagen aus Vaterlandsliebe oder aus Lust am Soldatenleben
oder aus Begierde nach Auszeichnung.
Man hat ihn einfach wie so viele andere Rekruten dazu
ausgehoben, und er war von vornherein ein skeptischer
Soldat, also der schlechteste Soldat, der zu denken
ist. Da man etwas treiben muß in der Welt, ist er
Soldat geworden; nimmt er den Abschied, so ist er,
mit Ausnahme des gewonnenen Ekels und Abscheus,
wieder so leer wie er vorher war, und er weiß nicht
recht, was jetzt beginnen. Er tritt daher nicht nur leer,
sondern auch unentschieden auf den Plan, und weil
ihn kein Muß befehligt, ist er nicht hungrig. Nur
Leute, die unter einem tyrannischen Muß knirschen,
sind hungrig, alle andern sind mehr oder weniger satt.
Er merkt es wohl, daß Hunger dazu gehört, um sich
zu entscheiden: Hunger, Spannung, Sehnsucht, eine
ideelle Begierde. Die Welt, die Menschen, die Erscheinungen
des Lebens erregen seine Teilnahme kaum
oder nur insoweit, als seine Person dadurch berührt
wird. Auf einmal richtet sich seine Begierde, seine
ganze Spannung und Sehnsucht gegen die eigene Person.
Er entscheidet sich ganz und gar für seine eigene
Person, deren er sich bisher, in den hintersten Reihen
der Kämpfenden, nur dumpf bewußt geworden war.
Seine eigene Person enthüllt sich ihm plötzlich als ein
Gegenstand von ungeahnter Wichtigkeit, als ein unentdeckter
Bezirk, von dessen Schönheit und Vorzügen
die übrigen Menschen zu unterrichten jetzt sein
gebieterischster Trieb ist. Alles was er tut, denkt und
empfindet, erscheint ihm erstaunlich, besonders und
in hohem Grade mitteilenswert. Je unbeachteter und
dunkler sein Dasein bis nun gewesen, je mehr drängt
es ihn, sich in einen Mittelpunkt zu stellen. Wie aber
fängt er dieses an?
Er geht mit instinktiver Pfiffigkeit ans Werk. Er
schmückt sich; und zwar schmückt er sich mit seinen
Leiden, mit seinen Erfahrungen, mit einer in auffallender
Weise zugespitzten, verschärften und nachdrücklichen
Meinung über Menschen und Schicksale. Damit
reizt er die Neugierde, und sein Instinkt hat ihn
trefflich geführt, denn Neugierde, in einem gemeinen
wie in einem höheren Sinn, ist der hervorstechendste
Zug der Gesellschaft, aus der er kommt und deren
Mittelpunkt er sein möchte, deren Mittelpunkt der
schöpferische Mensch wirklich ist. Auch der schöpferische
Mensch übertreibt das Bild der Welt, aber
dadurch, indem er es vergrößert, dadurch allein schon,
indem er die eigene Person aus seinem Werk ausschaltet
und an dessen Stelle etwas setzt, was ich fiktive
Persönlichkeit nenne. Dem schöpferischen Menschen
ist seine Person nur ein Vorwand, ein Ausgangspunkt,
der Literat als Dilettant sieht in ihr die
Essenz und das Ziel. Der schöpferische Mensch ist
einsam, von Natur und durch Bestimmung; dennoch
lebt er unter den Menschen, weil die Menschheit ihm
ein unentbehrliches Element ist, durch welches er
leidet, weil er geboren ist, um zu leiden, weil das Leiden
derjenige Seelenzustand ist, der ihn befähigt zu
schaffen. Der Literat als Dilettant ist niemals einsam;
je weniger, je mehr er bei sich und in sich selber steckt.
Er stellt sich abseits, um in der künstlichen Einsamkeit
einen Ersatz für die natürliche des schöpferischen
Menschen zu gewinnen; er schmückt sich mit Einsamkeit,
und auch dies ist ein Mittel, um Neugierde zu
erwecken. Die Menschen sind ihm entbehrlich, obgleich
er sie sucht; er ist der Menschen überdrüssig
und satt, nur seiner eigenen Person wird er niemals
satt, sie erscheint ihm stets interessant, begehrenswert,
wichtig und ausgezeichnet. Nicht durch die Menschen
leidet er, sondern durch sich selbst, und je nach Rang
und Art seines Geistes und Charakters in allen Graden
und Möglichkeiten; angefangen von unerfüllten
Ansprüchen niedriger Sorte bis zum Durst nach Stillung
eines bedeutenden Ehrgeizes.
Dieser Ehrgeiz ist sorgfältig zu trennen von dem, was
die Griechen Ruhmsucht genannt haben, als welche
ein übersinnliches Verlangen und in ihren Wurzeln
mit dem Unsterblichkeitsgedanken identisch ist. Der
Ehrgeiz hat nichts mit Anonymität zu tun, der Ehrgeizige
gibt sich nicht grenzenlos und unbedingt hin
wie der Ruhmsüchtige, er löst sich nicht auf in der
Idee; er leitet seine Sache, er steht vor seinem Werk,
er ist immer der Herr, immer sichtbar, und sein
Name umflammt seine Tat wie ein Programm. Die
antik-heroische Eigenschaft der Ruhmsucht ist den
modernen Zeiten und Menschen fast abhanden gekommen.
Vielleicht ist darum unsere Kultur, oder was
wir mit diesem Namen bezeichnen, so zerstückt,
brüchig und disharmonisch, weil sie völlig auf einzelnen,
auf »namhaften« Trägern ruht. Jede wahre
Kultur setzt Anonymität voraus.
Der Literat als Dilettant verabscheut die Anonymität,
denn tritt er ohne seinen Namen auf, so ist es, als
wenn ein General ohne Uniform zu Hof ginge. Durch
seinen Willen getragen, von seinen Zwecken befehligt,
abhängig von der Gunst der Menschen und der Umstände
und somit von dem, was die Gesellschaft den
Erfolg nennt, kann er in keinem Fall auf äußere Be-
stätigungen verzichten, und die edle Selbstvergessenheit
des lediglich von der Sache erfüllten schöpferischen
Menschen ist ihm fremd bis zum Unbegreiflichen.
Doch sehen wir von jener höchsten Selbstvergessenheit
vorläufig ab, die nur eine ideale Annahme sein
mag. Der Ehrgeiz des Künstlers würde auch dann in
Kraft treten, wenn dieser Künstler auf einer einsamen
Insel lebte, denn sein Ehrgeiz ist der Ruhmbegierde
insofern verwandt, als er von dem Bestreben, das Werk
zu möglichster Vollkommenheit zu führen, nicht zu
trennen ist. Der Literat als Dilettant hingegen ist besessen
von der Sucht nach der Prämie. Eines seiner untrüglichsten
Kennzeichen ist, daß er der Selbstkritik ermangelt.
Selbstkritik ist das Vermögen zu vergleichen.
Der Literat als Dilettant kann sich nur mit sich vergleichen,
aus diesem Grunde erscheint er sich bald überklein,
bald übergroß, da sein einziger Spiegel nur das
eigene, beständig schwankende, beständig wechselnde,
niemals ruhende, losgelöste und isolierte Ich ist. Er kann
seine Arbeit nicht allgemein an Arbeit und Leistung
messen; nur an sich selber kann er sie messen, an den
verbrachten Stunden, gefühlten Anstrengungen; seine
Intensität zu sein und zu schaffen dünkt ihm die stärkste
überhaupt erreichbare, und ein solches Bewußtsein genügt
ihm, um alle Erinnerungen an Qualität auszulöschen
oder zu trüben. Im Grunde seiner Seele hält er
die höhere Geltung, welche die Meisterwerke genießen,
für einen Zufall, wenn nicht für Schlimmeres; auch jedes
Gelingen hält er für einen Zufall, da ihm entweder
das Talent zu inspirieren oder das Talent zu administrieren
im Gegensatz zum elementaren Künstler fehlt.
Wer ohne Selbstkritik ist, hat zu keinem Ding eine
wahrhafte Distanz; so betrachtet er alle Künstler als
seine Kollegen, und das unterscheidende Merkmal zwischen
ihm und ihnen besteht nur in der Tatsache der
größeren oder geringeren Prämie. Wohl vermag er zu
bewundern, aber seine Bewunderung ist von persönlichen
Vorbehalten niemals frei; er gibt sich nicht hin,
er will insgeheim profitieren, er will denen, die die
höhere Prämie erhalten haben, den Handgriff absehen,
und das scheint ihm ausführbar, weil er die Distanz
nicht kennt. Die Prämie, nach der er strebt, kann er
nie erhalten – ein Kater zeugt nicht Löwen. Er aber,
der da wähnt, alles Vierbeinige sei letztlich von gleichem
Rang, dem die Art und die Natur der Löwen
völlig fremd sind, weil er in einem ganz anderen Klima
lebt, muß notwendigerweise zu der Überzeugung gelangen,
daß er das Opfer einer Ungerechtigkeit sei;
die Vergeblichkeit seiner Forderungen erfüllt ihn nach
und nach mit Eifersucht und Neid, so daß er alle Menschen
gegen sich verschworen glaubt, vom niedrigsten
Skribenten an, um dessen Ermunterung er buhlt, bis
hinauf zu Homer, der eine allzu reichliche Menge des
in der Welt vorhandenen Beifalls verzehrt hat.
Eifersucht und Neid vermögen am Ende seine Fähig
keiten
ungeahnt zu steigern; fast allein durch Eifersucht
und Neid ist er zuweilen imstande, die Gebärde,
die Rhythmik, die Melodik des Künstlers zu treffen
und wenn er sich auch nicht hingeben kann, so verliert
er sich doch manchmal, verliert sich in einer seltsamen
Form übertragener Nachahmung, in welcher
die großen Werke wie abgeblaßt und wiederempfunden,
schattenhaft, stimmungshaft ein zweites, unwirkliches
Leben führen. Er übertreibt das schon Vergrößerte,
verwickelt das schon Vereinfachte, und die Welt,
die ihr Bild in einer immer auffälligeren egoistischen
Verzerrung erblickt, wendet sich beleidigt und gequält
ab, auch wenn sie dem Urheber vorübergehend
gehuldigt hat.
Der Literat als Psycholog
Die Psychologie des schöpferischen Menschen ist,
mit einem Gleichnis aus der Chemie gesprochen,
ein Nebenprodukt. Dem Literaten wird die Psychologie
zur Idee, was ungefähr so viel sagen will, als ließe
sich jemand nur darum ein Schiff bauen, weil er einen
Kompaß besitzt.
Der Psycholog hält alles für erlaubt, denn er kann
alles erklären. Er hat für jede Tat ein Für und Wider,
für keine ein Entweder – Oder.
Der schöpferische Mensch ist Wahrheitszeuge, Blutzeuge,
indes der Psycholog die Menschheit und sich
selbst verrät. Dieser Prozeß des Verrats ist wichtig
genug, um näher betrachtet zu werden.
Ebenso wie der Literat als Dilettant ist der Literat als
Psycholog ein isolierter Mensch. Aber er ist die ungleich
reichere und tiefere Natur. Er ist auch die kompliziertere
Natur, ja, im Gegensatz zum schöpferischen,
der kompliziert geborene Mensch, das will sagen, daß
seine Eigenschaften, Triebe und Instinkte nicht aus
einem einheitlichen Gefühl, nicht aus einem elementaren
Sein und Betrachten erwachsen, sondern daß sie
vielfache Wurzeln haben, daß kein reiner einfacher
Strom des Lebens ihn trägt, sondern daß er ein Spiel
vieler, verschiedener, oft einander entgegengesetzter
Strömungen ist, wider die er sich zu behaupten hat,
woraus sich ergibt, daß er sich fortwährend im Zustand
der Abwehr, der Verteidigung und des Kampfes
befindet. Er ist ein wirklich Kämpfender, nicht bloß
wie der Literat als Dilettant einer der in den hintersten
Reihen zuschaut.
Der Wilde und das Kind sind schlechthin unkomplizierte
Menschen; sie sind unkompliziert geboren. Der
schöpferische Mensch ist ebenfalls unkompliziert, aber
dort, wo sich der Ring wieder schließt, auf der anderen
Seite der Erscheinungen, ist er der einfach gewordene,
derjenige, der seine Einheit gefunden hat, nicht nur
durch eigenes Streben und eigene Bestimmung, sondern
auch durch unbewußte Mitwirkung der Geschlechter,
die ihn hervorgebracht haben und deren
Aufgabe es war, ihn hervorzubringen. Der Psycholog
hat nun gleichsam diese Kette stummer Vorbereitung
selbstherrlich verlassen, er hat sich losgelöst und tritt
mit dem ganzen Willen der »Kette«, mit Belastungen
von rückwärts und vorwärts, mit unerledigten Verantwortungen,
eigentlich als ein Deserteur, allein auf den
Plan. Schon dies setzt schwere und nachhaltige Erlebnisse
voraus, innerhalb des eigenen Gemüts wie gegen
den Kreis der Welt und des Lebens. Sein Los ist: sich
zu verantworten, ununterbrochen sich zu verantworten,
gegen Gott, gegen die Menschen und gegen sich
selbst. Der schöpferische Mensch hat nicht nötig, sich
zu verantworten, er ist eben da, er empfindet sich als
notwendig und gesetzmäßig, seine ganze Existenz
heißt: Ja; seine Anschauung des Lebens ist daher eine
innerlich fundierte Hell- und Lichtheit. Jenem andern
aber ist immer zumute, als ob er verneint würde, er
fühlt sich als zufällig, er spürt keine Sicherheit, in ihm
selbst steckt eine glühende Verneinung, und deshalb
ist sein Tun und Wesen, ob er will oder nicht,
Schatten- und Dunkelheit. Will er, so ist er ehrlich,
und es gelingen ihm bisweilen Werke dämonischer
Art; will er nicht, so verstellt er sich nur, und was
er zutage fördert, trägt den Fluch einer geheimen
Lüge.
So wie er nur ein Teil ist, Glied aus der Kette, vermag
er nur eine Teilwelt zu geben; er sieht nicht mehr
als den Teil, er lebt nicht mehr als den Teil, das ist
sein Schicksal. Nun ist es aber im Wesen des Menschen
und im Wesen der Kunst begründet, daß sein
Werk ein Ganzes, ein Gebilde von allgemeiner Gültigkeit
und Glaubhaftigkeit vorzustellen strebt. Da
klafft nun der Abgrund. Je mehr er sich bescheidet,
desto enger und bedingter, desto mehr persönlich gebunden
stellt sich sein Geschaffenes dar; je weniger
er sich bescheidet, desto auffälliger und schmerzlicher
tritt die Kluft zwischen dem Persönlichen und dem
objektiven Gebilde hervor. Es gibt keine Rettung,
keinen Ausgleich. Je stärker Talent und Potenz sind,
desto mehr verführt ihn die Sprache, das Erlebnis,
die Leidenschaft, die Intensität der Vision, sich auf
sich selbst zu stellen und sich selbst gegen Welt und
Gott auszuspielen, desto mehr verführt er die Menschen,
an ihn zu glauben statt an seine Welt und an
Gott. Er ist immer zugleich Verführer und Verführter,
während der schöpferische Mensch Führer ist; er ist
stets der Sklave seiner Eingebungen, Ideen, Worte
und Gestalten, indes der schöpferische Mensch immer
Herr ist. Und je mehr er seinem Werk Notwendigkeit,
Freiheit und Gültigkeit verleihen will, desto
mehr muß er seine Fähigkeit überspannen, die Empfänglichkeit
seiner Sinne dem Krampfhaften, also
dem der Natur Feindlichen nähern, und niemals
das Göttliche, höchstens das Titanische ist sein
Gipfel.
Dieser unausgesetzte Kampf ist ohne die äußerste
Wachsamkeit kaum zu denken; in der Tat ist der
Psycholog das wachsamste Geschöpf der Welt. Wo
der Dichter träumt, ist er wachsam. Eine solche Wachsamkeit
hat zur Folge, daß er über alle Vorgänge seines
Innern und zuletzt über die Art und Wirkung des Zwiespalts,
in dem er sich befindet, aufs genaueste unterrichtet
ist. Jener Kampf führt nie zu dauernder Entscheidung;
in jedem Augenblick fällt die Entscheidung
anders, und er selbst darf die Waffen nicht ablegen.
Niemals sieht er ruhend die Welt. Und nun: im Zustand
der Unruhe und der Bewegung alles von sich
selbst zu wissen; sich von sich selbst loslösen wollen
und doch einsehen müssen, daß man unlösbar mit
und in sich selbst verstrickt ist; sich ununterbrochen
rechtfertigen zu müssen, gegen das Werk, gegen die
Menschheit, gegen Gott und gegen die eigene Seele;
in einem derartigen Zustand ist das dringendste Verlangen
das nach einem Heilmittel oder einem Betäubungsmittel,
nach einem Stimulans; dieses Stimulans
ist eben die Psychologie.
Die Psychologie entspringt der Wachsamkeit. Sie
kann sich bis zu halluzinatorischer Kraft steigern. Sie
ist beim schöpferischen Menschen in den Phasen vor
der Entscheidung, beim Literaten ist sie die Entscheidung
selbst, und zwar in jeder Bewegung. Jede Bewegung
bringt eine Wandlung hervor, jedoch diese
Fülle von Wandlungen führt keineswegs zu einer Verwandlung;
die Mittel sind auf dem Wege verausgabt
worden, so daß es ein Ziel darüber hinaus nicht
mehr gibt. Der Literat hat den Weg, der schöpferische
Mensch hat das Ziel. Der Literat wandelt sich, –
auf dem Weg, und das beständig; der schöpferische
Mensch verwandelt sich, – am Ziel. Ein Mann, der
nicht an das jenseitige Leben glaubt, wird aus dem
diesseitigen die ganze Summe von Genüssen hervorpressen,
die nach seiner Ansicht darin enthalten sind.
Dermaßen ist das Verhältnis des Literaten zur Psychologie
beschaffen, und so kommt es auch, daß die
Psychologie ein fortgesetzter Verrat am Ziel, an
Gott ist.
Man verfolge dies im einzelnen, und man wird stets
bemerken, daß das schlechthin, das Nur-Psychologische
immer den Verrat in sich birgt. Es mag so erstaunlich
wie möglich beobachtet sein, nie wird man
es ohne die Überwindung einer geheimen und tiefen
Scham hinnehmen, als ob sich ein Mensch vor uns
entblößte. Der Psycholog verrät die Welt, indem er
sich selbst in seinen geheimsten und tiefsten Regungen
verrät. Dies ist ihm die Brücke zur Welt, denn eine
andere hat er nicht in seiner Isolierung. Der Psycholog
kennt keine Scham; das ist sein Rausch, ja, seine
Ekstase. Er trifft dich mit den Entdeckungen, die er
in seiner Seele gemacht hat, er reißt dich in seine Abgründe,
begräbt dich in seinen Finsternissen, schleift
dich durch seine Zweifel und seine Qualen, und am
Ausgang und am Eingang steht er, nur er, Pförtner
und Totengräber. Der schöpferische, der handelnde
Mensch übernimmt die Leiden der Welt und reinigt
die Menschheit davon, der Psycholog gießt seine
Leiden über die Welt, und die Psychologie ist ihm
der Schlüssel zur Welt, das Mittel, um dir zu sagen:
Du bist wie ich! Ein umgekehrtes tat-twam asi. Dieses
»du bist wie ich«, mit Hilfe der Psychologie, des fortwährenden
Belauerns konstatiert, bringt etwas wie
eine künstliche Sozialität bei ihm hervor, indes ihm
die natürliche von Anfang an fehlt. Wo er haßt, ist
sein Verrat ohne Hemmung, gewissermaßen sachlich;
wo er liebt, glaubt er sich zu opfern durch den Verrat,
und er muß verraten, weil die einzige Form seiner
Produktivität darin besteht, das Ganze der Welt in
Stücke zu reißen und in dem Schmerz über die Zerstörung
und Zertrümmerung die Unvollkommenheit
der Dinge zu gestalten. Während der schöpferische
Mensch in einem göttlichen Sinne grausam ist, ist der
Psycholog in einem menschlichen Sinne grausam, da
er durch ein tragisch widerspruchsvolles Gesetz trotz
seiner Einsamkeit immer an die Menschheit gefesselt
bleibt und sich so wenig wie von sich selbst richtend
von ihr lösen kann. Er richtet nicht, er klagt an; es
geht bei ihm um Recht oder Unrecht, doch nie um
Gerechtigkeit.
