Hier ruht das kleine Öchselein

Preisgekrönte Novelle

Es ist einmal ein altes Lied erklungen von vieler Trauer und von Wunden, die der Krieg geschlagen hat oder das Leben, oder die Sehnsucht nach den großen Dingen, die da draußen irgendwo sind und nicht erhascht werden können, außer man giebt sein bischen Leben für sie hin. Nun, dann nützen sie einem auch nicht mehr. Wie schon diese alten Lieder sind, sie haben etwas von der durchdringenden Poesie eines stillen Waldes, und sie sind so unvergeßlich, daß oft unsere Träume voll davon sind und daß sie unsern Tag belasten wie der Schmerz um etwas, das wir verloren und doch nie besessen haben.

Sicherlich war es solch ein Lied, das Frau Margarethe einmal während ihrer Schwangerschaft gehört hatte, und es war in ihr haften geblieben. Viele bejahrte Leute sagen es, daß so etwas auf das ganze Leben eines Kindes Einfluß haben kann, und das muß wahr sein, denn die kleine Meta wurde ein Kind, gerade wie die Melodie jenes Liedes. Sie hatte einen schmerzhaften Zug im Gesicht und daneben etwas so Ehrliches und Reines, gleichsam Duftendes, daß man glauben konnte, sie sei ein Kind aus einer längst verstorbenen Zeit, wo die Vögel noch ganz andere Namen hatten und wo alles viel märchenhafter und geheimnisvoller war, als es jetzt ist. Oft sieht man solche Bilder: sie machen einen verträumt, gütig und mild; man sieht darin alles Zarte des Lebens ans einer Blüte, aus einem Halm leuchten. So war Meta. Sie lebte still für sich hin, mit einer Puppe, der sie altmodische Kleider anzog, mit der sie spazieren ging; sie war nicht trotzig und nicht mürrisch, sondern ihre Stirn war immer so glatt und leuchtend wie das Blatt einer Lilie oder das Blatt jener großen, stolzen Blumen mit glühendroten Staubfäden, die im Sommer am Rand der Wälder stehen und sich lässig schaukeln im leichten Abendwind.

Als die Zeit kam, wo sie zur Schule gehen mußte, war sie nur deshalb traurig, weil sie da ihre Puppe nicht mitnehmen durfte, die doch die treue Gefährtin ihrer Kindheit war; niemals konnte sie verstehen, warum das nicht sein dürfe und da fand sie zum ersten Mal, daß etwas unrechtes und grausames in der Welt sei. Aber niemand erfuhr von ihrem innigen Kummer, denn sie war ein so verschlossenes und scheues Kind, daß sie für das, was in ihrer Seele vorging, nicht den Hauch eines Wortes fand; sie trug das alles in sich herum: geduldig, ergeben, sogar mit ein bischen Freude. Dabei war ihr Herz voll von jener unbeschreiblich keuschen Frömmigkeit, die nicht glaubt, um das Verdienst des Glaubens zu haben, oder die Belohnung des Glaubens je zu empfangen; nein, das war so herrlich und rührend, so voll großer Treue und Anhänglichkeit, daß ihr oft beim bloßen Betrachten des abendlich glühenden Himmels die Thränen in die Augen traten, nur weil der liebe Gott dies so unvergleichlich schön gemacht hat. Und wenn sie da im Garten lag, unterm Apfelbaum und sie sah in den glatten, strahlenden Himmel hinauf, so war sie selbst der Himmel, sie selbst war da draußen der friedliche Wald oder die Ebene mit ihrer Ruhe, mit ihrem grünen Glanz.

