Mahnung

Lieb, was willst du so trotzig bleiben?
Das Leben ist kurz und wir schreiben
Schon das Jahr soundsoviel nach Christ.
Bald ist abgelaufen die Frist,
Dann liegst du einsam in deiner Kammer
Und umsonst ist der stille Jammer
Um die Jugend und um die Freude;
Kurz ist die Liebe, kurz ist das Leben
Und die sich dem Augenblick nicht ergeben,
Das sind gestorbene Leute.
Voll ist mein Herz zum Überfließen:
Neige dein Haupt und du kannst genießen!
Genießest Liebe und heitere Kraft
Und wahrhaftige Leidenschaft.
Sieh, das Leben ist kurz und die Sonne
Lacht nicht jedem in gleicher Gunst.
Später ist all dein Schmerz umsunst,
Hin ist die sterbliche Wonne!
Hüter bin ich und Freund gewesen
Und ich hab' dich ausersehen
Aus vielen und hab' dich verständig gehegt,
Hab' geduldig deine Schwächen gepflegt.

Warum willst Du trotzig sein?
Kurz ist das Leben, kurz das Jahr,
Eh' du's denkst, wird das Ist zum War
Und es vergehet der süße Schein.
Ich will nicht klagen, ich will nicht keifen,
Auch meine Sehnsucht mag ich nicht schelten;
Ich und du: das sind zwei Welten,
Und du bist zu stolz, mich zu begreifen.
Du willst nur empfangen, du willst nicht geben,
Ich gebe ja gern und geb' auch gut,
Denn du bist die Kraft und mein Herzblut
Und stets denk ich:
                               Kurz ist das Leben.

 
 
11.7.1896, Simplicissimus, 1. Jahrgang Heft Nr. 15, Seite 3