Psychologie ist Naturalismus. Wie sie sich auch gebärden
mag, ist sie der Feind und der Gegensatz der
Schonung, der Scham, der Abbreviatur, der Andeutung,
der Deutung, der Ahnung, der Sehnsucht, der
Religion. Sie ist immer ein irdisch Erfülltes, rationalistisch
Fertiges; sie ist das Wörtliche, nicht das
Bildliche, das Allegorische, nicht das Symbolische,
der Weg und nicht das Ziel.
Nun entsteht die Frage: Wie verhält sich die Welt,
die Gesellschaft hiezu, wie nehmen die Verratenen
den Verrat auf? Sie werden ja beständig in Anklagezustand
versetzt, beständig ihrer Geheimnisse beraubt,
beständig in ihrer Scham beleidigt, wie können sie
das ertragen?
Die Antwort ist: Der Psycholog bedient sich des
Kniffs, daß er alles Einzelne, Vereinzelte und Sonder-
liche
zum Typus verdichtet (während der schöpferische
Mensch umgekehrt den Typus individualisiert).
Dadurch wird allem Widerspruch die Spitze gebrochen,
und es entsteht ein Werk von großer Leidenschaftlichkeit,
gegründeter Bewegtheit und seelischer
Durchführung, ein Werk von je stärkerer persönlicher
Einheit zumeist, je geringer eben die Objektivierung
der Welt darinnen ist. Obwohl jene Eigenschaften nur
mittelst der Kunst, und zwar einer bedeutenden Kunst
zur Erscheinung gelangen können, nenne ich doch das
Verfahren des Psychologen – in höherem Betracht
– einen Kniff, denn er deckt sich damit nach zwei
Seiten: nach der einen gegen die Menschen, denen er
einen Zerrspiegel vorhält und sie dabei durch seine
Leidenschaft, sein Gefühl, seine Kunst, seine Persönlichkeit
verhindert, die Willkür in den Zerrbildern
zu erkennen; nach der andern Seite gegen Gott, oder,
wenn man will, gegen das schöpferische Prinzip, indem
er sich als einen leidenden, leidenschaftlich ergriffenen
Menschen preisgibt, aufgibt und zugleich
darauf pocht, daß er in unabhängigen Gestaltungen
zur Gerechtigkeit und zur Wahrheit strebt.
Ich spreche selbstverständlich nicht von der Psychologie
als Wissenschaft; diese ist eine gerade Sache und
hat mit der Psychologie in der Kunst wenig oder nichts
gemein. In der Kunst ist sie nicht nur eine analytische
Methode, sondern eine Empirie höherer Ordnung,
nicht mehr eine Disziplin, die von Realitäten ausgeht,
sondern eine Realität an sich. Sie verpflichtet und verbindet
das künstlerische Gebilde der Erde, verleiht
der Vision, dem Gleichnis, dem Schwebenden, dem
schon Zusammengefaßten, Verdichteten sein unverrückbares
Gesetz, seelische Anwendung, wechselvolles
Leben und die Glaubhaftigkeit, die sich auf die Erfahrung
beruft. Der Literat als Psycholog will aber
durch die Psychologie die Vision, das Gleichnis, das
Verdichtete, das Gedicht erst erzeugen. Ihm ist der
Teil mehr als das Ganze, das Kleinspiel wichtiger als
die Zusammenfassung, und bevor er zur Idee gelangt
ist, erlahmt er in den Wirklichkeiten. Die Wirklichkeit
vermag er zu erschöpfen, er weiß sie immer neu,
anziehend, seltsam und treffend zu gestalten, denn sie
ist ja sein Persönliches, sein Erbe, während die Idee
das Göttliche vorstellt, von dem er abgeschnitten ist.
Durch das außerordentliche, zauberhafte, verführerische
Talent, die in sich selbst beschlossene Realität
zu gestalten, wird nun die Menschheit, die Gesellschaft
oder das, was man Publikum nennt, über den
begangenen Verrat hinweggetäuscht. Und zwar nicht
erst seit gestern.
Mit dem Eintritt des Christentums in die Welt hat die
geistige und sittliche Individualisierung der Menschheit
begonnen. Der christliche Kerngedanke ist eigentlich
die vollständige und freiwillige Selbstisolierung
des Individuums unter jedem Verzicht auf soziale
Mission. Im Geist des Evangeliums Christ sein heißt:
allein dastehen gegen Gott; im Einzelnen, der sich erlöst,
wird die Menschheit erlöst. Es konnte bei der
Sublimität einer derart aufs äußerste getriebenen Idee
nicht ausbleiben, daß sie, um eine Wirkung zu üben,
mißverstanden werden mußte und das Christsein
schließlich nur hieß: erlöst werden durch das Leiden
eines andern, dessen nämlich, der seiner Lehre das
welthistorische Beispiel gegeben. Dadurch wurde das
Christentum nach der sozialen Seite hin nutzbar gemacht.
Die christliche, den Leib leugnende, die Form zerstörende
Idee ist die der Kunst entgegengesetzte Idee
schlechthin. Der christliche Mythos konnte der Kunst
nur dort Nahrung zuführen, wo entweder gläubige
Gemüter den gläubig Schaffenden umgaben, oder wo
sein menschlicher Gehalt die Strenge der Überlieferung
sprengte und Motive und gewisse Freiheiten der
Darstellung bekam, die eher alttestamentarisch oder,
im ganzen Marienkult, antikisierend und dem Erlösergedanken
fremd waren. Es konnte also nur das
leidende, inbrünstige, ekstatische, lebenverzichtende
Gefühl zum Ausdruck gelangen, wozu die volle naive
Frömmigkeit erforderlich war, oder es mußten übernommene
Vorstellungskomplexe eine immer wiederholte
Darstellung finden, deren persönliche Beseelung
aber unmöglich wurde, als die Tradition ermattet und
die Zahl ihrer Motive verbraucht war. Die bildende
Kunst und die Musik, deren Gehalt ausschließlich in
der Empfindung wurzelt, die ihre geistigen Werte in
Form und Rhythmus verlegen, konnten einen, wenn
auch meist nur scheinbaren Zusammenhang mit dem
Christentum am längsten bewahren; die Literatur hingegen,
Drama, Epos und Gedicht, sind schon durch
das Wesen der Sprache und des Wortes auf eine
stärkere geistige Existenz gestellt. Dies bedingt einerseits
eine größere Kälte, größere Ferne und geringere
Unmittelbarkeit der Gefühlswerte, andererseits wird
aber dadurch jede Verschleierung und Verdunkelung
der Idee erschwert, da die Auflösung der unerläßlichen
Harmonie zwischen Idee und Ausdruck zur
Wirkungslosigkeit führen würde.
Der Dichter mußte sich also um so eher und nachhaltiger
vom Religiösen befreien, je mehr dies Religiöse
seines national-mythischen Gehalts entkleidet
und, was dem Geist des Christentums widerspricht,
zu einer staatlichen und sozialen Einrichtung wurde.
Das christliche Gebot der Absonderung, der leben-,
form- und freudezerstörenden Individualisierung
zwang ihn, sozusagen wider seinen Willen, zu einer
Individualisierung auf geistigem Weg, vor allem zu
einer losgelösten, vom Volk abgesonderten Existenz.
Das Christentum hatte ihn des lebendigen, aus dem
Volk ihm zuströmenden, im seelischen Leben des
Volks gewachsenen Mythos beraubt, und dies bedeutet:
daß er seinen Mythos selbst erschaffen mußte,
aus seiner eigenen Brust heraus. Die antiken Dichter
befanden sich im Kreise des religiösen Mythos ihres
Volkes, der stets identisch war mit dem nationalen
Mythos. Das Christentum zerbrach diese Einheit nicht
nur, sondern sein lebensfeindlicher und alles Schöpferische
verneinender Mythos entzog den Dichtern auch
die wesentlichste Nahrung, entzog ihrem Dasein die
wunderbar tiefe Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit,
die jene Genien besaßen, die von einem ununterbrochenen
Strom mythisch vorhandener Gestalten
schon getragen wurden, bevor sie ans Werk gingen.
Wie wäre denn sonst das christliche Mittelalter, insonderheit
das deutsche, so arm an großen Dichterpersönlichkeiten?
Die wenigen von Rang führten nur
ein privates Dasein, waren einsam, waren geduldet,
oder auch wohlgelitten, »Sänger«, Kostgänger, Mitläufer,
nicht Führer, nicht Propheten.
Der Dichter mußte seinen Mythos selbst erschaffen.
Dabei ist es geblieben. Die Entwickelung der Gesellschaft,
der Staaten, der Völker, der geistigen und
sozialen Revolutionen, die ungeheuere, durch die fortschreitende
Dezentralisation und die beständige Verschiebung
der Kasten und Klassen beständig wachsende
Fülle von Schicksalsmöglichkeiten, alle diese
Umstände haben die Tendenz zur Vereinzelung verstärkt.
Kaum daß noch Familien ein natürliches, auf
dem Herkommen beruhendes Ganzes bilden; die Gemeinde,
die Polis, der Staat, die Nation sind schon
künstliche und zufällige Zusammensetzungen. Das
seelische Erwachen von Millionen Einzelnen bietet
freilich ein großes Schauspiel; es ist nur die Frage, ob
es durch die gegebene Freiheit im Grenzenlosen nicht
eben ins Grenzenlose und Verhängnisvolle gesteigert
wird.
Da dem Dichter also die geglaubte und gesicherte
Grundlage des nationalen Mythos fehlt, muß er ihn
aus seinem Innern ersetzen. An die Stelle der lebendigen
Überlieferung tritt diejenige des Schrifttums,
und statt der natürlichen Sprache, die der Mythos hat
und in der er zu allen spricht, ergibt sich der Stil. Sein
Gedachtes, sein Geschautes, sein Geträumtes, sein
Werden, sein persönliches Erleben, seine Anschauung
der Welt, sein Kampf gegen die Gesellschaft, sein
Verhältnis zur Natur, dies alles verdichtet, vereinfacht,
verbildlicht und zur Schönheit verwandelt, wird nun
für den Dichter zum Mythos, wird es erst dann, wenn
er zugleich Künstler ist, wenn er alle Lebenselemente
zu Kunstelementen umgeschmolzen und das Persönliche
in ein Göttliches verwandelt hat.
Dies setzt nicht nur eine gewaltige Arbeit, einen heiligen
Ernst voraus, eine Kraft zur Entsagung und
einen Willen zur Einsamkeit und Selbstvertiefung,
die den Dichter vollkommen zum Sklaven seiner Aufgabe
machen müssen, damit er Herr des Werkes werde,
sondern es fordert auch bei den Empfangenden eine
Eigenschaft, die fast Kongenialität zu nennen ist und
die sich natürlich nur bei erwählten Geistern findet,
zunächst wenigstens; später greift dann die Tradition
von Bildung, Stil und Kultur ein, dieselbe Tradition,
deren sich der Nachfahr bedienen und die er zugleich
bekämpfen muß, um sich selbst zu finden. So vollzieht
sich nie ein harmonisches Kräftespiel; alles ist
Kampf und Absonderung, und das Mißverständnis
zeugt, nicht das Einverständnis.
In Kürze: der schöpferische Mensch ersetzt das Real-Mythische
durch das Fiktiv-Mythische, das um so bedeutender
und großartiger ist, je größer eben sein
Geist, sein Blick, seine innere Welt, sein Genie sind.
Es gelingt ihm durch unermüdlichen Fleiß, durch
glühendes Welt-Erraffen, selbstvergessenes Welt-Erschauen,
sein Egoistisch-Persönliches gleichsam auszutilgen
und dafür das Fiktiv-Persönliche zu geben.
Dies ist dem Literaten versagt; also auch dem Psychologen.
Wohl schöpft er ebenfalls alle Nahrung aus
sich selbst, gräbt eine Welt aus seiner Brust, erlebt
tief und wahrhaftig, aber da er nicht die Gabe der
Verwandlung besitzt, bleibt er immer, der er war,
wandelt sich nur von einem Werk in das andere, von
einer Gestalt in die andere, nie in das Göttliche empor,
und er ist fern von den Menschen – wie der
schöpferische Mensch, und fern von Gott – wie die
Menschen. Er verwandelt sich nicht in das Herrlich-Fiktive;
auch seine Gestalten nicht; sie treten nicht in
die ewige Region, in die Sphäre der höheren Wahrheit,
des vereinfachten Lebens, sie bleiben ihm zuge-
schmiedet,
bleiben Suchende, Irrende, Leidende, Unbefreite,
und sie sollen Boten sein von ihm zur Welt,
von ihm zu Gott, Boten, die er dingt, um sich selbst,
seine Schmerzen, seine Scham, seinen Ehrgeiz, seine
Einsamkeit (die ihm doch ein errungenes Gut, nicht
ein erzwungenes Joch sein müßte) zu bezeugen,
zu verraten. Die Menschen aber, in ihrer Neugierde,
ihrer Eitelkeit, ihrer Lust an Spiegelbildern, an Enthüllungen,
entschleierten Geheimnissen, zerstörten
Vorbehalten und unter dem Druck ihrer Not gewahren
in ihm nicht ein Gleichnis für Göttliches
nicht eine Idee, sondern für Menschliches, eine Wirklichkeit.
Das danken sie ihm, das bewundern sie an
ihm, das zieht sie zu ihm. Seine Wachsamkeit hält sie
wach, seine Bewegtheit zerstreut sie, seine Treffsicherheit
trifft sie, seine Gespanntheit ergötzt sie, seine Einsamkeit
verstehen und betrauern sie, in allem finden
sie ein Gleichnis für sich selbst, und das ist etwas anderes,
viel Lustigeres, Glaubhafteres und Reizenderes
als beim schöpferischen Menschen, wo sie ein Gleichnis
für das Göttliche finden, die Synthese.
Freilich, so wenig der schöpferische Mensch heute das
Volk für sich hat, die belebte, organische Gesamtheit
einer Kulturperiode, so wenig der Literat als
Psycholog. Jener hat eine Gemeinde, eine geistige
Polis, die an Macht zunimmt; der Psycholog hat ein
Publikum. Und was ist ein Publikum? Es sind die
»Getroffenen«, die Neugierigen, die Gelangweilten,
eine ungeordnete Horde von Freischärlern der Bildung,
die Wahllosen, Gesetzlosen, Zusammenhanglosen
und völlig Gottlosen. Darin beruht der tiefste
Schmerz des Psychologen, und deshalb wird ihm Erfolg,
Beifall und Echo niemals zur reinen Freude.
Was kann es ihm auch bedeuten, die Gottlosen für
sich zu haben? Ihm, der doch daran leidet, daß er
gottlos ist?
Mit der Genugtuung, die nicht frei von dem Glück
des Darüberstehens ist, mag er auf den blicken, der
geradeswegs für das »Publikum« erschaffen wurde
und der nicht mehr daran leidet, daß er gottlos ist.
Das ist:
Der Literat als Tribun
Er stammt zumeist aus kleinen Verhältnissen und
kennt die Not, die leibliche wie die geistige. Zwei
Dinge haben ihn emporgehoben: sein Ehrgeiz und
das Wort. Sein Ehrgeiz war anfangs nur äußerlich, er
zielte auf die Verbesserung der sozialen Stellung,
wurde aber später durch geistige Zuströme sowohl
veredelt wie von der Richtung abgelenkt, denn der
Dienst am Wort ist ein Frondienst, der jeden Lebensgenuß
zerstört. So spielt dieser Ehrgeiz mit dem, der
ihn hegt, wie ein Irrlicht mit dem Wanderer.
Die an die Zwecke gebundene Seele kann den Geist
nicht beschwingen, aber sie gibt ihm die vehemente
Stoßkraft des von eingepreßtem Dampf getriebenen
Hebels.
Der Literat als Tribun ist der Psycholog des Tatsächlichen;
er ist Erklärer und Propagandist; Bannerträger
alles Neuen; Beobachter, der unfehlbare Schlüsse
zieht; Alchimist der Überraschungen und Moralist
der Nutzanwendung; Übertreiber des Absurden, Verzerrer
des Trivialen, Widersacher des Selbstverständlichen;
Leugner des Seltenen, wo Seltenes anerkannt,
und Verkündiger des Genius bis zu der Stunde, wo
der Genius sich ganz entfaltet. Er ist der Meister der
Anpassung, der Aufwiegler der Stumpfen, die Polizei
der Rebellen, Brandstifter und Arzt; er ist vieles in
vielem, alles in allem. Er steht, auf den Augenblick
angewiesen, zwischen zwei Tagen, ohne des vorhergehenden
zu denken, ohne den gegenwärtigen halten
zu können, ohne vom folgenden zu wissen. Er ist
wie der Kapitän eines Passagierdampfers; bei jeder
Fahrt sind andere Menschen um ihn, niemals gleichgestimmte,
nie vorbereitete, nie solche, die sich seiner
Leistung von der letzten Fahrt her erinnern; er muß
alle Voraussetzungen seines Tuns und seiner Kräfte
jedesmal von neuem exponieren. Der Wechsel der
Passagiere vollzieht sich unter beständigem Bruch geschaffener
Bündnisse und Übereinkünfte, beständiger
Veränderung der Formen und Normen.
Was er mitbringt, ist seine Person; dieser erinnert
man sich wohl. Im Grund ist es der Name, der Gewicht
und Klang hat, der eine Luft des Schreckens,
des Befehls, der Autorität, der Leidenschaft um sich
trägt. Die Leistung wird dem Namen zugewogen, die
Person schreitet über die Leistung hinweg.
Wer ist unglücklicher als er? Vertrauen erzwingen,
Anerkennung, Billigung und Freundschaft mit Aufwand
aller Mittel des Geistes erobern, um alles wieder
zu verlieren, wenn der Tag sich wendet. Immer wie
am Anfang muß er seine Person einsetzen und bloßstellen,
immer mit dem ganzen Elan oder, was nicht
minder aufreibend ist, mit der Gebärde des ganzen
Elans. Hätte er nicht die Gebärde, so würde er aus
geplündert,
ausgeschlürft und ausgeleert, da die Vielfältigkeit
der Aufgaben, die ihm gestellt werden, und
die Zerstreutheit der Interessen, die zu sammeln, zu
befriedigen, zu beschäftigen seine wichtigste Mission
ist, ihn nötigen, alles was er empfängt, sogleich wieder
zu veräußern. Der schöpferische Mensch verarmt
nicht, ihn nähren tiefe Wurzeln; seine wirkliche Persönlichkeit
wird genährt von seiner mythisch-fiktiven.
Auch seine Einsamkeit ist nur fiktiv, denn er hat die
Gestalt, die ihm verbunden ist, auch wenn kein Ohr
ihn hörte, kein Auge ihn sähe. Die Realität ist nur
ein Gleichnis für ihn; er schafft ja die Welt zum
zweitenmal.