Anfangs ging Meta gern in die Schule. Das war ein kleiner und ziemlich dumpfer Raum, wo Knaben und Mädchen beisammen waren. Und die zwei großen Landkarten und der Erdglobus und die riesenhafte Tafel des Herrn Lehrers Oechselein und die rissigen, abgebrauchten Bänke und dann noch die Abbildungen von Tieren an den Wänden und das schwarze Pult auf dem erhöhten Tritt, und die Rechenmaschine mit den perlenartigen Kugeln: das alles gab der Schulstube etwas fremdartig Anziehendes, etwas Strenges und Kaltes, und die Kinder fanden sich mit Ehrfurcht einer Welt von Wundern gegenüber, deren verborgener Sinn ihnen bald klar werden konnte. Dazu waren sie ja da. Draußen lag der Garten und die Kirche stand da, und bisweilen läutete es oder die Herden zogen klingelnd vorbei, und die roten und gelben Blätter der Obstbäume nickten herein ins Fenster, und die Äste zitterten sanft. Herr Oechselein ging beständig mit einem dünnen Stöckchen in der Stube auf und ab, sagte pschsch und psstst, stand dann wieder an der Tafel still, zeigte mit dem Stock auf weiß gemalte Buchstaben und riß den Mund weit auf, wobei er A A A machte. Meta begriff nichts davon; sie fand es überaus seltsam, was hier vorging. Auch konnte sie kein Vertrauen fassen zu Herrn Oechselein, der einen breiten Mund mit dünnen Lippen und einen ganz kahlen Kopf hatte. Er sprach nie leise zu den Kindern, sondern er schrie immer, auch wenn er ein Lob sagte; auch klopfte er oft in die Hände, daß es nur so knallte und das sollte dann heißen: beide Hände mit geschlossenen Fingern vor sich hinlegen und mäuschenstill sein. Es war dann so schwer für sie; zu träumen. Sie konnte nicht mehr an den Gänseweiher denken, wo die Haselstauden dicht und freundlich standen und an das schöne Brombeereck im Wald, wo man hinüberschauen konnte, wenn die Eisenbahnzüge kamen und es immer so rollte, und das Horn des Wärters tutete.

Es war am Montag nach dem Feiertag Maria Geburt, und jene feinen Nebel, die dem Herbst schon vorausgehen, zogen über die Straße, als Meta am Morgen zur Schule ging. Sie hatte von der Puppe einen langen und innigen Abschied genommen und sie dann in den Schrank gelegt, wo das Sonntagsgeschirr lag und auch sonst alles, was die Mutter kostbares besaß. Das war freilich nicht viel. Einsam und still lagen die Gassen des Städtchens da und sogar die Spatzen huschten stumm über die niederen Dächer. Auch in der Schule war heute eine so feierliche Stimmung; auch war es schon recht kühl und die Frau Oechselein hatte noch nicht heizen lassen, weil sie eine sparsame Frau war. Der Lehrer kam und sah sehr mürrisch aus; Meta fröstelte, als das Morgengebet gesagt wurde; - es klang so dumpf und unfroh, ja, so gequält, daß Meta die Sünde für alle zusammen in ihrem kleinen Herzen spürte. Dann war Rechenstunde: drei mal zwei und fünf mal zwei und sieben und drei und vier und sechs. Das war so schwer für sie; sie konnte es nun einmal nicht fassen und sie bewunderte die flinken Knaben, die es so schnell heraus hatten. Als der Lehrer sie anrief, sollte sie fünf und fünf sagen. Sie nannte aufs Geradewohl die Zahl vier. Ein Todesschweigen entstand; einer der Knaben hob lebhaft und ehrgeizig, gleichsam protestierend den Finger in die Höhe. Meta rechnete und rechnete und ihre Seele war voll von einem bitteren Kummer. Sie flehte den lieben Gott um Hilfe an, aber Gott war still. Herr Oechselein stellte sich vor sie hin und schaute höhnisch auf ihre Schulter und sie vermeinte, dieser Blick gehe durch und durch; ihre Brust ward förmlich eng davon. Der Lehrer zog die Augenbrauen weit in die Höhe, kniff den Mund ganz fest zusammen und wiederholte seine Frage. Meta begann zu zittern und flüsterte: neun. Herr Oechselein beugte sich scheinbar liebevoll herab und fragte mit süßlicher Stimme: was hast du gemeint? -- Neun, erwiderte das Kind etwas mutiger. Da lachte Herr Oechselein und alle Knaben und alle Mädchen fingen auch an, zu lachen, weil der Lehrer sie dadurch ermutigte. »Meta Roland ist dumm, und sie hat nichts gelernt,« verkündigte jetzt Herr Oechselein triumphierend. Er hieß sie aufstehen, nahm sie bei der Hand und führte sie auf die letzte Bank, die man den Eselstisch nannte, schon von alten Zeiten her.

Als die Rechenstunde vorbei war. kam die Rechtschreibstunde. Der Lehrer rief zunächst ein paar Knaben auf und die stellten ihn zufrieden. Aber Meta fühlte es, daß er beständig auf sie hinschaute, daß er fast ungeduldig war,sie zu rufen und daß er ihr sicherlich die aller-, allerschwerste Frage geben würde. Da hörte sie schon ihren Namen. Sie trippelte vor an die große Tafel und nun sollte sie das Wort Hahn mit der Kreide hinschreiben. Ihr ganzer Körper zitterte wie im Frost. Sie hatte es doch so gut daheim gelernt; länger als eine Stunde war sie über dem kleinen Aufgabebuch gesessen und die Mutter hatte ihr geholfen, und nun wußte sie nichts mehr. Sie buchstabierte im Stillen vor sich hin und die Buchstaben standen auch deutlich vor ihrer Fantasie, aber es war, als sei sie zu schwach und zu furchtsam, sie dorthin zu schreiben. Und dann sah sie auf einmal wieder in die ruhelos blitzenden Augen des Lehrers, die so kalt waren und so grau wie der Septembertag da draußen, und nun wußte sie auf einmal gar nichts mehr. Die Stirn ward ihr so schwer und die Augen schmerzten, als ob sie wund seien und wie durch einen matten Schleier gewahrte sie die Schar der Kinder, die neugierig und lächelnd hersahen und alle ein Gesicht machten, als sei es ganz unmöglich, das nicht zu wissen, was man von ihr verlangte. Da wurden ihre Hände und ihr Kopf plötzlich heiß, sie nahm die Kreide, streckte den Arm weit hinauf, viel mehr als es nötig war, und schrieb mit großen, schattenlosen Lettern: Ham. Herr Oechselein machte wieder sein heuchlerisch mitleidiges Gesicht; dann schlug er die Hände zusammen und blickte unter seiner Brille hervor hilfesuchend gen Himmel. Langsam schritt er hinauf zum Pult, holte sein dünnes Stöckchen, zog Metas Hand in eine waagerechte Lage, ließ dann das Rohr wie zum Spass oder zum Spiel einigemal durch die Luft sausen, dann holte er berechnend und bedächtig aus und es gab einen kurzen, zischenden Schlag, dann noch einen und einen dritten. Meta blieb mit der ausgestreckten Hand stehen, ihr ovales Gesichtchen war totenbleich geworden, und ihre Augen hatte sie geschlossen. Sie fühlte zuerst keinen Schmerz. Es läßt sich nicht mit diesen blassen Worten der Sprache sagen, was in ihr vorgegangen war. Aber eine Welt war gestürzt: eine gar schöne Welt, voll Kindlichkeit und weicher Anmut; eine Welt. wo es immer sang in klaren Tönen, wo noch Wunder und Zeichen geschahen und wo keine Nacht vergeht, ohne daß man für einen armen Mann betet, und wo die Bilder des Glückes so klar und unüberlegt sind, daß das Leben gar nicht so hart zu sein brauchte, um Leiden über Leiden zu bringen.

Als sie nach Hause ging, wie war es doch? Die Häuser kamen ihr verändert vor; auch der Himmel und die Bäume. Alles hatte einen grausamen Glanz erhalten und alles schien düster und groß. All die Kinder hielten sich fern von ihr, wie vornehme Herrschaften, die sich scheuen, mit ihren feinen Kleidern die schmutzigen des Armen zu streifen. Vom Turm schlugs elf und der Gänsehirt trieb seine Gänse daher und in der Schmiede, da hämmerte es und die Postpferde stampften unruhig vor dem goldenen Stern. Aber das alles sah Meta nicht. Das gelbe Gesicht des Lehrers mit dem lippenlosen Mund begleitete sie allenthalben und wo sie sich auch hinwenden mochte, da schwebte es in der Luft und war da, und ging nicht weg. Auch brannten ihre Hände jetzt so sehr, daß sie sie zusammenballte und Fäuste machte; aber das half wirklich nicht. Und als sie nach Hause kam, dachte sie nicht einmal an ihre Puppe. Sie ging umher im ganzen Haus und im Örtchen und wußte eigentlich nichts zu denken, sondern starrt nur vor sich hin, versonnen und verloren. Ihrer Mutter sagte sie nichts, denn das konnte sie nicht; kein Mensch in der Welt hätte sie dazu bringen können. Erst am Abend, als sie sich zu Bett begab und ihre Milchsuppe gegessen hatte, stieg das Bild der Puppe als das einer Trösterin herauf, und sie ging hin und holte das tote Spielzeug aus dem Schrank und. nahm es mit sich ins Bett. Für sie war es nicht tot; Mitleid und Liebe und Hingebung war in diesem porzellanenen Wesen und in einem stummen Zwiegespräch mit ihm lag ein wahrer Himmel voller Güte.