Demgegenüber ist der Literat als Tribun der einsamste
von allen Menschen, ganz an sich geschmiedet, ganz
gelöst von der Welt. Was ihn schützt und tröstet,
ihn unermüdlich, gewissermaßen verblendet macht,
was seinen Ehrgeiz in Glut erhält, ist das Wort. Er
hat eine angeborene Liebe zum Wort, und es wäre
verwunderlich, wenn er sich bisweilen nicht für einen
Dichter hielte. Das Wort ist sein Gefährte, er geht
mit ihm um wie mit einem Freund, er tändelt mit ihm
wie mit einem Kind, er betreut es wie eine Geliebte
und ist von der Macht des Wortes bis ins Innerste
durchdrungen. Ist er von Natur feige, so wird er
durch das Wort tapfer, ja tollkühn; hinter dem Wort
verschanzt er sich, verbirgt er seine Armut, seine
Zweifel, seinen Neid, seine Unsicherheit. Das Wort
gibt ihm Charakter, steigert seinen Willen, korrigiert
und verdeckt seine Irrtümer und verleiht ihm genau
die Gestalt, die er vorzustellen wünscht. So wird er
undurchdringlich mit Hilfe des Worts, als ob das
Wort ein Panzer wäre; unsichtbar und unauffindbar
hinter dem Wort, ein wunderliches Widerspiel zum
schöpferischen Menschen, der unsichtbar ist hinter
der Gestalt. Aber Worte schaffen nicht die Gestalt,
nur Handlungen, Bewegungen (des Körpers oder der
Seele). Dann sind Worte von ganz anderem Valeur,
ja, ganz andere Organismen, Gedeutetes, nicht Gesagtes.
Das Wort als solches verhüllt die Gestalt
und macht sie unsichtbar.
In einer Zeit wie der gegenwärtigen, in der ungeheuren
Fülle der Dinge, der Gesichte, der Vorgänge, der
Meinungen, des Wissenswürdigen, des Neuen, des
schnellen Austausches der Werte, der enormen Vergrößerung
geistigen Bestandes bei erschreckender
Haltlosigkeit des Besitzes ist der Literat als Tribun
unentbehrlich. Er ist es, der wägt, der urteilt, der vermittelt,
der die Großmünze der geistigen Regierungen
in die Kleinmünze des Verkehrs umsetzt, der Bildung
verbreitet, Kenntnisse weckt, Einsichten fördert und
in allen Angelegenheiten des öffentlichen Lebens
höchste und letzte Instanz ist.
Das wäre nun eine sehr segensreiche Tätigkeit mit
heilsamen Wirkungen, müßte man glauben. Man
müßte glauben, daß eine so stetige und heftige Teil
nahme
am allgemeinen Wohl, an Kunst und Kultur,
an seelischem Wachstum und geistigem Fortschritt
ohne Selbstlosigkeit, ohne Opfersinn und ohne wahre
Sachlichkeit nicht denkbar sei. Sehen wir näher zu.
Kann von Opfersinn die Rede sein, wo ein Lohn,
auch nur der allergeringste Lohn in Aussicht steht?
Kann von Selbstlosigkeit die Rede sein, wo eine Handlung
dazu dient, den Glanz eines Namens zu erhöhen?
Es mag einer mit wahrer Leidenschaft eine Sache
führen, und er besitzt doch nicht die wahre Sachlichkeit,
sobald es unter dem Schutz seiner Person und
unter dem Schild seines Namens geschieht. Opfersinn
und Selbstlosigkeit, das wäre Auflösung der Anonymität,
– rein betrachtet, meine ich, denn ich will ja
keine Kompromisse mit den Begriffen und mit den
Erscheinungen schließen. Daß die Anonymität des
Tribuns ja zuweilen sogar seiner Ehre schaden kann
und muß, gehört auf ein anderes Feld; es ist dies
ein bedeutsames Kulturzeichen, welches die Kultur,
nicht das anklagt, was ich unter Anonymität verstehe.
Was aber verlangst du? hält man mir dawider. Ist
der Opfersinn, die Selbstlosigkeit, die Sachlichkeit
unzureichend, die der Literat als Tribun in seinem
edelsten Typus darstellt, was wäre dann zureichend?
Was geschähe ohne ihn? Wer würde seine Arbeit
verrichten, die, wie gesagt, unentbehrlich ist, schon
weil sie der Gewohnheit und den eingefleischten Nei-
gungen
entspricht? Vielleicht diejenigen, die der Auflösung
und der Anonymität fähig sind? Die wirken
durch die Tat, durch die Gestalt, nicht durch das
Wort. Ist jedoch der schöpferische Mensch anonym?
Er erreicht einen gleichwertigen Zustand durch den
Mythos, in dem er entschwindet wie Zeus in der
Wolke. Wo läge aber der Mythos für den Literaten
als Tribun? Er kann ihn nicht haben, denn das Wort
ist das dem Mythos schlankweg Entgegengesetzte.
Dafür wäre also abermals die Zeit zu beschuldigen,
die eine Kultur geschaffen hat aus einer Summe von
Einzelkulturen, die auf den Individualismus schwört
und in ihren subtilsten Regungen, in ihren ahnungsvollsten
Stunden noch, sie weiß kaum wie sehr, der
Materie huldigt. Die Person, das ist eben die Materie
in nuce. Man fragt, was ohne die segensreiche Tätigkeit
geschehen würde, die der Literat als Tribun entfaltet.
Die Wege der Bildung würden veröden; gewiß.
Aber ist es nicht schon genug der Bildung, die
nur auf eine Vervollkommnung des Persönlichen, persönlicher
Macht, persönlicher Ausdrucksmöglichkeit,
persönlicher Steigerung zielt? Sollten nicht alle Federn
einmal ruhen, um eine wohltuende Geistesdämmerung
eintreten zu lassen, in der die Seelen einander
finden würden, der Streit der Meinungen, die
Schlacht der Worte zum Austrag gelangen könnte?
Ich behaupte nicht, daß diese Bildung nur ein Äußeres
sei, sie kann auch ein Inneres sein, Kräftigerin des Ge-
müts,
Reinigerin des Herzens; aber ein Religiöses ist
sie nicht, niemals wird sie den Menschen zum Mythos
führen, ihm die große Fülle, die große Stille, die große
Bescheidung, den großen Zusammenhang schenken
und sein Herz der Trägheit entledigen, die eine Folge
der individuellen Isolierung ist; immer wird sie ihn
verpersönlichen, zum Knecht des Wortes machen,
zum Wörtlichen, zum Einzelnen.
Dafür eben ist das Wort ein Merkmal, das Merkmal
geradezu. Es hat alle Gebiete des Denkens und des
Gefühls, die Geisteswelt und die Sinnenwelt erobert.
Es ist der nützliche Kolonisator jeder Wildnis und
der voreilige Zerstörer des Geheimnisvollen. Es hat
nur kurzen Atem, eine flüchtige Existenz, aber es hat
die Kraft, sich immer wieder aus sich selbst zu erneuen.
Was es berührt, bezeichnet hat, tritt unveräußerlich
in den Bezirk des Gewußten und Bewußten,
in den Bannkreis der Meinungen und Urteile, wird
studiert und klassifiziert, ist da und ist fertig wie Raritäten
in einem Museum, wie Naturalien in einer Sammlung,
wo sie aufhören, ein freies, organisches und anonymes
Dasein zu führen. Was gestern noch Ahnung
war, heute ist es Gewißheit, morgen ist es ein Schall.
Der Weg vom lebendigen Wort zum Schlagwort entscheidet
die Kürze des Wegs vom Glauben zur Entgötterung,
von der Gebundenheit zur Anarchie. In
der Mitte des Wegs schwebt ein Scheinbild von
Glauben und Gesetz; es ist nicht Glauben, es ist
Angst, Fatalismus; es ist nicht Gesetz, es ist Trägheit,
Rationalismus – Schranken vor dem Chaos.
Will der Literat als Tribun über das Wort hinaus, so
gelangt er in die Sphäre des Dilettanten oder in die
des Psychologen, wobei er Schatten beschwört, die
er für Gestalten nimmt. Aber innerhalb seines Bereichs
ist er unnachahmlich und wird seine Gaben
zur Vollendung entwickeln. Da er in der Luft der
Worte lebt, atmet er alle Worte ein, die über den
Dingen schweben, über den Menschen, über der
Kunst und über der Natur. Er vermag sie so zu binden,
so zu schleifen, daß sie unter allen Umständen
seinen Charakter und die Farbe seiner Persönlichkeit
annehmen. Dies ist noch nicht Stil; zum Stil gehört
Distanz und Ruhe, Bild und Rhythmus; es ist das
Wort in seiner Sinnlichkeit und Nähe, seiner Einschichtigkeit
und Einzelligkeit, das naive, parteinehmende,
werbende und symbollose. Damit es an
seinem Platze sei, fehlt ihm die Rede. Dies enthüllt
sein Zwittertum wie auch den Zwiespalt des Literaten
als Tribun. Die Rede fordert Hörende, nicht Neugierige,
Wißbegierige, nicht Gelangweilte, die flüchtig
aufhorchen und wieder vergessen, wenn der Tag sich
wendet, deren Teilnahme für Gelesenes nur eine
Maske der Müdigkeit und der Überfütterung, deren
Enthusiasmus sogar, weil sie sich dadurch von einer
Verpflichtung loskaufen, nur eine künstliche Form
von Gleichgültigkeit oder sagen wir Objektivität ist;
sondern die Rede fordert eine von gemeinsamem Band
vitaler Interessen umschlungene Gemeinde. Der Literat
als Tribun sitzt also, trivial gesagt, zwischen zwei
Stühlen. Zur Rede mangelt ihm die soziale Grundlage,
eine einheitlich beteiligte Gesellschaft; das geschriebene
Wort hat ganz andere Resonnanzen und
Ansprüche; an die Stelle des Willens zur Tat tritt der
Ehrgeiz am Wort; er ist zum Schriftsteller geworden,
ohne zu spüren oder zuzugeben, daß dies nur ein
Surrogat ist, und über die Unmöglichkeit einer allgemeinen,
politischen, besser: verwandelnden Wirkung
tröstet er sich mit der Anerkennung der Einzelnen,
mit dem Enthusiasmus der Gleichgültigen, mit
der Zustimmung der Fachgenossen und einem Ruhm,
der aus Papier besteht.
Eine unausbleibliche Folge des Mangels an Hörenden
ist die zunehmende Zahl derer, die selbst etwas
sagen wollen. Es beruht dies auf dem seltsamen Irrtum
der menschlichen Natur, daß sie das geben zu
müssen glaubt, was sie nicht empfängt. Die fortschreitende
Individualisierung wirkt auf den einzelnen
verlockend, ein Phantom der Freiheit äfft ihn, und er
tritt selbsttätig aus der Kette, bevor zur Reife gelangt
ist, was durch die stumme Arbeit der Geschlechter
vollendet werden muß. Jeder solche einzelne ist ein
»Talent«. Das Talent ist ein Losgelöstes, vom Mythos
Getrenntes, auf eigene Faust Wirkendes. Die Talente
sind Zauberer, nicht Priester in der modernen Welt,
Sektierer, nicht Apostel, und was ihnen die Zeit verdankt,
Unterhaltung, Zerstreuung, Spannung, Anspannung
(der die Abspannung wie eine Rache nachgeht),
dafür machen sie sich bezahlt durch eine geistige
Tyrannei und eine Vorherrschaft ihrer spezifischen
Art, welche den innerlich Unsichern, zufällig Erhobenen
nicht verleugnen. Das Talent ist wie der
Mond; es zeigt immer nur eine Seite: die literarische;
die menschliche ist unsichtbar, – eine Entzweiung
von verhängnisvoller Beschaffenheit, die irgendwo und
-wann zum Bankerott führen muß.
Wie oft sehen wir, daß zugunsten des »Literarischen«
das Menschliche geopfert wird. Wir müssen auf ein
Antlitz verzichten, um uns an Verkleidungen zu ergötzen.
Die Kunst trennt sich vom Leben. Nun gibt
es Fälle, wo ein Mann so von einem Erlebnis erfüllt
ist, daß er sich gedrängt fühlt, es darzustellen. Es
handelnd auszulösen, ist ihm aus vielen Gründen versagt,
unter welchen der Mangel eines echten gesellschaftlichen
Zusammenschlusses am schwersten wiegt;
er greift zur schriftlichen Mitteilung – als Beichte;
zur übertragenen Form des gestalteten Bildes – als
Spiegelung. Mag es Klarheit für ihn, Aufklärung, Bereicherung
für die Freunde, für Gleichfühlende bringen,
Werbung oder Verteidigung sein, es reinigt und
entlastet ihn. Anstatt es aber dabei zu lassen, das Ungewöhnliche,
Seltene, jedenfalls Einmalige als solches
zu bekräftigen, indem man die Einmaligkeit nicht zer-
stört,
anstatt dessen wird der Geist zur Krippe getrieben,
und was zuerst Berufung war, wird Handwerk,
dann Routine, dann ekler Absud und Selbstplagiat.
Man ist Schriftsteller, denn man schreibt. Es
wird immer weiter geschrieben, ein Name wird ausgenutzt,
eine Tat wird verleugnet, Freunde werden
zu Kostgängern, ehedem Ergriffene zu höflichen Jasagern,
die Seele verarmt in der Gebärde, der Geist
stellt sich im Wort bloß, Erlebnis wird sogleich als
Stoff einkassiert, der Stoff hinwiederum lähmt das Erlebnis,
dem Schaffenden wird die Bahn verlegt, den
Genießenden die Unschuld und Freudigkeit getrübt,
und es entsteht – Literatur.
Das Notwendige sinngemäß vollbringen, kennzeichnet
den Menschen von Berufung. Infolge jener Entzweiung
wird entweder das Notwendige nicht sinngemäß,
d. h. stilgemäß, angeborener Form entsprechend
zum Ausdruck gelangen, wenn das Menschliche
prävaliert, oder das Sinngemäße wird nicht immer
das Notwendige, ganz Legitime, ganz Triebhafte
sein, wenn das Literarische prävaliert. Entweder wird
also das Literarische als dem edleren Dilettantismus
verwandt, oder das Menschliche, Sittliche wird nur
wie ein zufälliges Anhängsel erscheinen.
Letzterem Schicksal ist der Literat als Tribun zumeist
unterworfen. Von Anbeginn an ist er der geschworene
Feind des Dilettanten, da er sozusagen auf Vorposten
steht, niemals Zeit hat, nach vielen Seiten sich ver-
kettet
findet und, der Öffentlichkeit preisgegeben,
eine öffentliche Person ist, von der man bestimmte
Leistungen zu erwarten sich mehr bemüßigt als gezwungen
fühlt. Schon die stete Verantwortung nötigt
ihn zur Gebärde, wenn der Elan verraucht ist, um wieviel
mehr erst die Gewohnheit, das Metier. Das Wort
umpanzert ihn, kommandiert ihn, und wollte er sich
auf sein Sittlich-Menschliches beziehen, wo das Wort
gesündigt hat, so fände er die Brücken abgebrochen
und den Weg zu weit. Er muß antworten, beständig
antworten, als ob die Welt und das Leben voll von
Fragen wären; sie sind auch voll von Fragen, nur
werden sie nicht an ihn gerichtet, sondern an die Welt
und das Leben, und die Antwort geschieht um der
Antwort, nicht um der Fragen willen, das Wort muß
ihm Maske bleiben. Er darf sich nicht verraten,
niemals und unter keinen Umständen. Er ist nur
treu, solange das Wort ihm treu ist. Er geht um die
Ecke und sieht dich nicht mehr. Dein Gesicht ist
ihm nur ein Wort, und Worte werden vergessen
(oder auch behalten), gesehen werden sie nicht. Er
kann nicht träumen, das Wort hängt mit Bleigewicht
an den Flügeln des Traums; er kann nicht
genießen, das Wort verpflichtet ihn, dem Genuß auszuweichen.
Er fühlt nicht mit dir, außer mit seinem
Ehrgeiz für deinen Beifall, mit seiner Leistung für
deine Schwäche, mit seiner Virtuosität für deinen
Dank. Dahinter steht ein Mensch, gleichsam kränk-
lich,
sehr argwöhnisch, oft sentimental, ohne Vertrauen,
ohne Traditionen, Emporkömmling, Autodidakt,
überaus einsam und in unruhvoller, ja atemloser
Tätigkeit.
Der Literat als Schöngeist
Er ist ein Kind des Reichtums, oder wenn nicht dies,
so versteht er es doch, sich die gemeinen Sorgen
vom Leibe zu halten. Nicht als ob er ein bequemer
Herr wäre; er ist im Gegenteil gar nicht bequem, er
hat nur einen leidenschaftlichen Hang zur Bequemlichkeit,
der ihm oft das Leben so unbequem wie möglich
macht. Schon das bloße Nachdenken, geschweige
denn die Beflissenheit, Bedürfnisse und Ansprüche
zu befriedigen, die einem gewöhnlichen Menschen
keinerlei Kopfzerbrechen verursachen, stürzt ihn in
Qualen und aufreibende Arbeit. Bis er dazukommt,
den eigentlichen Zwecken zu dienen, ist die Hälfte
seiner Seelenkraft schon aufgebraucht.
Seine Neigungen sind luxuriös in jedem Sinn. Er
liebt die Fülle, die Seltenheit, die Kostbarkeit; er liebt
die Dinge dinglich, mit wahrer Freude am Gegenstand,
doch nur seltene und kostbare Dinge, oder
solche, die schon gleichsam eine Metapher bilden
oder enthalten. Am Häufigen und Niedrigen das Charakteristische
zu schätzen, dazu fehlt ihm die Lust, ja
die Möglichkeit, weil er sich zu weit nach der andern
Seite entfernt hat. Da aber das Leben mehr aus Häufigem
und Niedrigem besteht als aus Seltenem und
Kostbarem, so ist er kein Beobachter des Lebens,
sondern ein Beschauer. Trotzdem hat er keine Beschaulichkeit,
denn er hat keine Naivität.
Man muß seine Bildung als profund bezeichnen und
seinen Geschmack als über jeden Zweifel erhaben.
Dies läßt auf große Ausdauer schließen, auf einen
sicheren Blick und ein präzis abwägendes Urteil. Eine
derartige Vereinigung von Bildung und Geschmack
kann ferner nicht ohne ernsthafte Selbstzucht erreicht
werden; ist sie noch dazu einem Temperament abgerungen,
das zu Exzessen veranlagt ist, so entsteht eine
geistige Kultur edelster Kategorie, in welcher der Begriff
Vornehmheit zu tiefer Bedeutung gelangt.
Warum ist aber der schöpferische Mensch nicht in
derselben Bedeutung vornehm? Weil er mit dem
Niedrigen und Häufigen des Lebens ebenso verbunden
ist wie mit dem Seltenen und Kostbaren; weil
sein Wesen nicht darauf gerichtet ist, sich zu distanzieren,
sondern sich zu identifizieren; weil er nicht
Beschauer ist, sondern Mitlebender, nein, im Innern
der Dinge und der Kreaturen Lebender.
Wenn der schöpferische Mensch in sich selbst sein
Werk objektiviert, so distanziert es der Literat als
Schöngeist. Das Mittel zur Distanz verleiht ihm die
Form, der Stil. So ausnahmshaft seine Person ist, so
ausnahmshaft ist sein Stil, durchaus das Niedrige und
Häufige meidend, durchaus das Unterscheidende
suchend und unterschieden bis zum Gesuchten. Keine
Figur, keine Bewegung, keine Schilderung, kein Ge-
fühl
besteht durch sich selbst, schmucklos, sachlich,
eigenkräftig, sondern sie werden durch den Stil hervorgebracht,
anscheinend geläutert, in Wirklichkeit getrübt.