Aber am nächsten Tage ging es um nichts besser. Nur in der Religionsstunde wußte Meta alles, und es war so rührend, wenn sie dastand und ihr Sprüchlein aufsagte und so fest und unerschütterlich von der Wahrheit dessen durchdrungen war, was sie sagte. In der Rechenstunde und in der Schreibstunde aber und in der Ortsbeschreibung ging es genau wie gestern. Wieder und wieder mußte sie die Hand hinhalten, damit Herr Oechselein sie schlagen konnte und das kam so oft, daß das Kind zuletzt vor Angst und stillem Entsetzen nicht mehr den Blick von seiner Eselbank zu erheben wagte. Jeder Tag ging hin wie eine bittere Arznei und mußte ausgetrunken werden. Wenn dann der Abend kam, war die ganze Welt tot, grau und kalt. Nur die Puppe war da und sonst nichts. Von den Kameradinnen wurde Meta verspottet und jede wußte ein Sprüchlein oder ein Scherzwort des Lehrers über die dumme Meta. Ihre Frömmigkeit litt gewiß nicht darunter, aber das Kind wurde auch dem lieben Gott gegenüber zaghaft und schüchtern und getraute sich nicht oft an ihn zu denken.

Der Herbst kam, der alles Grün hinwelken läßt und der die Einsamkeit im Wald doppelt so groß macht. Wie raschelt es, wenn leise Blatt um Blatt zu Boden fällt, wenn das Eichhörnchen über knackende Zweige huscht! Es war schon tief im Nachmittag, als Meta sich aus dem Hause stahl, und hinauf ging in den Burgstall. So wurde der Wald genannt. Seltsam genug, aber sie fürchtete sich nicht, dort allein zu gehen. Sie fürchtete nicht den schwarzen Mann, vom dem doch alle Mädchen so viel redeten, nicht den Mörder, der herumgehen sollte, um die kleinen Kinder zu holen, nicht die hexen und die Kobolde. Schon oft hatte sie vom Erdmännchen gehört und vom Alraun, aber eher fühlte sie ein Zutrauen zu all diesen überirdischen Wesen, als daß sie sich geängstigt hätte. Ein feierlicher Frieden bereitete sich aus und um die Stämme rankten sich Märchenschleier, und bis weit hinein lag eine herbe Sonntagsstimmung da, etwas Trauerndes und Schwermütiges. Hie und da standen die Ruinen der alten Teufelsmauer oder ein Gedenkstein für ein römisches Kastell und eine Bank zum Ruhen war davor errichtet. Aber durch all die Wege ging dies Rascheln, das so wohnlich war und den Lauten glich, die man oft im Traume hört.


 
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Meta wanderte mit ihrer Puppe bis zum ersten Kreuzweg und kehrte dann um. Der Abend kam wie ein großes buntes Tuch heraufgezogen und legte sich auf Feld und Flur; rosig war der Himmel und in der Höhe wurde er allmählich ganz grün, wie Smaragd. Daher schimmerte auch das Wasser einiger Pfützen in tiefem, strahlendem Grün und die hellen Häuserwände sahen fein gemalt aus. Meta war immer trauriger geworden; während sie sonst immer in sich hinein gesonnen hatte, und dabei glücklich war, fand sie jetzt keinen Halt mehr in ihrem Sinnen, und allenthalben lauerte Herr Oechselein mit dem Rohrstock und dem hämischen Gesicht.