Denn dieser »Stil« ist nicht von der Hand und
vom Willen gelöst; er zwingt immer zur Aufnahme
und Betrachtung eines persönlichen Elements und
verhindert, daß man sich hingibt und daß man glaubt.
Man glaubt nicht an den Schauspieler, der verstehen
läßt, daß er eine exquisite Rolle spielt, und der Literat
als Schöngeist ist ein solcher Schauspieler, ein Schauspieler,
der sich nicht opfern und vergessen kann, weil
er vor dem Spiegel spielt statt vor Gott, der Schauspieler
seiner selbst.
Er kann ohne den Stil nicht denken, nicht träumen,
nicht gestalten. Seine Phantasie ist nicht wortgebunden.
Im Wort ist er frei, durch Bildung und Wissen
sowohl wie durch einen imperatorischen Zug seines
Geistes, vermöge dessen er alles Detail der Erscheinung
sammelt und sublimiert. Aber rhythmisch gebunden
ist seine Phantasie, in Schwingung, Ton,
Melodik, Absetzung und Steigerung so gebunden,
daß die Beschäftigung damit, die vorbereitende wie
die ausführende, die ganze Atmosphäre des Lebens
füllt und das Leben selbst gewissermaßen zu einem
prädestinierten Verlauf zwingt. Das Formhafte wird
ein Gesetzmäßiges, und die Folge davon ist, daß das
Ethische ein Zufälliges wird, zumindest in Abhängigkeit
gerät. Äußerlich wie innerlich findet beständig
eine Verdrängung der Hauptwerte, eine Verschiebung
des Substantivischen hinter das Attributivische statt,
woraus sich ein ungesundes und unklares Verhältnis
zwischen der Anschauung und dem Bild, der sinnlichen
Wahrheit und der Metapher ergibt. Bild und
Gleichnis werden isolierte Faktoren, die sich eigenwillig
aufdrängen; der Weg von der Anschauung zum
Bild ist oft so weit, daß der natürliche Wärmezufluß
versickert und an dessen Stelle eine künstliche Glut
tritt, Überhitzung des Ausdrucks, Überladung des
Gehalts, Verzerrung der Form. Die beleidigte Ökonomie
läßt keine echte Schönheit mehr aufkommen;
wir gewahren entweder ein kaltes Gebilde, Ohr- oder
Augenweide, aber im Grunde entseelt, oder eines, das
uns wie in willenlosem Trotz gegen die Überwucherung
der Metapher durch einen vergewaltigenden Subjektivismus
ernüchtert und zweckbewußt macht.
Denn es ist nicht die Leidenschaft, die mich verwandelt,
sondern die Verwandlungen der Leidenschaft
verwandeln mich mit, also letzten Endes ein Moralisches.
Auf dieses Moralische muß der Literat als
Schöngeist verzichten. Er scheint es zu verschmähen,
aber er muß darauf verzichten, weil er sich nicht verwandeln
kann, weil er, wie der Psycholog und wie
der Tribun, an seine Person geschmiedet ist, weil auch
er nur den Weg hat, obschon es ein anderer Weg ist,
und weil er am Ziel stets bei sich selbst anlangt. Er
kann sich nicht verraten; er steht zu fern. Das
Moralische beschwert sein Gewissen nicht mehr, er
leidet nicht darunter, es kommt nicht mehr in Frage
für ihn. Er spielt. Seine Gebilde können leicht und
schwebend sein wie Seifenblasen, sie können schwer
oder flammend sein, aber sie werden niemals jene unbedingte
Eigenlebigkeit zeigen, die dem Werke des
schöpferischen Menschen innewohnt, sie bleiben an
seine Person gebunden und haben gleichwohl nicht
das Höchst-Persönliche, das erst aus dem Mythischen
strömt und das daher identisch mit höchster Sachlichkeit
ist. Insofern ist sein Schaffen Spiel: weil es
nicht höchste Sachlichkeit ist. Da gibt es nur ein Entweder
– Oder.
Er mag Gemüt besitzen, doch ist es wie ein Fluch:
während er seine Werke hervorbringt, vielleicht schon
in der Konzeption, verzehrt der Rhythmus einen
Teil der ursprünglichen Empfindung. Der Rhythmus
herrscht; die Einfachheit läßt ihn erlahmen, erst im
Komplizierten und Beziehungsvollen kann er sich
entfalten, es sei denn, daß er das Einfache so weit
distanziert, daß es schon wieder metaphorisch wird,
als Stilisierung verblaßt, als Arabeske sich verkrümmt.
Niemand kennt besser denn der Literat als Schöngeist
die ewig gültigen Werte schöpferischer Kunst. Daß
er sich an ihnen mißt, daß er immer wieder wähnt,
nicht nur mit ihnen wetteifern, sondern, wenn günstige
Zufälle zusammentreffen, sie auch erzeugen zu können,
daß er sich darüber täuscht und doch wieder,
vermöge seines präzisen Urteils, die Täuschung nicht
aufrecht erhalten kann, das ist sein tiefstes Leiden.
Schon dieses Leidens wegen ist er kein Epigone zu
heißen; er ist weit mehr, er ist Prätendent, der niemals
gekrönt wird, der zweitgeborene Bruder, und er
versteht oft mehr vom Regieren und von der Verwaltung
als der Regent, der Erstgeborene.
Möglich, daß er aus diesem Grund etwas von einem
unruhigen Diplomaten hat. Er muß immer ein wenig
Politik treiben, um Proselyten zu machen. Denn man
wehrt sich gegen ihn; die Wahrheit ist in den Menschen
wie das Herz, sie wird nur verschleiert durch
die Geschäfte des Lebens und durch unreine Zwecke
abgelenkt. Aber auch aus Liebe zur Schönheit wird
er zum Politiker, da er den Rhythmus, von dem er
beseelt ist, in seiner täglichen Existenz gleichfalls
nicht missen will. Er meidet dich heute, wie er dich
gestern gesucht hat, denn heute störst du seinen
Rhythmus, wie du ihn gestern beschwingt hast. Der
Rhythmus macht ihn treulos und tyrannisch, liebenswürdig
oder widerspenstig. Je unfruchtbarer er als
Künstler ist, je mehr Kunst verwendet er auf sein
Leben, d. h. darauf, den Rhythmus in seine tägliche
Existenz zu bringen, wobei dann ein ganz verwickelter
Umweg zum Leiden entsteht, über die Kunst und über
das Leben hin, fern von Gott und fern von den Menschen,
so daß die Schönheit als Surrogat des Göttlichen
zum Wahn- und Schattenbild wird und das
Leben eine von falschen Zwecken erfüllte kalte und
unglückselige Einsamkeit. In solcher Einsamkeit gestalten
wollen heißt im luftleeren Raum Lieder singen
wollen.
So wird der Literat als Schöngeist zum Sklaven der
Zeit, indem er ihren Rhythmus packt und ihre Seele
nicht findet und zerrieben wird im Gefühl einer ihm
unbegreiflichen Ohnmacht; oder er ist ein Verbannter
der mit unlebendigen und eigenwilligen Formen sich
für sozial und seelisch fördernde scheinbar tröstet.
Der Literat als Apostel
Es ist das Wesen des Apostels, völlig hingegeben
einer Idee zu dienen. Das Wesen des Literaten ist
es, sich selbst unterworfen zu sein. Der Literat als
Apostel: das wäre also der Widerspruch kat exochen,
das Paradox an sich, denn wie könnte man einer Idee
dienen, wenn man nur der eigenen Person dient? Wie
könnte einer, dessen Schicksal es ist, vom Mythos getrennt
zu sein, sich berufen glauben, den Mythos zu
erzeugen?
Dieser Widerspruch löst sich nur in einer einzigen
Weise: indem er seine eigene Person zur Idee erhebt,
in der er darauf ausgeht, aus sich selbst einen Mythos
zu machen, aus seinem stabilierten Ich; nicht aus Anschauung
und Erlebnis der Welt, nicht hingegeben,
sondern verlangend, wollend und in der Bezauberung
des Willens.
Der Literat als Apostel ist der fanatisch auf das
Künstlertum gerichtete Mensch. Genuß des Lebens,
verweilende Ruhe sind ihm unbekannt. Man könnte
glauben, es sei der Ehrgeiz, der ihn befeuert, der Erfolg,
der ihn lockt, die Macht, die ihn reizt, und es ist
wahr, etwas von alledem gibt seinem Streben den Flug
und die Ausdauer, seinem Geist die Elastizität. Doch
laßt seiner Ruhmsucht so viel Genüge geschehen, als
sie überhaupt begehrt, laßt seinen Namen an der
Spitze von allen stehen, laßt ihn den Einfluß eines
Herrschers und den Reichtum eines Großbankiers
haben, – es ist ihm zu wenig; er kann es wünschen,
glühend darnach eifern, doch den Besitz solcher Güter
spürt er kaum. Er ist ein Besessener, ein von der Kunst
Behexter. Es ist ihm nicht darum zu tun, das Leben
zu genießen. Sich selbst will er genießen, sich selbst
ausschöpfen, sich selbst in allen Menschen und Dingen
erkennen, und das ganze All, Gott und die Kreaturen,
ist ihm eigentlich nur sein vielfach zerteiltes
Ich, gesehen durch das Medium Kunst, zu sammeln
und zu gestalten ihm anbefohlen durch das Idol
Kunst.
Der schöpferische Mensch ist von einer wunderbaren
Bescheidenheit durchdrungen. Immer bleibt er gleichsam
Bürger der Welt; er findet sich eingeordnet, nie
bevorrechtet; gesteht man ihm höhere Rechte zu, so
wird er schon an sich zu zweifeln beginnen. Er hat
das feinste Ohr für die Musik des Lobes und setzt
dem geringsten Zuviel seine Verachtung entgegen. Er
ist gelassenen Gemüts, weise und gehorsam, sich selbst
gehörig und der Welt und der Gottheit dienstbar, sein
Künstlertum wahrend, keineswegs aber es als Schild
benutzend oder gar als Postament. Vielleicht ist es
der Mythos, der ihn so bescheiden macht, so stolz-bescheiden,
ähnlich wie der Abkömmling eines alten
Geschlechts stolz-bescheiden ist, indem er seine Fähig-
keiten
und das Vermögen zu repräsentieren nicht
allein seiner losgelösten Person zuschreibt, sondern es
der Kette der Ahnen mitverdanken will. So auch der
schöpferische Mensch. Es wirken in ihm Kräfte von
oben, von den Toten her, von der Erde, vom Volke
her.
Ganz anders der Literat als Apostel. Er ist der Rebell
wider alle Ordnung, es sei denn, die Ordnung habe
keinen andern Bezug als auf ihn. Ihm ist alles erlaubt,
nicht weil er wie der Psycholog alles erklären kann,
sondern weil er es ist, durch den die Dinge und Einrichtungen
sind. Insoferne verhält er sich zum Psychologen
wie ein Gesetzgeber zu einem Winkeladvokaten.
Ihm ist Lobes nie genug, obwohl er Lob verachtet; es
gibt keinen Beifall, der ihn beschämte, keinen Tadel,
der ihm anderes wäre als die Frechheit des Neides
oder der Dünkel des Unverstands. Er ist ausschweifenden
Gemüts; seine Nerven sind der höchsten
Schwingungen, der tiefsten Ermattungen fähig, und
die Menschen sind ihm nichts als Futter; Futter für
seinen Ruhm, seine Zwecke, seine Kunst. Er ist ein
Menschenjäger, ein Menschenfresser, keines Freundes
Freund, kein Geliebter, kein Gatte, kein Vater,
nur Künstler. Ist der Literat als Schöngeist der Schauspieler
seiner selbst, so ist der Literat als Apostel der
Priester seiner selbst.
Beachten wir jedoch, daß er ein großer Künstler ist
und sein Werk von hohem Belang, daß er unter Um-
ständen
ganzen Zeitabschnitten die geistige Prägung
verleiht, und es wäre zu fragen, ob dies nicht Entschädigung
genug sei für das Übermaß und die Selbstintronisation.
Da ist denn zu erwidern, daß unsere Zeit ohnehin
geneigt ist, sich mehr an den Wirkenden als an das
Werk zu wenden. Dem genialen Individuum ist eine
unbegrenzte Machtbefugnis fast von vornherein zugestanden.
Die Leistung, das ist die Person; der Effekt,
das ist die Person; Glorie, Dankbarkeit und Enthusiasmus
knüpfen sich an die Person. Die Person ist
schon Partei, wo das Werk kaum noch die Geister erweckt
hat; sie gebietet den Unschlüssigen, schüchtert
die Zweifler ein und bricht den Widerstand der
Stumpfen. Wohlgemerkt aber nicht die reale Person,
nicht der handelnde Mensch an sich; dieser hat wenig
Spielraum, ist eingezwängt in ein verwickeltes gesellschaftliches
Gewebe, ein engmaschiges Netz von
Pflichten und Gesetzen und führt meist ein privates,
kleines Leben voller Hemmungen. Will er derjenige
sein, als der er gilt, so muß er den Kreis seines Wirkens
durch die Fackel seines Namens erleuchten, er
muß das Zeugnis seiner Leistung vorweisen können.
Dann allerdings wird ihm die Ehrfurcht gezollt, deren
die Kunst, als Idee, sonst völlig verlustig geht.
Man kann also sagen: Die reale Person wirkt erst
durch das Medium der Werke, die fiktive durch das
Medium des Künstlers, was natürlich das Verkehrte
ist. Es liegt darin nichts Religiöses und Verwandelndes
mehr, sondern Aberglauben und Götzendienst.
In einer religiösen, mythisch-bewegten, sachlich, nicht
individuell fixierten Zeit trennen sich Schöpfer und
Gestalt überhaupt nicht voneinander, führen nicht
ein von der Gemeinschaft der Menschen losgelöstes
Dasein, der Schöpfer als Literat, als »Schriftsteller«,
die Gestalt im Buch oder höchstens als ästhetische
Metapher im Leben; nein, der Schöpfer, in seiner Bescheidenheit,
bleibt Teil der Gemeinschaft, und seine
Gestalten umgeben ihn wie Glieder einer Familie den
Patriarchen; sie allein sind die Träger seines Namens,
nicht aber die literarische Idee, die er von ihnen abstrahiert.
Der große Künstler wird in seinem Persönlichkeitsbewußtsein
leicht einem Übermaß verfallen, da er es
immer dort gefährdet findet, wo er von seiner Gestaltenwelt
gelöst auftritt, also in seiner privaten Existenz,
oder in seiner öffentlichen, wenn er keine Harmonie
spürt zwischen künstlerischer und persönlicher
Wirkung, und die kann er nur selten spüren bei der
Zerstücktheit, Unverläßlichkeit und Zufälligkeit aller
Wirkungen. Es erscheint ihm notwendig, sich zu steigern,
sich in Szene zu setzen, sich geheimnisvoll zu
machen, sich zu kommentieren und sich selbst als Idee
vor das Werk zu setzen.
Davon hat die Zeit sich mehr und mehr täuschen
lassen und sich gewöhnt, Persönliches für Sachliches
zu nehmen. Gierig greift sie nach Persönlichem, wo
das Sachliche fremd oder spröde ist, und sie tut es
schon deshalb mit instinktiver Vorliebe, weil das
Sachliche stets in irgendeiner Weise menschlich verpflichtet.
Von solcher Verpflichtung will man sich jedoch,
wo es angeht, freihalten; man will reden und
urteilen, nicht aber durch handelndes Gefühl anteilvoll
verkettet sein. Nicht umsonst sind wir überschwemmt
von Mitteilungen aus dem Privatleben der
Künstler. Nicht umsonst werden Briefe, Tagebücher,
Aufzeichnungen, Skizzen, Fragmente der Neugier verfrüht
preisgegeben. Wird der Alkoven geöffnet und
die Werkstatt ausgekehrt, so mag der Wissensdurstige
sicher bisweilen befriedigt, der Forscher belehrt werden,
doch vorzüglich wird nur dem Hang der Gesellschaft
nach Sachverschleierung gedient. Das Göttliche
wird beleidigt, indem man den Menschen vergöttert.
So ist z. B. der Mythos Goethe eine Beute der Persönlichkeit
Goethe geworden, und Goethe selbst hat
durch einen Subjektivismus, der ihm anstand und
einen Teil seiner Genialität ausmachte, einen Kult
des Redens über die Dinge, der Meinungsäußerung,
der persönlichen Ausholung und Zwecksetzung und
damit eine Armee von Literaten in die Welt gerufen,
die sehr wohl Bescheid wissen über alle Probleme des
Lebens, die aber sehr wenig vermögen, wo es gilt sich
einzusetzen, sich hinzugeben, sich, d. h. die Meinung
zu vergessen, um einer Sache zu dienen.
Der Literat als Apostel ist bis zu einem Grad Eroberer,
Mensch des Willens und der Sucht, daß er
sogar seinem Werk einen Willen verleiht, eine Sucht
über die Kunst hinaus. Er will es gültiger haben, als
es der Kunst eigen ist zu gelten, und durch die Kraft
seines Künstlertums vermag er es in ungeheurer Weise
so zu steigern, daß es dieses Ziel wirklich zu erreichen
scheint. Hier ist eine Schwäche, die mit erstaunlicher
Täuschungsmacht das Schauspiel einer Stärke bietet,
um später freilich, wenn die Gewalt der Persönlichkeit
dem Walten des Schicksals gewichen ist, sich wieder
als Schwäche, als Irrtum zu zeigen. Nur das Göttliche,
das Schöpferische hat Bestand; das Menschliche
ist flüchtig, auch Vergötterung ist nur Finsternis. Haben
wir es nicht erlebt, wie die Idee des Gesamtkunstwerks
als bizarre Laune eines Genies in sich zusammenstürzte?
Es war etwas anderes und tieferes als bizarre
Laune. Es war das Mißverständnis am Mythos.
Denn es ist klar, daß der Literat als Apostel, da er
keine Selbstlosigkeit besitzt, keinen Mythos aus sich
schaffen kann. Auch wo er äußerlich zum Mythos
greift, zu einem Mythos, der mehr Sage ist als lebendig
gebliebene Bildung, und ihn durch Kunst vergegenwärtigt,
wird er nur Allegorie geben, privates
Leiden, persönliche Kämpfe, seine egoistischen, wenn
auch großartigen Entfaltungen und Wandlungen in
Umrissen, die vom Mythos nur erborgt sind. So wird
auch die Menschheit bloß den spezifizierten Schmerz
darin erkennen; jeder einzelne wird in diesem Schmerz
doppelt allein mit sich sein, aufgereizt zu sich, verlangend
nach sich, behext, berauscht, aber nicht verwandelt,
nicht erlöst.
Dieselbe Herrschsucht, die den modernen großen
Künstler dazu verführt, sein Werk über die Grenzen
der Kunst hinauszutreiben, ihm gleichsam, nach Hamlets
Worten, die Bescheidenheit der Natur zu rauben,
kann den Philosophen, sofern er Literat ist, dazu
überreden, sich zum Märtyrer seiner Lehre zu machen.
Daß diese Lehre eine lebenverneinende ist, versteht
sich nach allem Dargelegten von selbst; der Literat
ist ja wesensnotwendig ein Pessimist. Nun kann der
Pessimismus allerdings in einem freien System als Gestaltung
auftreten, die sternhaft oder kosmisch existent
ist wie ein Kunstwerk; in diesem Fall stellt eben die
schöpferische Kraft des Bildners oder Architekten als
lebensbejahendes Element den Ausgleich her. Wenn
aber der Pessimist den Beweisantrag auf das eigene
Ich stellt und durchführt, ist aus dem Symbol ein
Wörtliches geworden; da ist nicht mehr der Dualismus,
der den schöpferischen Menschen in die Mitte
von Irdischem und Himmlischem führt, da ist die
Sackgasse, das Persönliche, persönlich Endliche, und
das Prinzip und Gesetz des Schaffens selbst wird
verneint.
Der Literat kommt aber nicht von der Psychologie
los, von der theoretischen nicht und von der ange-
wandten nicht. Man möchte sagen, er nimmt es mit
der Wahrheit zu genau, – soweit er Künstler ist, und
er hütet sich, als Mensch, zu wenig vor der Verzerrung.
Seine Unabhängigkeit schenkt ihm keine Freiheit,
sein Ichbewußtsein entfernt ihn von der Liebe;
er ist die tragische Figur der modernen Welt und, zum
Apostel berufen, bricht er auf dem höchsten Gipfel
seiner Persönlichkeit, seiner Einsamkeit und seines
vergeblichen Gottverlangens vor dem Unerreichbaren
zusammen.
Die Frau als Literat
Dieses Kapitel ist eigentlich ein Einschiebsel, denn
in bezug auf die Frau als Literat ist nach allem
bisher Ausgeführten nur noch Selbstverständliches
zu sagen. Immerhin gehört das Thema zur Geistesgeschichte
der Zeit, denn nie zuvor haben Frauen in
solcher Zahl und mit solcher Energie schriftstellerisch,
künstlerisch produzierend sich bemerkbar gemacht.
Die Frau besitzt keine schöpferische Phantasie. Das
ist kein Streitsatz, sondern ein Erfahrungssatz; eine
Tatsache, die einem Naturgesetz entspricht. Es ist die
Aufgabe der Frau, Mutter zu werden, Leben zu empfangen,
Leben zu gebären. Als Weib, als Mutter ist
sie gewissermaßen an sich selbst schon ein Stück Mythos,
und Gott hat es deshalb für überflüssig erachtet,
sie mit einer mythosschaffenden Kraft zu begaben.
Ihr Künstlertum ruht in der Liebe, ihre Idee ist die
Mutterschaft, ihr Werk ist das Kind. Wenn also die
Frau sich künstlerisch hingibt, so entsagt sie dadurch
ihrer wahren Bestimmung, verzichtet freiwillig auf
das Schöpferische und wird zum Literaten, und zwar
zum Literaten schlechthin, zum Literaten ohne schöpferische
Phantasie, welche ja dem Psychologen, dem
Schöngeist, dem Apostel durchaus nicht mangelt;
ganz im Gegenteil, können diesen doch Werke ge-
lingen,
die den Werken des schöpferischen Menschen
nahezu ebenbürtig sind.
Ich verkenne nicht die Arbeit der Frau; nicht den ehrlichen
Willen, nicht die Tüchtigkeit und Geschicklichkeit,
nicht die Fähigkeit zur Anpassung und Ausführung,
nicht die oft zutage tretende Besonderheit
des Schauens, nicht den sicheren Instinkt, nicht das
vollgültige Empfinden, nicht die Gabe des Traums
und des poetischen Ausdrucks. Ich weiß, was geleistet
worden ist; ich erinnere mich zarter Gedichte, robuster
Erzählungen, anmutiger und starker Bildnisse,
überzeugender Schriften; einer Fülle von respektablen
Hervorbringungen. Aber sie waren mir um so respektabler,
je weniger objektiv sie scheinen wollten, je weniger
sie zu Gestaltungen griffen, je mehr sie einem
Gefühl, einem Erlebnis, einem Unmittelbaren Stimme
verliehen. Nicht Gestalt also; Stimme, das ist es, Stimme
oder Stimmung, etwas, das so fern vom Mythos liegt
wie ein Quellchen vom Meer.
Das Vermögen, ein Weltbild zu objektivieren, ist nur
der schöpferischen Phantasie gegeben. Mit Hilfe des
Fleißes, bewußter oder unbewußter Nachahmung und
der Aneignung erprobter Disziplinen gelangt die Frau
bisweilen zu Gebilden von scheinbarer und äußerlicher
Objektivation, und ihre Lust wie ihr Talent zur
Beobachtung befähigt sie, eine niedere Realität von
Zuständen und Geschehnissen darzustellen, welche
unterhaltend, geistig und gesellschaftlich anziehend
sein und, soweit sie auf Erlebtem und Gefühltem beruhen,
der Wahrheit und Glaubhaftigkeit nicht ermangeln
werden. Das Metaphorische, das Elementare,
das Schöpferische, die Synthese ist ihr jedoch versagt,
und je mehr sie darnach strebt, je unzulänglicher müssen
sich ihre Produkte erweisen; sie stehen dann in
der Luft, wurzellos, ziellos und wollen durch Unruhe,
Leidenschaftlichkeit und Fieberhaftigkeit ersetzen,
was ihnen an Natur und Legitimität, – durch
Linie und Schnörkel, Seltsamkeit und Überhäufung,
was ihnen an Antlitz und Naivität fehlt.
Bisweilen fragt man sich: warum werden die Frauen
zu Literaten? Ein Buch, und noch ein Buch, und noch
eine Meinung und noch ein Vers und noch eine bemalte
Leinwand, – darum handelt sichs doch schließlich
nicht. Ein Blick, ein echtes Wort, eine Wirkung von
Mensch zu Mensch, menschliches Aufmerken, Bereitschaft
des Herzens können mehr, weit mehr bedeuten.
Das Übel ist auch hier in einer zerklüfteten, anarchisch-gelösten
Gesellschaft zu suchen, die keine lebendige
Organisation hat und in der deshalb jede Fülle zur
Überfülle, jeder Überfluß zur Last, jede Hemmung
zu falscher Betätigung und jede Abtrennung der einzelnen
Mitglieder bei unzureichender individueller
Kraft und Bestimmung zur Katastrophe wird. Die
Literatur gilt als ein Gewerbe wie jedes andere; das
sogenannte Talent genügt zum Vorwärtskommen.
Der Einfall wird überschätzt; zum Einfall gehört
auch das Detail; die Detailkrämerei beginnt schon,
uns geistige Verdauungsbeschwerden zu erregen; die
Mache, die Gebärde, der fast von selbst arbeitende
sprachliche Mechanismus; die Gewohnheit, sich meinungsmäßig
zu äußern, sich einer seelischen Spannung
zu entäußern, indem man sie preisgibt und in einer
quasi dichterischen Form, die meist zur Schamlosigkeit
kalter Psychologie führt, versteinert zur Schau stellt;
die Leichtigkeit und Schnelligkeit der Mitteilung, dies
alles ermuntert den einzelnen immer wieder, sich literarisch
zu isolieren und sich politisch, sozial und menschlich
damit abzutöten. Wenn man zur Einsicht käme,
daß das sogenannte Talent in den meisten Fällen nur
ein Wesen ist, das in freiwilliger Verbannung von einer
Gemeinschaft lebt, der es nicht nützlich sein kann, ein
Parasit und Freibeuter, wäre schon viel gewonnen, und
die dreißigtausend Bücher, die jährlich in Deutschland
auf den Markt strömen, würden unter dem Druck
eines weiseren Urteils und einer sachlicheren Wahl
auf eine notwendigere Anzahl zusammenschrumpfen,
die vielleicht mehr Gehalt in sich schlösse.
Die Frau als das zur Liebe und Empfängnis bestimmte
Geschöpf menschlich und geistig isoliert, in sozialer
Unfruchtbarkeit und egoistischer Verpersönlichung
ihres tieferen Schicksals, ihrer schönen anonymen
Wirkung (wie vieles verdankt doch ihrer Teilnahme
der Ruhm unserer großen Künstler), ja, ihres Lebensmythos
beraubt zu sehen, gewährt ein trauriges Bild
weitgreifenden Mißverständnisses. Ich spreche natürlich
nicht von der Schauspielerin, der Sängerin, von
rezeptiven Künsten; diese harmonieren, solange nicht
ein literarischer Einschlag durch übertreibenden Ehrgeiz
und individuelle Zwecksetzung stattfindet, sehr
wohl mit der weiblichen Seele, mit ihrer geistigen
Wandlungsfähigkeit, Anschmiegung des Gefühls und
Poetisierung der Realität. Die Tänzerin, die lediglich
ihren Körper zur Kunstäußerung verwendet, bietet
vielleicht das edelste Bild weiblicher Genialität. Nur
wo das Schöpferische vorgetäuscht wird, zeigt sich
die Frau (mit Ausnahme von zwei oder drei Fällen
innerhalb der ganzen Geistesgeschichte) sogleich als
Literat schlechthin. Die Natur läßt sich nicht betrügen;
auch die Menschheit nicht; nur die Menschen
lassen sich betrügen. Sie tun, als glaubten sie, auch
wo ihr Inneres unbeteiligt ist; sie nehmen das Wunderliche
für das Wunder, den Notbehelf für das Notwendige,
das Phantom für das Phänomen. Die Frau
als Literat braucht sich nicht mehr zu verraten; es ist
nichts zu verraten; es ist alles von einfachster Aufrichtigkeit,
Geradlinigkeit und Durchschaubarkeit. Wir
erblicken einen tüchtigen, emsigen, klugen und nachdenklichen
Arbeiter, dem weder Wort, noch Rhythmus,
noch Idee zur Maske werden können und der
den Schmerz der Einsamkeit nur gemütisch ahnt, nicht
geistig steigert und auflöst; keine tragische, sondern
nur eine charakterisierte und zufällige Gestalt.
Ergebnisse
Der Literat ist der vom Mythos losgelöste produktive
Mensch.
Er ist auch der von der Gesellschaft losgelöste Mensch,
der einzelne, innerhalb eines nur durch äußere Gesetze
verkitteten Gemeinwesens.
So wie er aber ohne das Vorbild des schöpferischen
Menschen nicht zu denken ist, bleibt er auch in seinem
Tun und Lassen, durch sein Persönlichkeitsbestreben,
durch die Notwendigkeit der Spiegelung, durch das
Element des Ehrgeizes und durch das Element des
Verrats der Gesellschaft verbunden.
Der Literat ist vergeßlich. Er ist lieblos, weil er allzusehr
in sich selbst verstrickt ist. Er anerkennt keine
Konvention, weil nur seine eigene Person ihm den
Maßstab für die Welt und die Dinge gibt. Dieser
Mangel an Konvention verführt ihn zu einer künstlichen
Originalität mit Hilfe der seltenen Beobachtung,
des seltenen Wortes, des seltenen Rhythmus.
Der Literat ist eitel und sehnsüchtig, eitel selbst, wo
er sich bloßstellt, und sehnsüchtig am meisten dort,
wo er sich verliert. Er ist friedlos, immer nach Veränderung
begierig, versteht aber nicht zu wandern.
Sein Verhältnis zu Menschen ist selten dauernd; er
stellt die höchsten Ansprüche von seiner Seite, ohne
die billigsten von der andern Seite zu befriedigen.
Er kontrolliert seine eigenen Handlungen, Gedanken
und Gefühle sehr scharf, ja grausam. Es mangelt ihm
an jener Ehrfurcht vor sich selbst, die den schöpferischen
Menschen auszeichnet. Weil er so unbarmherzig
und rücksichtslos gegen sich selbst ist, glaubt
er es auch gegen andere sein zu dürfen, aber er vergißt,
daß jenes Wüten gegen die eigene Seele nur ein
Vorwand zum Verrat ist, nicht aber ein Mittel zur
Reinigung, Steigerung und Befreiung. Selbstbeobachtung,
Selbstzerfaserung ist ein Unglück, wie es
größer kaum zu denken ist; alle ursprüngliche Kraft
des Glaubens, alle Fähigkeit zur sittlichen Erhebung,
zur Umwandlung, geht daran zugrunde. Auch der
religiöse oder der schöpferische Mensch beobachtet
sich selbst, aber er wird sich dabei zum Gleichnis;
durch diese Gleichniswerdung kann er sich korrigieren
und bescheiden.
Nicht ohne tiefen Grund findet sich eine so große
Zahl von Literaten unter den Juden. In der Existenz
des Juden gibt sich die schärfste Gegensätzlichkeit
geistiger und seelischer Eigenschaften kund. Er ist
entweder der gottloseste oder der gotterfüllteste aller
Menschen; er ist entweder wahrhaft sozial, sei es in
veralteten, leblosen Formen, sei es in neuen, utopischen,
das Alte zerstörenden, oder er will in anarchischer
Einsamkeit nur sich selber suchen. Entweder ist
er ein Fanatiker oder ein Gleichgültiger, entweder ein
Söldner oder ein Prophet. Das Schicksal der Nation,
ihre Vereinzelung unter fremden Nationen, ihre ungeheuren
wirtschaftlichen und geistigen Anstrengungen
im Kampf gegen die widrigsten Umstände,
der fortwährende Zustand der Abwehr, der Selbstbehauptung,
das plötzliche Erwachen am Morgen
eines Kulturtags, das leidenschaftliche Ergreifen der
Hilfsmittel und Waffen dieser Kultur und die darauf
erfolgte gewaltsame Unterdrückung und Zerschneidung
der Tradition, all das hat die Juden als ganzes
Volk zu einer Art von Literatenrolle vorbestimmt.
Wo sich hingegen der einzelne wieder des großen Zusammenhangs
bewußt wird, wo er im Schoß der Geschichte,
der Überlieferung ruht, wo urewige Symbole
ihn tragen, urewige Blutströme ihm Adelsbewußtsein
verleihen und zugleich alles Errungene und Erworbene
organisch damit verschmilzt, da mag er wohl
den Weg zu Göttlichem leichter als andere finden.
Der Jude als Europäer, als Kosmopolit ist ein Literat;
der Jude als Orientale, nicht im ethnographischen,
sondern im mythischen Sinne, als welcher die verwandelnde
Kraft zur Gegenwart schon zur Bedingung
macht, kann Schöpfer sein.
Alle Berufe und alle Stände haben ihre Literaten. Man
kann den Satz aufstellen: Jeder Fachmann ist ein Literat,
jeder Laie trägt noch etwas von Mythos in sich.
Denn alles Fachwesen und Spezialistentum ist nur ein
Merkmal des großen Individualisierungsprozesses der
Zeit. Vertiefung zwingt zur Absonderung, die Fülle
zur Arbeitsteilung. Das ist gut und unerläßlich. Nun
ereignet sich aber das Seltsame, daß gerade bei dieser,
die Selbstbescheidung gebieterisch fordernden Tätigkeit
der einzelne die argwöhnische Wachsamkeit des
Psychologen, die Herrschsucht des Tribuns bekundet,
daß er sich von allem, was nicht sein Fach betrifft, in
trotziger und gleichgültiger Entfernung hält und ein
Leben außerhalb des Fachs oft kaum mehr kennt. Der
Literat ist der geborene Zünftler.
Laien geben einem Literaten bisweilen den Rat, er
möge, um in seinem Erwerb nicht ausschließlich auf
die Kunst angewiesen zu sein, daneben ein Amt oder
einen Brotberuf wählen. Das ist geradeso, als wollte
man einen ärztlichen Spezialisten dazu überreden,
nebenbei die Tischlerei zu betreiben, weil er zu wenig
Patienten hat. Mit Recht würde er antworten: Mein
Fach fordert den Menschen ganz und gar, meine ganze
Zeit, meine ganze Anstrengung und alle Gedanken.
Der Literat ist eben nur Literat, er kann nichts anderes
sein. Der Vorschlag des Laien ist freilich in jedem
Sinne töricht. Amt und Brotberuf taugen bloß dem
Dilettanten; je innerlicher sein Verhältnis zur Kunst
ist, je mehr muß er unter abziehender Beschäftigung
leiden. Dem schöpferischen Menschen wird sie vollends
zur Qual; auch ihn fordert seine Sache ganz,
wenn schon in anderer Weise, nicht weil er Literat ist,
der erobern will und muß, sondern weil er Mensch
ist, weil Mythos und Menschheit von ihm verlangen,
daß er sich unbedingt und ohne Vorbehalt hingebe.
Erwerb oder Nichterwerb irdischer Güter kommt
dabei in höherem Betracht nicht mehr in Frage;
schlimm genug, wenn es in niederem Betracht zu erwägen
ist.
Indessen gehört die nackte und aufrichtige Gegenüberstellung
der ökonomischen und der geistigen
Mächte zum Bild unserer Epoche. Kapital will Leistung;
Leistung will Nutznießung, Arbeitskraft und
Lebensgefühl steigern sich wechselseitig; Erfolg, Bestätigung
und Lohn sind dem einzelnen rascher und
reichlicher zugemessen als je, und wenn auch der
Lockung oft nur gefolgt wird, weil eine Erfüllung
so nahe scheint, der Ruf nur deshalb so viele Hörer
findet, weil in ihm die Befriedigung ausschweifender
Ansprüche verheißen wird, so kann doch kaum
eine Prämie ausbezahlt werden ohne den vollen, ja
leidenschaftlichen Einsatz von Tüchtigkeit und Intensität.
Diese Leidenschaft, dieser Schwung, der unermüdliche
Wetteifer, sie sind vielleicht Zeichen für die Heraufkunft
einer größeren Zeit; schüchterne Zeichen, weil
sie noch ganz am Persönlichen und Egoistischen
haften. Aber wie Eisenteile im Feuer des Hochofens
zusammengeschmolzen werden, so kann die Zerstücktheit
und die Zersplitterung einer individualistischen
Gesellschaft durch einen alle Glieder ergreifenden,
stetigen Strom von Leidenschaft, gleichviel wo er entspringt,
zu organischer Einheit verwandelt werden.
Leidenschaft ist ja die erste und letzte Lebensgewalt;
in ihr vereinen sich Element und Wille; sie kann eine
unproduktive Ordnung zum Chaos führen, aber aus
dem Chaos wieder eine neue Welt erzeugen, Sammlung
aus der Diaspora. Dann mag sich ein Weg auftun
zum Mythos und zu Gott.
Die Kunst der Erzählung
Geschrieben 1904
DER JUNGE:
Es ist wohl über ein Jahr her, daß wir uns nicht
gesehen haben. Seit meine Freundin gestorben ist,
bin ich kaum mehr unter Menschen gekommen, und
ich verlasse mein Zimmer nur zu einsamen Spaziergängen.
Mein einziges Vergnügen sind die Bücher
und das Nachdenken über den Eindruck, den sie mir
gemacht haben. Ich glaube, wenn ich jetzt wieder die
Feder in die Hand nähme, so könnte ich etwas Tüchtiges
leisten.
DER ALTE:
Und wozu treibt es dich denn? Ein Künstler darf
nicht wie ein Jäger sein, der, unbekümmert was ihm
vor den Schuß kommen mag, durchs Gelände streift,
sondern er muß wie ein Seemann sein, der den inneren
Sinn, das innere Auge unablässig auf ein vielleicht
nicht sichtbares, doch tief bewußtes Ziel
richtet. Also wozu treibt es dich? Wozu glaubst du
dich geboren? Welche Insel des Geistes willst du
dir entdecken?
DER JUNGE:
Ich fühle zu nichts anderem Lust und Freude als Geschichten
zu erzählen. In den Stunden der Einsam-
keit
und der Sammlung ist es mir, als ob mein Inneres
bis zum Rand angefüllt wäre mit Ereignissen
und Schicksalen. Oft ist mir zu Mut, als müsse der
ganze Lauf der Welt, von Adams Zeiten an, sich mir
in einer besonderen Weise enthüllen, und ich spüre
das unbezwingliche Verlangen, wie soll ich es nur
sagen?... zu erzählen, zu erzählen.