Als sie die Straße gegen den Turm hinabschritt, dachte sie: wie schön ist die Welt. Aber mit jenem geheimen Druck in Herzen dachte sie es, der sie gleichsam von weither in das Treiben der Menschen hineinschauen ließ. Das herbstliche Gold hinter den Wäldern begann schon zu erblassen, und die Bewohner des kleinen Städtchens lustwandelten auf der Hauptstraße hinauf und hinab mit sehr langsamen Schritten und sprachen leise, ohne sich über den Grund dieses Scheuthuns recht klar werden zu können. Aber es war schon so: sie mußten leise sprechen. Die brandroten, schweren Farben des Abends hatten es ihnen angethan, uns wenn am reinen Himmel ein blasser Stern aufzuckte, schien er alsbald niederzufallen zwischen die feiertäglich gestimmten Menschen, um ihre andächtige Stimmung zu erhöhen. Die Häuser zu beiden Seiten waren regelmäßig gebaut, und wenn man so gegen den Blasturm hinunterschaute, der ganz romantisch unbeholfen dastand, so hatte man das Gefühl – jeder, der daran dachte, mußte lächeln, - als seien die gleichmäßigen Häuschen, ein jedes mit seinem Gärtchen davor oder daneben, einer Weihnachtsschachtel entnommen und seien zum Entzücken einer spielfrohen Kinderschar reinlich und lieblich hier aufgestellt.

Bald traf Meta ihre Mutter und ging mit ihr spazieren. Vor den Menschen schlug sie den Blick nieder, als hätte sie sich tief schämen müssen. Sie kam sich vor wie gezeichnet und nimmer im Leben glaubte sie die Schande, die sie bedeckte, abwischen zu können. Man muß nicht meinen, daß dies ihre Gedanken waren; zählte sie doch erst sechs arme Jahre. Aber in ihrer Stimmung lag es und in ihrem ganzen Wesen, und weil sie es nicht wußte, und darum war es gar so hart für sie. Die Mutter stellte viele Fragen, aber Meta schüttelte bloß den Kopf oder nickte bloß; Hunger habe sie keinen, ihre Aufgabe habe sie gemacht, wo Brettingers Jakob sei, wisse sie nicht und Schlaf habe sie auch noch nicht. Siehe, da kam just Herr Oechselein des Weges; die Mutter blieb stehen und begrüßte ihn, während Meta über und über erzitternd nach der Rockfalte der Mutter griff. »Warum giebst du mir denn nicht die Hand, he?« wisperte der Lehrer, indem er sich herabbeugte und das Kind beim Ohrläppchen zupfte. Dabei lächelte er sauersüß, sodaß von seinem Mund nur ein ganz dünner Strich sichtbar war und die Augen unter der Brille ganz verschwanden. Da ging es Meta wie ein eiskalter Hauch übers Herz, und auf einmal, so schnell geht nicht der Wind ums Haus, mochte sie ihre Mutter nicht mehr leiden. Es schien ihr, als sei die Mutter im Bündnis mit dem Lehrer, und sie hatte sich immer vorgestellt, daß die Mutter so mächtig sei wie ein König, ja, wie ein wahrer Kaiser und sie könne den Lehrer nehmen und nur so schütteln. Aber damit war es nichts; nun war die Mutter auch freundlich gegen ihn und that schön. Meta konnte es nicht ertragen; sie hörte noch, wie Herr Oechselein von einem neuen Gehülfen erzählte, den er heute erwarte, dann machte sie sich heftig los und rannte davon, indem sie die Puppe leidenschaftlich küßte.

Langsam und wie mit Schmerzen verging der Tag. All die seltsam gleitenden Lichter lösten sich förmlich mühevoll in das Abendgrau auf, wo auch im Sommer das Feuer der Rosen zarter und die Blässe der Lilien leuchtender erscheint. Müde und schleppender wurden die Schritte der Lustwandelnden und manchmal hörte man, wie ein fröhliches kichern abbrach unter dem Eindruck einer schwülen, aber unbestimmten Angst. Schon haftete das Licht der Sterne ruhiger und klarer am Firmament, als Meta vor der Schmiede stand und in die glühende Esse schaute, wo der Ambos klang und klang und die Gesellen mit schwarzen Gesichtern wie Teufel rumorten, und wo auch Brettingers Jakob saß und mit seinem spitzbübischen Gesicht so fest in die Flammen starrte, als sinne er sich ganz neue und wunderbare Lügen aus.

Brettingers Jakob war nämlich ein Lügner, so klein er war, erst acht Jahre alt. Er log, wie man Kirschen ißt; log zum Zeitvertreib, ja, aus Ehrgeiz. Er log so schnell, daß er in einer Minute zehn Lügen erfinden und immer eine mit der anderen künstlich verketten konnte, so daß es nach was Ehrlichem und Rechten aussah. Er log mit ganzer Seele und machte dabei ein Gesicht, treuherziger wie ein Pudel und frommer wie ein Kaplan und wichtiger wie ein Jude. Alles was er zusammenlog, hatte eine unumstößliche Festigkeit, eine arithmetische Genauigkeit, und er war so geübt und geschickt darin, wie der Mann, der das Lügenmärchen erfunden hat oder wie ein Schneider, dem es ans Leben geht oder wie ein Soldat, der vom Krieg erzählt, oder wie ein Ehemann, der seinen Ring verloren hat, kurz, er war ein Muster und Vorbild im Lügen, er war die Vollkommenheit darin, und wenn er den kleinen Mädchen erzählte, er habe heute ein Pferd über die Altmühl fliegen sehen, so blieb er dabei genau so ernst, wie weiland Napoleon, als er die Schlacht von Waterloo verlor. Er mußte es noch weit bringen im Leben; die klugen Spitzbuben und die dummen Ehrlichen bringen es einigermaßen weit im Leben. Kaum hatte er Meta erblickt, als er auf sie zuschoß und flüsterte: »Du, gieb mir eine Puppe und dann sag ich dir was, daß du keine Schläg' mehr kriegst vom Lehrer.« Und er begann sogleich wie ein Agent, dem es um hohe Provision zu thun ist, die Vorteile seines enormen Schwindels klar zu legen. Und er begann sogleich wie ein Agent, dem es um hohe Provision zu thun ist, die Vorteile seines enormen Schwindels klar zu legen. Und er sprach und sprach und wußte immer Neues, Blendenderes ins Feld zu führen, um die Puppe zu bekommen, die er alsobald für eine Wurst oder für einen Groschen an Ratgebers Simon verschachert hätte. Und seine Lügen wurden schließlich so groß, daß selbst der Amboß in der Schmiede erbost zu werden schien, denn sein Klingen ward immer schmetternder und auch das Feuer wurde wild, denn es knisterte und prasselte, als ob der Sturm in den Schlot gefahren wäre. Meta blickte den Lügenjakob entsetzt an und sie schüttelte bloß immer den Kopf. Wohl war es ein heißersehntes Ziel für sie, nicht mehr geschlagen zu werden, nimmer der Spott zu sein, für alle die andern Kinder, nimmer auf der Eselsbank sitzen zu müssen und auch so heiter und so lachend in die Schule gehen zu können, wie die übrigen. Alles in der Welt hätte sie darum gegeben, nur nicht ihre Puppe. Darum wandte sie sich einfach um und ging nach Hause. Und unterwegs begegnete ihr noch eine Kameradin, die ihr unter allen Zeichen der Aufregung erzählte, der neue Lehrer sei schon angekommen. Und noch etwas wußte sie; aber das konnte nur ganz leise ins Ohr gesagt werden: nämlich die Frau Lehrer habe ein kleines Kind bekommen, einen Buben.