DER ALTE:
Das ist schön, prächtig sogar. Wenn du dieses Verlangen
wirklich hast und es nicht darin mißverstehst,
wie du es befolgst, dann wärest du allerdings dazu
geboren zu erzählen.
DER JUNGE:
Wie sollte ich es mißverstehen? Warum zweifelst du?
Was gibt es denn Einfacheres?
DER ALTE:
Daß es keineswegs einfach ist, keineswegs selbstverständlich,
könnte dich schon ein Blick auf die heutigen
Erzeugnisse dieser Kunst lehren. Die Meisten
wissen ja gar nicht mehr, was es heißt: eine Geschichte
erzählen, und selbst die Begabtesten bringen lauter
Zwitter- und Mißformen hervor.
DER JUNGE:
Du bist sehr streng wie immer. Ich glaube nicht, daß
du recht hast. Niemals war so viel im Werk wie gerade
jetzt. Auf allen Seiten wird es Tag.
DER ALTE:
Der ewige Irrtum der Jugend.
DER JUNGE:
Dann muß ich fürchten, daß du auch, was ich selbst
bisher geschaffen, verwerfen wirst.
DER ALTE:
Darauf könnte ich erst antworten, wenn ich wüßte,
wie es mit dir steht und ob dich nichts anderes erfüllt
als die Liebe zur Sache, ob dein Geist nichts anderes
erstrebt als die Vollendung in ihr, ob dir vor der
Wahrheit bangt oder ob leichtsinniges Lob dich nicht
schon für immer geblendet hat. Wenn du Angst vor
einer bitteren Stunde hast, dann verbirg es nicht, ich
schweige gern. Du besinnst dich?
DER JUNGE:
Hältst du denn dein Urteil für unumstößlich, für das
einzig mögliche? Kann es nicht auf Täuschung, auf
Unmilde, auf Eigensinn beruhen?
DER ALTE:
Ich will es dir zu begründen suchen, und wenn du
meine Argumente entkräften kannst, werde ich mich
zufrieden geben.
DER JUNGE:
Also sprich.
DER ALTE:
Es gibt dreierlei Arten von Schriftstellern: solche, die
einen eigenen Stil haben und ihn zur höchsten Vollkommenheit
auszubilden vermögen; solche, die einen
eigenen Stil suchen, und endlich solche, die einen
Allerweltsstil vorfinden und sich zu ihm verhalten
wie die Gäste eines Wirtshauses zu den Tischen und
Krügen und Stühlen; sie können niemals zum Herrn
ihres Wortes, ihrer Gedanken, ihrer Phrase werden,
das glühendste Erlebnis muß ihnen erstarren, erhabene
Stimmungen werden trivial, jede Inspiration wird
Absicht, jede Beeinflussung von außen Nachahmung,
alles, was kräftig ist, brutal, und was fein ist, schwächlich.
Aber von diesen Schriftstellern, die die Marktware
für den großen Haufen besorgen, wollen wir
nicht sprechen. Du gehörst zur zweiten Art.
DER JUNGE:
Das wäre ja weiter nicht schlimm. Suchende sind wir
alle. Ja, man kann sagen, daß der allergrößte Meister
bis zu seinem Todestage nicht aufgehört hat zu suchen.
Warum lächelst du?
DER ALTE:
Weil ich an dieser Bemerkung sehe, wie wenig du
mich noch verstanden hast. Wenn die großen Meister
suchen, so wollen sie den Einklang schaffen zwischen
Stoff und Form. Sie wissen, daß es ohne solche Harmonie
überhaupt kein Kunstwerk gibt. Und weil sie
das wissen und auf diesem Wege zur Vollkommenheit
streben und sich wohl hüten werden, die Fülle ihrer
Mittel an den falschen Gegenstand oder am falschen
Ort zu verschwenden, so wird immer etwas entstehen,
was der Kunst und ihrer eigenen Schöpferpersönlichkeit
gemäß ist. Sie suchen mit sehenden Augen, ihr
aber sucht als Blinde; sie gehen den geraden Weg
und kommen an ein Ziel, wenn auch nicht immer an
das gewünschte; ihr aber taumelt im Kreise herum.
Die Suchenden, die nicht um das Wesen wissen, sind
zum Untergang verurteilt.
DER JUNGE:
Du machst mich wahrhaft unruhig. Ich könnte dich
hassen, wenn ich nicht wüßte, wie ernst du es meinst.
Ich ahne, wo du hinaus willst. So rede doch endlich
von mir.
DER ALTE:
Gut. Zwei Dinge, ein scheinbar äußeres und ein scheinbar
inneres, habe ich zunächst an deinen Arbeiten auszusetzen:
nämlich daß sie den Leser nicht mit Behaglichkeit
erfüllen und daß es dem Stoff selbst an
Daseinsnotwendigkeit gebricht. Beides hängt aber
inniger zusammen, als du glaubst; das werde ich dir
bald beweisen.
DER JUNGE:
Was meinst du mit Behaglichkeit? Das Gegenteil
bezwecken wir doch, wenn wir Dichtungen ersinnen:
Erregung, Spannung, Teilnahme, Erschütterung. Ich
glaube, du treibst deinen Spaß mit mir.
DER ALTE:
Geduld. Ich verstehe die Behaglichkeit hier in einem
höheren, künstlerischen Sinn. Ich verstehe darunter
das unbegrenzte Vertrauen des idealen Lesers zum
Erzähler. Dieses Vertrauen entsteht durch Glaubwürdigkeit,
und die Glaubwürdigkeit nun entsteht
aus der Notwendigkeit des erzählten Gegenstandes.
Du siehst nun, wie fest der Zusammenhang zwischen
den beiden Dingen ist, und noch untrennbarer wird
er für das Auge und für das Gefühl durch das, was
der Laie, der Dilettant, der Durchschnittskritiker die
Technik nennt: durch die Art des Erzählens; auch sie
ist nur ein scheinbar Äußerliches, denn in Wirklichkeit
ist sie die Seele der epischen Kunst.
DER JUNGE:
Das wird zu weit und breit. Du wolltest doch von
meinen Arbeiten reden.
DER ALTE:
Ich sage nun, daß deinen Produkten die Behaglichkeit
fehlt, weil du nicht die Mittel und das Wissen
hast, sie hervorzubringen. Was du schreibst, trägt
unverkennbar den Stempel des direkten und indirekten
Erlebnisses, aber diese Erlebnisse sind nicht künstlerisch
verklärt und erhöht und bleiben daher ohne
poetische Wirkungen. Du hast eine starke und natürliche
Empfindung, die aber nur selten in ihrer Reinheit
wirkt, weil sich der Stoff nicht ganz in ihr aufzulösen
vermag. Merkst du nun, wo es hinaus will,
merkst du, wie alles Innerliche zugleich ein Äußerliches
ist und umgekehrt?
DER JUNGE:
Ich merke nichts als Pedanterie und höre nichts als
Worte. Wenn eine Kunstform nicht ausreicht für das,
was ich zu sagen habe, nun dann erweitere man mir
diese Form. Wo stehen diese gelehrten Gesetze geschrieben,
denen ich mich fügen soll? Wer hat sie
gemacht, und wie käme ich dazu, mich vor ihnen zu
beugen?
DER ALTE:
Wo sie geschrieben stehen? Im menschlichen Gefühl.
Wer sie gemacht hat? Das menschliche Gefühl.
Warum du dich ihnen beugen sollst? Weil du sonst
nicht wirken wirst, weil dein Wort und dein Werk
sonst von flüchtigerem Bestand sind als ein Stück
Eis in der Mittagssonne. Man hat nämlich im Lauf
der Jahrhunderte, der Jahrtausende herausgefunden,
was die Menschheit ergreift, tröstet und erfreut, was
aus ihren Tiefen stammt und zu ihren Tiefen strebt.
Die es befolgten und solche hohe Wirkungen erreichten,
nicht blind, sondern durch klarstes Wissen,
das waren die Meister. Wer der Belehrung trotzt,
kann nicht einmal Schüler werden.
DER JUNGE:
Also belehre mich.
DER ALTE:
Ich sagte vorhin, daß die Elemente sich in dir nicht
mischen wollen; Stoff und Empfindung bleiben feindlich
und unaufgelöst einander gegenüber. Die Folge
davon ist eine immerwährende und überall ersichtliche
Dissonanz. Du erzählst eigentlich nicht Ereignisse,
sondern du schilderst Situationen. Gerade das
erscheint dir wichtig, was bei der Erzählung unwichtig
ist und sein muß. Du hüpfest von Situation zu Situation,
das Dazwischenliegende ist dir ein Notbehelf,
wird zum gezwungenen Bericht und enttäuscht durch
seine Nüchternheit. Da du dies Schwanken als Schaffender
selbst sehr deutlich empfindest, drängt es dich,
Ausgleiche zu bringen, und du mußt zu pathetisch-lyrischen
Schilderungen greifen, in denen die Handlung
um keinen Schritt weiter kommt. Denn daran
liegt es, wohlgemerkt: Bewegung ist alles, alle Kunst
entsteht durch Bewegung. Damit hängt nun aufs
Engste die Gestaltung deiner Menschen zusammen.
Deine Gestalten haben keine Ruhepunkte. Sie sind
geschickt und glaubhaft gezeichnet, soweit und solange
sie mit der Handlung verknüpft sind, aber davon
losgelöst und als Eigenlebende betrachtet, werden
sie matt und hölzern. Sie wissen zu genau, was
sie sollen, nicht in ihrer Welt, sondern in deiner
Welt. Es fehlt die höhere Täuschungsabsicht und
Täuschungsmacht. Eine Figur muß leben trotz der
Handlung, nicht durch die Handlung. Woher käme
es sonst, daß bei allen mittelmäßigen Schriftstellern
gerade die Figuren am glaubhaftesten sind, die am
wenigsten mit der Handlung und ihren Spannungen
verquickt sind, die sogenannten Episodenfiguren?
Nur sie verbreiten Behaglichkeit, das heißt Glaubwürdigkeit,
weil sie scheinbar keinen Zweck verfolgen.
Wenn man also sagen kann, Kunst entstehe
durch Bewegung, so muß man hinzufügen, sie
wirke durch die scheinbare Zwecklosigkeit der Bewegung.
DER JUNGE:
Ich habe Zweifel über Zweifel. Hundert Fragen drängen
sich mir auf, denn ich sehe schon, wie tief du
greifst. Und mir dämmert manches, von dem ich früher
nichts ahnen konnte. Aber laß mich fragen. Du sagtest,
daß ich nicht Ereignisse erzähle, sondern Situationen
schildere, und ich muß gestehen, dabei verwirren
sich mir die Begriffe. Ist es nicht bloß ein Wortspiel?
Welcher Unterschied scheint dir denn zwischen
Erzählung und Schilderung zu bestehen? Ich meine,
inwiefern die Wirkung eines Werkes dadurch beeinträchtigt
wird. Sind das nicht schulmäßige Begrenzungen?
DER ALTE:
Nehmen wir einmal an, du habest eine schwierige
und gefahrvolle Reise hinter dir, habest lebensgefährliche
Abenteuer bestanden, habest jahrelang als verschollen
und verloren gegolten und seiest nun doch
zurückgekehrt. Alles ist gespannt zu hören, wie du
das bewerkstelligt hast und wie es dir ergangen ist.
Du setzest dich in den Kreis der Neugierigen und
Teilnehmenden und erzählst, beginnst mit der Fahrt
übers Meer, der Aufzählung deiner Gefährten und
kurzer Andeutung ihrer Art und ihrer bisherigen
Schicksale, fährst fort mit der Landung, dem Aufbruch
in die unbekannten Gebiete usw., usw. Wäre
es nun angebracht, das Interesse der Zuhörer durch
Beschreibungen von Landschaften, von Tieren, von
Pflanzen zu ermüden? Wenn du dies tätest, würde
in ihnen ein leises Mißtrauen gegen den Ernst und
die Schwere deiner überstandenen Schicksale entstehen.
Sie wollen wissen, wie es dir ergangen ist,
nichts weiter, und je einfacher und sachlicher du bist,
je glaubhafter werden deine Erlebnisse klingen. Nicht
mit einem Wort brauchst du zu schildern. Das Bild
der Landschaft und des Landes wird ganz von selbst
in der Phantasie entstehen; je weniger du davon
sprichst, je stärker wird die Phantasie der Hörer es
erblicken und zwar durch dein Erlebnis selbst. Unwillkürlich
gehen sie deinen Weg mit und sehen sie
mit deinen Augen. Es kommt ganz und gar nicht darauf
an, daß das Bild der Wirklichkeit entspricht, das
sie sich davon machen, es handelt sich nur darum, daß
durch ihre seelische Bewegung ein Bild entsteht. Diese
seelische Bewegung bildet sich nun wieder durch die
Bewegung der künstlerischen Materie, und so siehst
du abermals, wie Äußeres und Inneres verschmolzen
sind und sich verschmelzen müssen.
DER JUNGE:
Das Beispiel leuchtet mir ein. Es leuchtet mir ein, daß
das Abschweifen von einer Sache, die man sich vorgesetzt
hat, in der Kunst ebenso unwahrhaftig wirkt
wie im Leben, und ich verstehe auch, daß man das
Vertrauen des Lesers auf diese Weise verlieren kann.
Aber du sagtest etwas von Verklärung und Erhöhung
und poetischer Wirkung des Stoffes. Das alles scheint
mir nun überflüssig, sobald einmal die Wahrheit, die
Wahrhaftigkeit außer Zweifel steht.
DER ALTE:
Gewiß, wenn es ein und dasselbe wäre, mündlich zu
erzählen oder schriftlich. Dazwischen liegt ein so tiefer
Abgrund, daß ihn nicht Geist, nicht Wissen, nicht
Wahrhaftigkeit zu überbrücken vermögen, sondern
lediglich künstlerische Genialität. Es ist der Abgrund
zwischen Wesen und Schein, zwischen dem Spiegel
und der Person, die davorsteht, zwischen Leben und
Erinnerung, zwischen der Minute und der Ewigkeit.
Deine lebendigen Zuhörer sehen dich, sie sehen dich
ergriffen, begeistert, bedrückt, das lebendig gesprochene
Wort hat eine ganz unabweisbare Zeugniskraft
durch sich selbst. Wenn du dieselbe wahre und erschütternde
Erzählung deiner Reise mit denselben
Worten deines mündlichen Berichtes niederschreibst,
kann sie abgeschmackt, verlogen und sozusagen grundlos
klingen. Es ist also wieder das scheinbar Äußerlichste,
das die Kunstwirkung hervorbringt: der Stil.
Um dieselbe Einfachheit, die der Hörer ohne dein
besonderes Hinzutun spürt, sofern du nur eine einfache
und wahre Natur bist, dem Leser eines Buches
glaubhaft zu machen, dazu gehört ein halbes Leben
unablässiger Versuche, aufreibender Mühe, qualvollsten
Ringens. Im Leben ist das Selbstverständliche,
oder wenden wir ein Fachwort an, das Naive eine
Voraussetzung, in der Kunst ist es eine letzte Konsequenz,
ein Gipfel.
DER JUNGE:
Die Aufgabe besteht also darin, den Anschein des
Selbstverständlichen zu erreichen, innerhalb der Kunst
ein Gebilde zu schaffen, das die Züge der Natur trägt.
Darüber bin ich mir klar. Doch hat jedes Individuum
seine besondere Naivetät, jedes »Selbst« seine eigene
Selbstverständlichkeit. Gäbe es dennoch gewisse Gesetze,
an die unbewußt alle gebunden sind, Schöpfer
wie Genießende?
DER ALTE:
Wollen wir einmal vom Engsten ausgehen, um ins
Weite zu gelangen. Wer sprachliches Gefühl und ein
aufmerksames Ohr besitzt, wird wissen oder unbewußt
schon früh empfunden haben, daß die vorzüglichste
Schönheit unserer Sprache in ihrem Vermögen
liegt, eine organisch gegliederte, gleichsam lebende
Periode zu bilden. Der Gedanke, die Vorstellung entsteht
und kommt zur Erscheinung durch Hauptwort
und Zeitwort; das Beiwort tritt heran, um zu verdeutlichen
oder zu schmücken, eine zweite Vorstellung
oder Handlung will die erste begründen und weiterführen,
und der Nebensatz ist geboren, an dem sich
dieselben Erscheinungen vollziehen wie im Hauptsatz,
nur abgetönt, verkleinert, gemildert. Darin liegt
der Rhythmus der Prosa: das An- und Abschwellen
des Tones und der Betonung, die gegenseitige Beziehung
von Sätzen und Satzteilen untereinander, die
freie und eigenbewegliche Anpassung, die Fülle des
Ausdrucks bei größter Sparsamkeit mit dem Wort.
Die eigentümlichste Kraft der deutschen Sprache ruht
im Zeitwort; dieses auszubilden, zu formen, gewissermaßen
zu isolieren, kennzeichnet den guten Prosaisten,
während der mittelmäßige sich mehr auf das schmückende
Beiwort verlegt, – ganz natürlich. Prüfe doch
den Stil unserer guten Erzähler auf diesen Umstand
hin: wie das flutet und in majestätischer Ruhe hinfließt,
immer bewegt und immer gegen ein erreichenswertes
Ziel bewegt. Das Beiwort wirkt erstarrend und
ist nur mit Vorsicht zu gebrauchen, und nur die anschauende
Phantasie kann es an den rechten Platz
stellen; das Verbum belebt und ist das eigentlich motorische
Element im Satzbau. Es ist stets interessant,
den guten Erzählerstil lediglich auf seinen sprachmelodischen
Gehalt hin zu prüfen, sich zu überzeugen,
wie die Periode der Atmung entspricht, wie sinnvoll
gegliedert Satz und Nebensatz auftreten, und wie der
Gesang abläuft, wenn der Absatz zu Ende ist. Eigentlich
müßte man ein gutes Prosabuch schon an der
typographischen Anordnung erkennen, die sozusagen
seine Fassade vorstellt. Dazu kommt nun beim epischen
Künstler das geistige Erlebnis des Bildes und
die seltsame Empfindung für die plastische Nähe des
Wortes, die ihn vor Verflachung seines Ausdrucks
bewahrt. Denn wie könnte sonst eine Schriftsprache
jahrhundertelang gesund und triebfähig bleiben? Die
Auserlesenheit der Wendungen tut es nicht, Geschmack
und Formensinn allein sind ebenfalls nicht
zeugungskräftig, – nur das Mitleben mit dem Wort
als einem Organismus bewahrt die Sprache der Epik
vor dem Verwelken und Absterben. Das begreiflich
zu machen, ist schwer, wenn du es nicht fühlst.
DER JUNGE:
Ich fühle es. Ich fühlte es oft, wenn ich Gottfried
Keller las. Ein ganz gewöhnliches Wort, das in unserer
Umgangssprache so platt klang und so tot aussah wie
eine abgegriffene Münze, stand plötzlich da wie in
einen Zaubermantel gehüllt, fremd und neu.