Am nächsten Morgen gab es noch viel größere Aufregungen; alle wußten schon von dem kleinen Neugeborenen, aber niemand hatte den Storch selbst gesehen, und das gab Anlaß zu weitgehenden Debatten. Erst als Brettingers Jakob kam, wußte man, daß auch der Storch gesehen worden war; nicht einmal der Storch konnte sich dessen scharfsichtigen Augen entziehen: natürlich habe er ihn gesehen, bei der Nacht über dem großen Schlot von Kellermanns, das sei doch klar, er werde doch noch den Storch sehen. Endlich kam Herr Oechselein mit dem jungen Kandidaten. Das war ein blasser Mann, der stets etwas angestrengt in die Höhe sah, und nur wenn er seine Brille putzte, zu Boden guckte. Meta sah den Jüngling starr an. Eine seltsame Ergriffenheit bemächtigte sich ihrer, es war ihr plötzlich heiß und dann wieder kalt, ihre Augen wurden feucht und ihr Herz klopfte so stürmisch, daß sie die kleine Hand auf die Brust legen mußte. Nicht eine Sekunde wandte sie den Blick ab von diesem Mann, und es war genau so, als wäre sie mitten in der Nacht aufgewacht und vernehme eine wunderherrliche Musik, ein feines, feines süßes Lied, das einen ergreift und man weiß nicht warum, das einen hinunterzieht in eine unbekannte Tiefe, in ein Loch , wo in der Ferne goldene Lichter funkeln und plötzlich ein ganzer Saal auftaucht mit einem Meer von Diamanten. Heute zum erstenmal hätte sie gern weinen mögen, wenn sie daran dachte,daß Herr Oechselein sie schlagen könnte, und eine entsetzliche Furcht überfiel sie vor dem Aufgerufenwerden. Wer kann das alles sagen, was in der Seele eines Kindes vorgeht! Wir sind es gewohnt, mühelos darüber hinwegzugleiten und ahnen nicht, daß dort die Kräfte schlafen, die Großes oder Verderbliches schaffen, und das wir dort all jene Gefühle vorfinden können, die später durch das Bewußtsein an Lieblichkeit und Reinheit und auch an wahrer Kraft so viel verlieren. Die Schule war aus und die Kinder lärmten mehr als sonst und sprangen mit glühenden Backen die Straße hinauf. Sie verhöhnten Brettingers Jakob, der philosophisch gemessen dahinschritt und gleichgültig dem Spottvers zuhörte.

   Jakobele, Jakobele, was machen deine Gäns?
           Sie sitzen in dem Weiherle, und waschen ihre Schwänz'.

Meta hörte davon nichts. Sie fühlte noch die Hand des neuen jungen Lehrers auf ihrer Wange, denn er hatte das Kind in einem Anfall von Wohlwollen gestreichelt. Aber er war wirklich ein gütiger Mensch, sonst hätte er sicherlich nicht vermocht, ein Kind so im Tiefsten zu erregen. Der Tag verging Meta, und sie glaubte, das sei eine Stunde gewesen. Stets erfüllte eine selige Glut ihren Körper, stets lächelte sie heute still vor sich hin, und als der Abend kam, ging sie zur Schmiede, wo Brettingers Jakob saß, und sie bot ihm mit einer herrischen, damenhaften Gebärde ihre Puppe an. Der Lügenjakob war auf einen solchen Fall nicht gefaßt und geriet in Verlegenheit. Dann sagte er: »Du willst keine Prügel mehr kriegen? Also paß auf. Nämlich: du mußt nachts, wenns ganz finster ist, auf den Kirchhof und mußt von deinem Vater sein Grab eine Blume holen … ja und paß auf, die mußt du dann unters Kissen legen vom Herrn Lehrer sein Kind. Hast verstanden?« Meta nickte schaudernd. Sie glaubte es völlig, was er sagte, sie hatte keinen Sinn für die Lüge, sie konnte nicht begreifen, warum man log. Es giebt solche Menschen und sie behalten ein großes Herz bis ins Alter, wenn sie durch eine glückliche Jugend gegangen sind.

Das Kind ging gar nicht heim. Als die Nacht vorschritt und schon keine Seele mehr auf den Gassen zu sehen war, huschte sie aus einer Gartenlaube hervor, wo sie sich versteckt gehabt hatte, und wanderte gegen den Kirchhof hinaus. Sie fror, und das Entsetzen, das sie empfand, kämpfte schwer mit der Fülle von innerer Schönheit und Seligkeit, die sie heute geahnt und ganz zu erringen hoffte. Wie still war es über den Gräbern! Wie schimmerte der verhüllte Mond, wie matt glänzte das Eisenthor und das Fenster der winzigen Kirche! Und brach eine Blume von Vaters Grab und verließ diesen wundersamen Ort voll Frieden. Daheim wartete die Mutter ganz außer sich, aber Meta lag nicht viel an dem, was sie sagte: ihr war genau so, als hätte sie überhaupt keine Mutter mehr. Ihr Schlaf in dieser Nacht war schwer und die wälzte sich mit dumpfen Lauten auf ihrem kleinen Lager.