DER ALTE:
Und doch sind die meisten unter unsern jungen Dichtern
Wortsucher, aber was schlimmer ist, sie verstehen
auch nicht in großem Atem zu erzählen. Ich leugne
nicht die Berechtigung des Schriftstellers, seine Sätze
auseinander zu haken und sie im stürmischen Tempo
aufmarschieren zu lassen, wenn ihn die Situation und
seine Natur dazu auffordern. Aber so wenig ein Mensch
lange Zeit hindurch im Zustand der Atemlosigkeit verweilen
kann, so wenig verträgt dies ein Buch, ohne
daß es Unbehagen und Widerwillen erregt. Ich habe
Bücher in der Hand gehabt, in denen lauter enge und
engbrüstige Sätzchen nebeneinander standen, stumpf
und traurig wie Soldaten bei der Parade. Einzelne
Satzglieder schwammen wie abgeschnittene Hände
und Füße in einer Brühe überflüssiger Interpunktionen,
und jeder Rhythmus war zerfetzt, weil eine anständige
Mittelmäßigkeit des Schreibens weniger geachtet
wird als ein gequälter Unsinn, oder weil das
Gefühl erweckt werden sollte, der Verfasser sei tief
ergriffen gewesen von dem, was er geschrieben. Von
dem Verfasser wird gar keine Ergriffenheit verlangt;
Gott hat nicht jedem Baum und jedem Berg einen
Zettel umgehängt, auf dem zu lesen steht: wie schön,
wie gewaltig, wie charakteristisch bin ich. Gott ist bescheiden,
er ist unsichtbar in seiner Welt versteckt,
und mit den großen Künstlern ist es ebenso. Vom
Erzähler wird Unsichtbarkeit verlangt, von dem, was
er erzählt, höchste Sichtbarkeit.
DER JUNGE:
Dagegen ist nichts einzuwenden. Es ist aber keineswegs
zu leugnen, daß etwa in einem dickbändigen
Roman die strenge Form der Erzählung schwer, wenn
nicht unmöglich festzuhalten ist. Ein solches Buch
müßte durch seine Eintönigkeit langweilen, glaube
ich, und man kann dem Autor nicht Unrecht geben,
wenn er dies Schicksal durch dramatische Gespräche
und aufregende Schilderungen von seinem Buche abzuwenden
sucht.
DER ALTE:
Das ist ein Thema für sich. Man kann von einem
Kochbuch nicht verlangen, daß es wissenschaftliche
Aufgaben löst. Wenn es einem Dichter zu schwer fällt,
ein Kunstwerk zu schaffen, so begnüge er sich mit dem
Machwerk, aber er soll dann nicht beanspruchen, ein
Künstler genannt zu werden. Müssen denn die dickbändigen
Ungeheuer geschrieben werden, von denen
du sprichst? Und wenn sie geschrieben werden
müssen, bin ich etwa verpflichtet, mich mit ihnen zu
beschäftigen? Wollten wir unsere Erörterungen in
diesen niedern Kreis stellen, was wäre da nicht alles
zu sagen, worüber zu klagen: über die Frauenschreiberei,
das Zeitungswesen, die elenden Übersetzungen
aus andern Sprachen usw. Doch wir wollen das
künstlerischste aller Gesetze auch auf unsere Unterhaltung
anwenden und bei der Sache bleiben.
DER JUNGE:
Du hast recht. Dennoch gibt es Mischprodukte, die
man nicht verwerfen darf und die eine tiefere Wirkung
und ein gewaltigeres Entstehungsmotiv haben als die
reinen Kunstwerke. Das darf man nicht vergessen.
DER ALTE:
Ich halte das für einen Irrtum. Diejenigen Werke der
Kunst, die an Wirkung und Dauer hinter den Erzeugnissen
zurückstehen, die du erwähnst, sind eben dann
nicht wahrhaft lebendig, und ihr Untergang ist nur
eine Frage der Zeit.
DER JUNGE:
Alles, alles ist dem Untergang geweiht. Selbst Homer
und Shakespeare.
DER ALTE:
Eine törichte Phrase. Sie werden untergehen, wenn
der Erdball versinkt und das Licht sich in Finsternis
verwandelt. Sie gehören eben der Menschheit an, und
von einer Unsterblichkeit über die Menschheit hinaus
zu reden, hat keinen Sinn.
DER JUNGE:
Folgendes ist mir nicht ganz klar. Es handelt sich
doch bei der Erzählung um das Darstellen eines Vorganges
und innerhalb des Vorganges wieder um das
Ausmalen einzelner Bilder oder Situationen, denn
ohne solche Bilder würde ich doch mehr Geschichtsschreibung
treiben als Kunst. Wie bringe ich nun die
Situation, ohne gegen das Gesetz des epischen Weiterströmens
zu verstoßen? Mit einem Wort, wie kann ich
erzählerisch und plastisch zugleich sein?
DER ALTE:
Zur Beantwortung dieser Frage will ich dir eine Stelle
aus Wilhelm Meisters Lehrjahren vorlesen. Es heißt
da: »Zwei bis drei Häuser standen in vollen Flammen.
In den Garten hatte sich niemand retten können wegen
des Brandes im Gartengewölbe. Wilhelm war verlegen
wegen seiner Freunde, weniger wegen seiner Sachen.
Er getraute sich nicht, die Kinder zu verlassen, und
sah das Unglück sich immer vergrößern. Er brachte
einige Stunden in einer bänglichen Lage zu. Felix war
auf seinem Schoße eingeschlafen, Mignon lag neben
ihm und hielt seine Hand fest. Endlich hatten die ge-
troffenen
Anstalten dem Feuer Einhalt getan. Die
ausgebrannten Gebäude stürzten zusammen, der Morgen
kam herbei, die Kinder fingen an zu frieren, und
ihm selbst ward in seiner leichten Kleidung der fallende
Tau fast unerträglich. Er führte sie zu den Trümmern
des zusammengestürzten Gebäudes, und sie fanden
neben einem Kohlen- und Aschenhaufen eine sehr
behagliche Wärme. Der anbrechende Tag brachte nun
alle Freunde und Bekannte nach und nach zusammen,
usw.« Du siehst hier deutlich, wie keusch und zurückhaltend
das außerordentliche Ereignis in der allgemeinen
erzählerischen Stimmung sich auflöst. Ruhig
schließt sich an die sparsame Ausmalung der überaus
schönen Situation von den am Aschenhaufen liegenden
Personen der neue Vorgang, und im Satzgefüge
herrscht nicht die mindeste Erregtheit. Vergleiche damit
einmal die Darstellung einer Feuersbrunst bei
Zola; Einzelheit drängt sich an Einzelheit. Die ungeheure
Flut der Einzelheiten vernichtet das Bild und
überschwemmt die Phantasie. Aus fünfzig Seiten eines
Schilderers macht der Epiker zehn Zeilen. Der erzählende
Stil beruht keineswegs auf der Ausmalung der
Situationen, sondern er ruft die Situation nur zu höherem
Zweck hervor, um sie in vollkommener Ruhe
vorübergleiten zu lassen. Geradezu musterhaft ist
darin Kleist, der vielleicht das größte erzählerische
Genie ist, das wir besitzen. Wie im Volksmärchen,
mit einer erhabenen Knappheit erzeugt er Bewegung
um Bewegung. Nur dadurch entsteht zugleich die
Lebendigkeit der Periode, es wird ihr das Papierene
genommen, das sie auch beim vollendetsten Schilderer
hat; sie besitzt plötzlich innere Kraft, das Blut des
atmenden Geschöpfes, und wie das Werk im Ganzen,
ist sie für sich allein ein Organismus mit Fleisch und
Seele. Der Baum setzt sich aus winzigen Zellen zusammen;
die Gesundheit seiner Früchte hängt ab von
der Gesundheit jener unscheinbaren Gewebe. Die
Breite und Fülle der Periode bedingt die Breite und
Fülle des Ganzen; nicht Abenteuerlichkeit der Vorgänge,
nicht Weitspurigkeit der Anlage, nicht die
ausgesuchteste psychologische Tüftelei, keine Neuartigkeit
des Themas, keine äußere Spannung, nicht
Geist, nicht Witz, nicht philosophische Tiefe kann
ein Werk, dem jene Eigenschaften wahrer epischer
Breite und Ruhe mangeln, zum Rang eines Kunstwerkes
erheben.
DER JUNGE:
Jetzt ist es auf einmal wieder die Ruhe. Wir haben
doch festgestellt, daß es die Bewegung ist, die der
Kunst das Leben gibt, wir haben es sehr schön gefunden,
daß die Zwecklosigkeit der Bewegung den
Kunsteindruck hervorbringt, nun soll auf einmal die
Ruhe das Allesbedingende sein. Das ist sinnverwirrend.
Ruhe? Das wäre ja gleichbedeutend mit Kälte,
das hieße ja, das ganze Wesen des Dichters verkennen,
dem Artistentum das Wort reden.
DER ALTE:
Beschwichtige deinen Eifer, du wirst gleich sehen, wie
unbedacht er ist. Die erzählende Kunst stellt Vergangenes
dar. Es handelt sich um ein Gelebt-Haben,
Gesehen-Haben, Geschehen-Sein. Während das
Drama auf der Gegenwärtigkeit der Geschehnisse,
der Leidenschaften beruht, ist das Epos oder die
Novelle ein Zurückgewandtes, Zurückschauendes, –
ganz natürlich, und so ist es durch seine Form zu
einer größeren Ruhe und Gemessenheit verurteilt,
denn seine Wiedergabe setzt doch einen Betrachter
voraus, einen Beobachter, einen Urteilenden, Zusammenfasser.
Während das Drama ein scheinbar
freistehendes, isoliertes Eigen-Produkt ist, weist die
Erzählung beständig und auf jeder Zeile auf den Erzähler
zurück, und von dessen Haltung hängt alles
ab. Es handelt sich also nur um eine scheinbare Kälte
und Ruhe, um ein Zurückhalten des Feuers. Der
Schöpfer eines solchen Werkes ist umsomehr darauf
angewiesen, seine eigene Persönlichkeit zu verbergen,
da er es doch selbst ist, der die ganze Welt, die er
hervorbringt, repräsentiert. Wenn er aufhört, unsichtbar
zu bleiben, leidet unsere Illusion Schaden, und
die scheinbare Ruhe enthält also für ihn alle Wirkungen
seiner Kunst. Uns dennoch aufs innigste mit dem
Werk zu verknüpfen, uns alles mit seinem eigenen
Auge, seiner eigenen launigen oder tragischen Seelenstimmung
erleben zu lassen, das hängt von seiner
Person und seinem Dichterwert ab. Seine Weltanschauung
und geistige Kraft einerseits und die Ruhe
andrerseits, die ihn befähigt, Licht und Schatten zu
verteilen, Bilder zu erzeugen, Zeitperspektiven zu
bilden, können die beiden Pole genannt werden, zwischen
denen sich seine Kunst bewegt. Deswegen verlangt
die epische Kunst eine vollkommene Reife des
Geistes.
DER JUNGE:
Es handelt sich also nicht um unterdrücktes Gefühl,
sondern um gebändigtes Gefühl, um verteilte Wärme.
Dann leidet auch das Werk Schaden, wenn zu viel
Licht auf eine einzelne Gestalt fällt? Offenbar. Wie
verhält es sich also mit den Gestalten? Wie weit dürfen
sie sich aus der Fläche der Erzählung plastisch
heben?
DER ALTE:
Das hängt von Stoff und Ton des Ganzen ab. Laß uns
einmal den Gang verschiedener Werke epischer Prosa
auf diesen Umstand hin vergleichen: Herodots Geschichten,
den Don Quixote, den Wilhelm Meister
und Tolstois Krieg und Frieden.
Herodot besitzt die natürliche, persönliche Naivität,
die dem Zeitalter und einer jungen, aufsteigenden
Kultur entsprechen. Er hat weder Vorbilder, noch bedarf
er ihrer. Er ist nicht bemüht, eine Kunstform zu
prägen. Er vermeidet Schmuckworte. Er hält sich von
allen Abstraktionen fern. Er »erzählt«. Sein Ton ist
der eines Mannes, der reich an Erfahrungen und an
Wissen unter den Seinen sitzt und ebenso einfach wie
wahrhaftig von allem Kunde gibt. Gleichwohl zeigt
sein Werk eine feste Stileinheit und das nicht nur
äußerlich, sondern auch innerlich: Die Handlungen
des Menschen stehen unter dem Walten der Nemesis.
Von dieser Weltanschauung durchdrungen, erhält
seine Schöpfung nicht nur sittliche Größe, sondern
auch künstlerische Macht.
Cervantes fußt natürlich bereits auf Traditionen. Aber
er vernichtet sie, indem er sich ihrer bedient. Die
Sittenschilderung und die Aktion ordnen sich äußerlich
einem Plan und geistig einer Idee unter. Indem
er gegen den pathetischen Heros des Katholizismus
zu Felde zieht, findet er jene hohe Form der Darstellung,
welche wir Humor nennen und welche seinen
Gestalten weitaus bedeutungsvollere Konturen gibt,
als sie in der Realität ihrer Existenz zu haben scheinen.
Auch Cervantes ist ein (im banalen Sinn) naiver Erzähler;
aber an seiner Naivetät hat der Kunstverstand
schon wesentlichen Anteil. Es ist klar: das ist nicht
mehr der Berichterstatter wahrhafter Begebenheiten.
Mit der Schöpfung einer Phantasiewelt hat die unbefangene
Freude am Ereignis und seiner Wiedergabe
ihr Ende erreicht. Dem Erzähler muß sich der Fabulist
beigesellen, und Fragen technischer Natur entstehen
wie von selbst. Hier ist alles schon Kunst:
die Charaktere und ihre Gestaltung, die planvoll ge-
schürzten
Fäden der Handlung, der Dialog und seine
motorische Bedeutung. Aber durch einen wunderbaren
Instinkt hat all dies wieder die Farbe der Natur
erhalten, das täuschende Gewand der Wahrheit.
Goethes Roman ist in erster Linie das Manifest einer
großen Persönlichkeit. Wenn der spanische Dichter
Bilder entrollte, hinter denen er wortlos verschwand,
so bleibt der Deutsche vor dem Geschaffenen stehen
und bringt es durch sein Wesen, durch seine Gebärde,
durch seine begleitenden Worte erst ins rechte Licht
und zur rechten Geltung. Seine Darstellung ist kühl
und überlegen, philosophisch gemessen, und nie vergißt
man über den Figuren den Zauberer, der sie in
Bewegung zu setzen vermag. Cervantes ist groß durch
Don Quixote; Wilhelm Meister ist groß durch
Goethe.
In der Dichtung des russischen Dichters endlich sind
Stoff und Darstellung in eine unauflösliche Verbindung
getreten. Der Schöpfer selbst wird hier zu einem
wesenlosen Etwas, ähnlich der Naturkraft, die einem
Strom sein Bett anweist. Dieser Roman ist von homerischer
Prägung. Die Menschen darin sind so stark
individuell und andererseits so sehr von dem Schicksale
ihres Temperaments getrieben, daß man die Illusion
hat, sie müßten, auch aus Milieu und Handlung
losgelöst, doch zu denjenigen Erlebnissen und Erfahrungen
gelangen, zu denen sie in der Dichtung durch
den Willen des Dichters kommen. Sittenschilderung,
nationale Besonderheit, menschliche Bedeutsamkeit,
künstlerische Ruhe, Einfachheit und Größe, alles verbindet
sich zu klarster Wirkung. Der Dialog hat
keine motorischen Zwecke mehr, auch nicht philosophische
oder tendenziöse, sondern lediglich charakterisierende.
DER JUNGE:
»Stoff und Darstellung sind in eine unauflösliche Verbindung
getreten,« sagst du. Ich möchte lieber sagen:
Stoff und Künstler. Aber was ist der Stoff? Wann
wird der Stoff »daseinsnotwendig«? Wann erhält er
die Unleugbarkeit eines von der Natur selbst Geschaffenen?
Wahrscheinlich muß der eine ihn erleben,
der zweite erfinden, der dritte aus der Geschichte
nehmen. Dieser braucht eine regelrechte Fabel, jener
webt seine Gebilde wie aus einem Traum heraus, der
die Bewegung und Stimmung des Lebens und doch
die Gesammeltheit der Dichtung hat. Das Wichtige
ist demnach nicht die Art des Stoffes selbst, sondern
die Intensität der Vision, die er erzeugt und die nicht
auf einem Bild zu beruhen braucht, sondern oft, dem
Nebelball der Urwelten gleich, Feuer und Vegetation
noch in sich verborgen tragen kann.
DER ALTE:
Ohne Zweifel. Die Kraft der Vision im Dichter bestimmt
die Kraft des Werkes, ihre Dauer und Unvergeßlichkeit
aber seine Harmonie. Alles andere hat mit
inspiratorischen Dingen nichts mehr zu tun, sondern
unterliegt den Gesetzen der Entwicklung. Wo die Vision
aufhört, beginnt die geistige Arbeit, das Reich des
Geschmackes, des Urteiles, der Wahl. Hier ist auch die
Grenze zwischen dem Dichter und dem Schriftsteller.
Der Dichter und seine Stoffe verhalten sich zu einander
wie der Baum zu seinen Blättern, die Stoffe des
Schriftstellers aber gleichen den beliebig ausgewählten,
ärmlichen oder luxuriösen Möbeln eines Zimmers.
Dort wird jeder Mangel die Kehrseite eines Vorzuges
sein, hier wird selbst jeder Vorzug auf einen einzigen
Mangel zurückdeuten. Dort ein lebendiger Organismus,
gleichviel ob kränklich oder stark, hier eine Maschinerie,
stümperhaft oder in ihrer Art vollkommen.
DER JUNGE:
Demnach müßte also eigentlich der Dichter seine
Stoffe erleben, der Schriftsteller sie erfinden.
DER ALTE:
Das läßt sich nicht auseinanderhalten. Da müßten wir
erst feststellen, was es heißt, erleben. Es wäre doch
recht ärmlich gedacht, wenn man nur eine äußere
Aktion darin sehen wollte, dann wäre es schlimm um
jene bestellt, die der Zufall oder soziale Stellung oder
persönliche Eigenart vom großen Getriebe fernhält.
Das hieße dann: nur derjenige, der einen Mord begangen,
kann die Seele eines Mörders enthüllen, und
die Frau als eine Welt für sich wäre dem Dichter ein
für immer verschlossenes Ding. Ich stelle nicht in Abrede,
daß ein gewisses Maß allgemeiner Lebenserfah-
rung
notwendig sei, aber dem, der nicht innerlich das
Leiden der Welt und ihrer Geschöpfe erlebt, dem
wird es wenig frommen, wenn er seine Tage mit Abenteuern
füllt, wenn ihm auch hierdurch die seltsamsten
und tiefsten Seiten der menschlichen Natur offenbar
werden. Das ist ja eben die besondere Natur des
Dichters, daß in ihm gleichsam die Erfahrungen aller
andern sich sammeln und zu einem hohen Bewußtsein
gelangen; es ist, als ob ihm Gott die Andeutungen
und Stichworte gäbe, aus denen er das Gewebe
einer zweiten zur knappsten Folgerichtigkeit
verdichteten Welt formt. Er ist es, der im Mittelpunkt
der Dinge wohnt, er stellt das lebendige Gewissen
der Völker dar, er lebt nicht nur in der Gegenwart,
nein, ihm ist alles Vergangene zugleich Gegenwart.
Und nun der Stoff.
DER JUNGE:
Ich glaube, daß es gleichgültig ist, ob er die Geschichte
eines Schneiders oder eines Welteroberers wählt. Und
das Milieu kann immer nur ein Mittel sein, Charaktere
zu entfalten und Schicksale zu motivieren.
DER ALTE:
Sehr wahr.
DER JUNGE:
Und doch haben wir von einer Daseinsnotwendigkeit
des Stoffes gesprochen.
DER ALTE:
Es ist oft genug gesagt worden, daß der Dichter aus
einem unbesiegbaren inneren Drang heraus schaffe.
Oft im Kampf mit den äußeren Lebensumständen,
oft, ja fast immer im Kampf mit sich selbst. Deswegen
ist es eine abgegriffene Phrase, von dem Glück des
Schaffens zu sprechen. Es gibt nur eine Verzweiflung
des Schaffens und einen ganz kurzen Glücksrausch
des Geschaffenhabens. Und dann erst muß der Dichter
lernen, sein Werk zu hassen, damit er seine Gebrechen
zu erkennen vermag, und je stärker er sein
Werk hassen wird, je tiefer wird er die Kunst lieben.
Es ist klar, daß das, was unter solchen Widerständen
Dasein und Form gewinnt, innere Lebensmöglichkeit
und -notwendigkeit haben muß, wenigstens für den
Schöpfer. Die Frage ist nur, ob und in welchem Maße
das Werk zu den anderen Menschen spricht, wie viele
Lebenskreise es durch seine Existenz berührt, wie viel
andern Wesen es ebenfalls notwendig wird. Das hängt
nun von seinem Stoff ab. Ich möchte behaupten, ein
Stoff ist um so größer und allgemeiner gültig, je mehr
Mythos er in sich trägt, das heißt, je tiefer er in dem Geheimnisvollen,
Unbewußten, Religiösen, Phantasiegemäßen
eines Volkes und damit der Menschheit wurzelt.
Der Dichter ist ja der Mund der Schweigenden. Je
größer ein Dichter ist, je mehr Schweigende sprechen
aus ihm. Nicht er wählt seinen Stoff, sondern der Stoff
wählt ihn. Er trifft ihn, wie der Blitz zuckt er auf ihn
herab. Deshalb wird man ebensowenig von Erfinden
wie von Erleben eines Stoffes reden können, im höch-
sten
Sinne nämlich. Dichter, die ihre Erlebnisse, sagen
wir verwerten, sind immer in Gefahr, diese Erlebnisse
sehr zu überschätzen, wenn nicht ein großes typisches
Schicksal dahinter steht. Die Vision ist alles. Sie vermag
einen tausendmal behandelten Gegenstand so zu
verklären und zu erhöhen, daß er zum unerhörten Ereignis
wird. Je mehr du durch dein enges kleines und
in jedem Fall bescheidenes Schicksal dich ins Weite,
Menschliche, Mythische hinausspürst und -lebst, je
weniger brauchst du tatsächlich zu »erleben«, je freieren
Spielraum gewinnst du für die Kunst.
DER JUNGE:
Frühere Ästhetiker haben das, was du den Mythos
nennst, als Idee bezeichnet.
DER ALTE:
Nenn es, wie du willst. Man spricht immer davon,
daß die Kunst keine Tendenzen habe, keine Nützlichkeitsziele
verfolgen soll. Aber in einem anderen
höheren Sinn muß doch mit jedem Kunstwerk etwas
bewiesen werden, wenn es nicht dem Fluch des Spielerischen
verfallen soll. Gewiß muß es um seiner selbst
willen hervorgebracht werden. Aber es darf, wie das
lebendige Geschöpf, nicht um seiner selbst willen
existieren. Weiter können wir in unserer Erörterung
kaum gelangen. Hier ist schon die Grenze des Traumes
und der Träumerei.
Fünf Jahre später
DER ALTE:
Daß uns der Zufall auf einer Reise zusammenführt!
DER JUNGE:
Man könnte glauben, du habest mich während all dieser
Zeit geflissentlich gemieden.
DER ALTE:
Wie könnte ich mich unterfangen! Du bist ein berühmter
Mann geworden, ich sinke mehr und mehr
ins Dunkel zurück.
DER JUNGE:
Hoffentlich hat mir dieser sogenannte Ruhm nicht
deine gute Meinung geraubt.
DER ALTE:
Das wäre nur der Fall, wenn er dich zur Selbstgenügsamkeit
verführte. Solche Leute stehen als Leichname
inmitten ihrer Werke, und ihre Werke sind krankgeborene
Kinder, zu frühem Tod bestimmt.
DER JUNGE:
Vor allem, es gibt doch zweierlei Arten von Ruhm.
Der eine geht von dem Zeitlichen, Zufälligen, Augenblicklichen,
Problematischen unserer Taten aus; er
kann dem echten wie dem verlogenen Werk gleicherweise
zu Teil werden und hat wenig zu schaffen mit
dem andern Ruhm, der durch unser ganzes Wesen
bedingt ist, sich an den Zusammenhang unsrer Werke
knüpft. Jener ist wie der kurze Erfolg eines Witzboldes
oder guten Plauderers in einem geselligen
Kreis, dieser wie das tiefe, stille, langsame Wirken
eines Priesters oder Menschenfreundes; jener wird
von anderen hervorgebracht und entsteht oft zu unserer
eigenen Überraschung, dieser aber strahlt von unserm
Innern, von unserer Persönlichkeit aus und kann auf
alle Fälle erst nach dem Tod eintreten oder nach dem
Abschluß unseres Lebenswerkes; jener muß um den
Beifall jedes Zeitungsschreibers besorgt sein, dieser
hat keinen andern Richter als das eigene Herz.
DER ALTE:
Es freut mich, daß du so denkst. Aber hast du auch
immer in solchem Sinn gelebt, gedichtet? Du meinst,
ich sei dir in all den Jahren mit Absicht ferngeblieben;
dein Gefühl trügt dich nicht ganz. Aufrichtig muß
ich gestehen, daß mich dein Erfolg beunruhigt hat.
Er war mir zu schnell, zu laut, er ging mir zu wenig
von der Sache aus und konnte sich zu wenig auf die
Kunst berufen. Ich wollte warten, und ich wartete
dein nächstes Buch ab. Ich war enttäuscht. Nicht als
ob du dir darin untreu geworden wärst, aber du warst
unruhig in dir selbst. Die Vision deiner Phantasie
war nicht rein, sondern du sahst darin gleichsam die
neugierigen Gesichter deiner Leser, deiner Freunde.
Du trachtetest sie zu befriedigen und nicht dich selbst.
DER JUNGE:
Wahr, wahr. Doch ich habe gebüßt. Ich habe gebüßt,
indem ich verachten lernte. Ich habe gebüßt, indem
meine Seele immer schmerzlicher nach mir selber
schrie. Kennst du diesen geheimnisvollen Zustand,
der jedes Verweilen friedlos, jedes Nachdenken bitter
macht? Es ist als ob man nach der Heimat reisen wolle
und scheugewordene Pferde stürmten mit einem nach
fernen wüsten Ländern. Was für ein rätselhaftes Ding
ist es doch, das im Innern der Brust wohnt. Es hat eine
Stimme, die den schrillsten Marktlärm übertönt, und
bist du dann in der Einsamkeit, so schweigt es unvermutet,
als wolle es sich rächen dafür, daß du ihm nicht
früher gehorchtest. Immer aufmerksamer, immer stiller
mußt du werden, um die Stimme nicht zu verlieren,
nicht Weib und Kind und Geld und Gut darfst du
festhalten, wenn sie es nicht will.
DER ALTE:
So viel Einsicht bei so viel Irren!
DER JUNGE:
Wie könnte man Einsicht gewinnen ohne geirrt zu
haben? Erinnerst du dich unseres Gesprächs von damals
über Wesen und Gesetze der Erzählungskunst?
Ich habe viel, habe oft darüber nachgedacht. Ich habe
daraus in den entscheidenden Punkten eine nicht mehr
zu trübende Klarheit gewonnen. Und doch, so bald
ich nur eins dieser Gesetze, und wenn es das lapidarste
war, auf meine Arbeit anwenden wollte, so zerfloß es
in eitel Dunst. Es geht wie mit den aufgeschriebenen
Paragraphen-Sammlungen der Justiz gegenüber der
lebendigen Menschenwelt. An sich betrachtet: wahr,
gerecht und klar. Auf das Ereignis, auf die Tat, den
Augenblick angewandt: nichtssagend, absurd, tot. Daraus
schloß ich allmählich, daß es kein andres Gesetz
gibt, als dasjenige, das wir selbst durch die Kraft unseres
Werkes exemplifizieren. Jeder darf, was er kann.
DER ALTE:
Willst du aber leugnen, daß dir unser damaliges Gespräch
förderlich und notwendig war?
DER JUNGE:
Durchaus nicht.
DER ALTE:
Es ist das Problem der Erziehung. Gut und Böse liegt
im Menschen. Beispiel weckt Kräfte. Belehrung zeigt
die Wege, zeigt die Schranken. Der Philister, der
immer nur die Landstraße wählt und der Bohême, der
im Gestrüpp stecken bleibt, keiner von ihnen kann
Führer werden, jener ist überflüssig, dieser schädlich.
So ist es auch mit der Kunst und ihren Gesetzgebern.
Ich habe freilich gesehen, mit Kummer habe ich beobachtet,
daß du alles was du damals so eifervoll, so
leidenschaftlich zu ergreifen schienst, verächtlich beiseite
geworfen hast. Nun, du bist oft genug im Gestrüpp
stecken geblieben, und noch heute sehe ich
weder Weg noch Ziel für dich; so hart es klingt, ich
muß es sagen.
DER JUNGE:
Es klingt mir nicht hart. Ich muß dir so erscheinen.
Du schaust vom Ende eines Wegs auf mich zurück.
Du weißt natürlich wie du gegangen bist, aber wie
ich gehen muß, das glaubst du nur zu wissen. Jedem
ist sein Schmerz notwendig, jedem seine Sehnsucht,
sein Suchen, und wo ich nach deiner Meinung verderbe,
da ist vielleicht mein Heil. Wollte man doch
alles Kritisieren lassen, das sich nicht aufs Engste
beschränkt, aufs Greifbare, Haltbare! Ein menschliches
Dasein ist kein Brettergerüst, kann nicht mit
dem Richtscheit ausgemessen werden, kann nicht
mit Nägeln und Klammern vor dem Geschick in
Schutz genommen werden. Wenn es doch keine
Schulmeister mehr gäbe! In jedem Lehrer steckt so
viel Härte und Verhärtetsein, und was soll man erst
zu jenen sagen, die aus bloßer verwerflicher Lust
an Überlegenheit einem Organismus, den die Natur
geschaffen hat, die Berechtigung zur Existenz absprechen.
DER ALTE:
So redest du für dich. Wehrst du dich aber nicht selbst
gegen die Stümper, gegen die frivolen Eindringlinge
in den Tempelbezirk der Kunst? Und bist du immer
gerecht in der Unterscheidung? Täuscht dich niemals
ein Vorurteil, und das deiner Natur Fremde, suchst
du es auch zu verstehen, oder verwirfst du es nicht
oft, nur weil es eben fremd ist?
DER JUNGE:
Du hast Recht. Aber der Verdruß gegen die Schwätzer
und Windbeutel enthält oft das wünschenswerte Entgegenkommen
den noch unerschlossenen und ringenden
Kräften vor. Bei uns in Deutschland ist es besonders
traurig. Unter hundert Betrachtern und Beurteilern
eines Kunstwerks ist kaum einer, der imstande
ist nur gerade, sagen wir: das Postament zu begreifen,
auf dem es ruht. Eitelkeit und Nüchternheit diktieren
ihnen ihr begeistertes oder verwerfendes Urteil. Überall
guckt der Schulmeister heraus, und wenn sie wohlwollend
sind, dann glauben sie schon weit zu gehen.
Verzeih, daß ich jäh und bitter werde, aber sogar du
ziehst es vor Diktator zu sein, anstatt Freund, Versteher,
Billiger, Mitdeuter. Warum willst du nicht die
Notwendigkeit hinnehmen, die mich erfüllt? Vielleicht
ist das, was ich unter unbesieglichem Zwang
schaffe, gar nicht so verschieden wie du meinst von
dem, was die Formeln wollen. Und wer nie eine der
anscheinend ehernen Regeln verletzt und selbst das
erlauchteste Kritikerhaupt zum Schütteln zu bringen
vermag, der ist kein Schöpfer, der bleibt stets ein Beckmesser.
DER ALTE:
An der hohen Meinung von dir selbst hat es dir nie
so sehr gefehlt als an der von den andern. Aber ich
bin dir keineswegs böse. Im Gegenteil muß ich gestehen,
daß mich dein Feuer seltsam erwärmt und daß
mir dabei der Gedanke aufsteigt, wie gleichgültig,
fern und matt all dies eifervolle Mühen um Dinge ist,
die doch, man könnte fast glauben mit einem spöttischen
Lächeln, ihre eigenen Wege gehen. Der Mensch
ist alles, das Lebendige ist alles, und eine Natur, mit
Sehnsucht, Mut und Schöpferwillen begabt, wird, sei
sie noch so eng, stets den Nörgler beschämen. Aber
es würde mich nun interessieren, wie du dir die Zukunft
deiner Kunst denkst, denn aus deinen Reden
atmen mir Revolutionen entgegen.
DER JUNGE:
Liebster Freund, wie schnell werden wir uns verständigen,
wenn du so spricht.
DER ALTE:
Und wie erstaunt werden wir sein zu bemerken, daß
jeder nicht den andern bekämpft hat, sondern sein
eigenes Mißverstehen, seine eigene Ungeduld, seine
eigene Unsicherheit. Lassen wir also alles Allgemeine
für diesmal beiseite und erzähle mir von dir selbst,
von dir allein. Ich denke, daß ich so am meisten auch
über deine Kunst erfahre.
DER JUNGE:
Meine Kunst! Ich gestehe dir, daß dieses Possesivpronomen
für mich etwas Erstaunliches und Fremdes
besitzt. Wenn ich mich ehrlich prüfe, so habe ich
eigentlich keine Kunst. Was mich zur Arbeit treibt,
ist nicht der Drang etwas zu vollenden, nicht der
Wunsch von etwas außerhalb meiner Sphäre Liegen
dem
Besitz zu ergreifen, nicht oder doch nicht in erster
Linie die Sehnsucht nach farbigem Bild oder plastischer
Gestalt oder Deutung eines Schicksals, sondern
es ist etwas anderes, seltsames. Es ist eine tiefe, immer
wachsende Unruhe in meinem Innern; es ist als ob in
meiner Brust ein Wesen verborgen wäre, das sich selbst
kennen zu lernen, über sich selbst Klarheit und Wahrheit
zu erlangen wünscht und für das die Arbeit meiner
Hand, das Geschaffene, nichts ist als ein Spiegel,
in dem es sich betrachten kann und der es je mehr befriedigt
und beglückt, je ruhiger und ungetrübter er
das Bild seiner vorigen Verzweiflung um sich selbst
wiedergibt.
DER ALTE:
Das haben viele Dichter von heute. Deshalb vermögen
sie ihre innere Welt nicht mehr genügend zu objektivieren.
DER JUNGE:
Schon wieder der Schulmeister. Dein Tadel trifft nur
jene, die noch nicht starke Menschen genug sind, oder
starke Künstler (denn in meinem Sinn bedeutet das
dasselbe), um dem Dämon, dem Zwerg, dem unruhigen
Wesen genug zu tun. Ihr Spiegel ist nicht rein
legiert. Dies ist eben das Neue: immer wichtiger, bedeutungsvoller,
ich möchte sagen, göttlicher wird der
Mensch und seine Seele. Alle Erlebnisse verdichten
sich nach innen, alle Verwicklungen betreffen nur das
Herz, oder sie sind wesenlos und für den Dichter un-
brauchbar.
Warum das alles so ist und wie es gekommen
ist, das zu entwickeln fühle ich mich nicht kühl
und begabt genug, aber daß es so ist beweisen tausend
Zeichen. Den groben Augen und groben Sinnen
scheint das in solcher Luft Gestaltete und Geschaffene
noch schattenhaft, aber mit der Zeit werden sie schon
sehen und fühlen lernen.
DER ALTE:
Das alles klingt mir gar nicht so neu und überrumpelt
mich nicht so sehr wie du anzunehmen scheinst. Ich
glaube sogar, deine etwas wortreiche Tirade ist völlig
zu ersetzen, wenn wir sagen, du habest dich ganz den
Forderungen der Gegenwart ergeben.
DER JUNGE:
Und damit glaubst du etwas gesagt zu haben? Gut.
Ja. Meinetwegen. Wenn es dich befriedigt, ein Wort
dafür zu wissen, – meinetwegen. Glaubst du denn,
daß es Laune ist oder Trotz oder die eitle Lust zu
verblüffen, was unsre Besten in ihren besten Stunden
bewegt? Sie sind nicht Eigenwillige, sie sind Geschöpfe
der Zeit, in ihnen kristallisiert sich die Sehnsucht
und das geistige Bedürfnis der Menschheit.
DER ALTE:
Von dir wollte ich etwas wissen, von deiner Art
etwas erfahren.
DER JUNGE:
Vielleicht bin ich dazu nicht imstande. Was nützte es,
sofern du mein Vermögen in Zweifel ziehst, wenn ich
dir sagen wollte: ich will Gestalten geben, deren Seele
das reinste und empfindlichste Instrument ist für das
unbegreifliche Spiel des Schicksals? Ich will meine
eigene Furcht, mein eigenes Entzücken, meine eigenen
Vorstellungen von Leben, Gott und Tod zum Bilde
machend, Wesen darstellen, die unter dem Druck und
Anhauch solcher Gefühle unvermittelter, vielfacher
tönend reagieren; die das Erstaunen des Kindes noch
in sich tragen vereint mit der Erfahrenheit des weisen
Zuschauers und die unter dem Kleid des Alltags
dennoch wandeln wie wir alle wandeln, unwissend
woher, unwissend wohin. Ich will den einen zum
Schatten machen, denn sein Dasein, seine Leidenschaften,
seine Triebe, seine Taten sind ihm und
andern unbewußt dunkel und nichtig wie Schatten,
jenem aber, der zur Seite steht, nichts will, nichts
gibt, nichts vermag, nichts bedeutet, zur charakteristischen
Gestalt verhelfen. Ich will nicht die Verknüpfung
äußerer Erlebnisse geben, sondern die
Wirrnis der inneren, ich setze keinen Ehrgeiz darein,
Fäden zu knüpfen und zu lösen. Ich möchte keine
Gewitter geben, sondern die Entwicklung des Gewitters,
die schwülen Lüfte des ahnungsvollen Tages,
alles was vorher geht, was Verantwortung trägt. Ich
will keine prahlerischen Ereignisse, sondern ich suche
den kleinen Schmerz, der in tausendfachen Bildungen
die Seele dem Verderben entgegenschleppt, und dies
alles will ich wieder einer großen Harmonie zuführen,
die mannigfach geteilten Motive dem Unendlichen
vermählen.
DER ALTE:
Das geht weit, das hat Schwung, das klingt nicht übel.
DER JUNGE:
Wie es klingt, ist nicht so wichtig wie das wohin es
zielt. Wir alle, Kleine und Große, sind Glieder eines
einzigen Körpers. Jeder hat teil an jedem. Verworfen
wird nur der Leugner. Lernen wir es, andächtig und
ehrfürchtig zu sein.
DER ALTE:
Und wenn wir alt sind, laßt uns nicht vergessen, zur
rechten Zeit zu sterben.
Produziert von Markus Brenner und dem Online Distributed Proofreading Team für das Project Gutenberg.
[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf
Grundlage der Erstausgabe erstellt. Die nachfolgende Tabelle enthält
eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen
Korrekturen. Das Inhaltsverzeichnis befand sich ursprünglich am
Buchende.
p 009: auschließlich -> ausschließlich
p 058: fortgeflanzt -> fortgepflanzt
p 064: desssen drängendes Gefühl -> dessen
p 120: irgenwo und -wann -> irgendwo
p 141: Unmitttelbaren -> Unmittelbaren
p 146: Reinigung. Steigerung und Befreiung. -> Reinigung, Steigerung
p 172: Konturen gibt. als sie -> gibt, als
p 182: exemplifixieren -> exemplifizieren ]
Die angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Erstausgabe von 1926 S. Fischer Verlag, Berlin
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