Der Morgen kam. Noch nie war sie so froh und erwartungsvoll zur Schule gegangen. Und an der Wohnung des Lehrers öffnete sie die Thür mit einem erstaunlichen Aufwand von Pfiffigkeit und Verschlagenheit bat sie, daß man ihr den kleinen Wurm zeige, sie möchte ihn doch allzugern sehen. Die Wärterin lachte, wollte sich fast ausschütten vor Lachen und brachte das Neugeborene geschleppt, das sie nicht ohne Stolz zu Meta herunterhob. Das Mädchen schüttelte weise den Kopf wie eine alte Frau, streichelte dann den Wasserkopf des Säuglings und steckte ihm mit katzenartiger Raschheit die Kirchhofsblume unter das kahle Haupt. Der Wasserkopf begann zu schreien und zeigte nun in dieser Gemütsverfassung eine erschreckende Aehnlichkeit mit seinem Herrn Vater.

Die Schule begann. Mit freudiger Sicherheit setzte sich Meta auf ihren Platz. Und als sie aufgerufen wurde, lag ihr gar nichts daran, wußte sie doch, daß sie gefeit gegen Schläge war. Ihre leuchtenden Augen hingen mit einem Ausdruck von Verzückung an dem jungen Lehrer und als ihr Herr Oechselein die Kreide in die Hand drückte und ihr befahl, an der Tafel auszurechnen, wie viel fünf und eins und vier seien, da stand sie und lächelte den bleichen Seminaristen an. Aus den Bankreihen rief Brettingers Jakob, dem jetzt doch das Gewissen schlug: zehn! Aber Meta verstand es falsch und malte eine taumelige Sieben hin, immer noch lächelnd und voll Zuversicht. Aber in Herrn Oechselein kochte es schon wieder. Das Lächeln des Kindes brachte ihn ganz von Sinnen, und er nahm das Mädchen bei den Ohren und brüllte und zerrte es bis an den Pult hinüber. Er bekam einen feuerroten Kopf und nahm seinen Stock und schlug sinnlos auf den Rücken des Kindes los, das mit schwimmenden Augen den sich abwendenden jungen Mann anstierte.

Von dieser Stunde an war etwas gebrochen in dem Kind. Alle Zukunft und die erwartete Schönheit des Lebens und der duftende Garten der Phantasie und die tröstenden Träume: das alles war mir einem Male fort. Das Ungewöhnliche, das in der Reinheit ihrer Formen lag, der feurige und leidenschaftliche Geist, der sich schon in der Biegung dieses Kindernackens kundgab: alles dahin, verdorben, zerbrochen. Die Meta von gestern war gestorben und die neue Meta war ein Mädchen wie alle andern Mädchen auch, lernte fleißig ihre Schulaufgaben, bekam selten mehr Schläge, folgte in allem ihrer Mutter, war weder zu fromm, noch zu heidnisch, weder zu träumerisch, noch zu aufgeweckt. Und als sie älter wurde, verdrehe sie den jungen Männern die Köpfe, dachte leichtsinnig über das Leben und es war kein Vertrauen in ihr und ging auch keines von ihr aus.

Den letzten Stoß erhielt ihre Seele, als das kleine Söhnlein des Herrn Oechselein starb. Der Lehrer ging auch bald den Weg alles Fleisches. Sein Andenken war nicht mit Segen bedeckt, das zeigt sich dem Fremden schon, wenn er den Kirchhof des Städtchens betritt. Dort steht eine Tafel über dem Grab des kleinen Wasserkopfes und die hat eine Inschrift:

  Hier ruht das kleine Oechselein,
          Des großen Ochsen Söhnelein,
          Der liebe Gott hat nicht gewollt,
          Daß es ein Ochse werden sollt'.

Es rächt sich manchmal das Volk an seinen »Erziehern«.


 
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Die angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe vom 12.12.1896, Simplicissimus, 1. Jahrgang Heft Nr. 37, Seite 2-3